Hallo Ralf
nach katholischer Auffassung hat Gott sich nicht immer gleich deutlich geäussert.
Beispiel sei zunächst Ez 20, 24-25 (=Buch des Propheten Ezechiel, 20. Kapitel, Verse 24 und 25):
„weil sie meine Gebote nicht gehalten und meine Gesetze verachtet und meine Sabbate entheiligt hatten und nach den Götzen ihrer Väter sahen, darum gab auch ich ihnen Gebote, die nicht gut waren, und Gesetze, durch die sie kein Leben haben konnten“.
Du siehst, dass nicht alles, was von Gott kommt, sogleich verstanden wird. Da ist zunächst ein Gott, Der mit Seinem Volk einen Bund schliesst für alle Zeiten. Dieser Bund wird von diesem Volk immer wieder gebrochen. Aber Gott steht zu Seinem Wort und lässt das Volk nicht fallen, vielmehr bestraft Er es für die üblen Taten und nimmt es dann wieder bei Sich auf. Dennoch äussert Er sich später anders als früher.
Um es ganz kurz zu sagen, kann man etwa die Sache zusammenfassen mit:
„1. Gott spricht nicht nur ein Machtwort als Höhergestellter, sondern Er geht einen Vertrag ein mit Menschen, also zweiseitig und nicht einseitig.
2. Gott ist zunächst dennoch Der Grosse und Unnahbare. Das ändert sich im Laufe der Geschichte dadurch, dass Er immer mehr von Sich bekannt gibt und das Volk über Seine Gefühle und Neigungen nicht im Unklaren lässt.
3. Schliesslich begibt sich Gott ganz herunter auf die Augenhöhe des Menschen. Er macht sich klein und gering (Geburt in einer Krippe in einem Stall), führt ein Leben als Knecht und landet schliesslich in der Gottverlassenheit auf Golgotha.“
Das ist natürlich nur eine Erklärung im Eilzugstempo. Es handelt sich bei Deiner guten Frage um ein Problem, das in der Theologie bis heute kontrovers ist. Für gewöhnlich bedeutet für Christen das Alte Testament ein Buch, aus welchem man das Handeln Gottes an den Menschen herauslesen kann, und aus welchem der Geist Gottes erkennbar spricht, jedoch nicht ein Buch, aus welchem die gesetzliche oder moralische Forderung Gottes an den Menschen unverrückbar und wörtlich erkennbar würde, sonst hätten wir uns an Dinge wie Speisegebote usw. ebenso zu halten wie die Juden, und wir hätten dem Gebot der Nächstenliebe keinen unbedingten Vorrang vor rein gesellschaftlichen, rechtlichen Geboten wie etwa dem Talionsgesetz („Auge um Auge, Zahn um Zahn“) zu geben.
Der Befehl Gottes an den Menschen lautete nicht immer gleich. Saul bekam den Befehl, an den Amalekitern „den Bann“ zu vollstrecken. Was kann das für ein Gott sein, der Mord befiehlt? Und doch hatte Gott einen Grund. 1 Sam 18,19: „Und der HERR sandte dich auf den Weg und sprach: Zieh hin und vollstrecke den Bann an den Frevlern, den Amalekitern, und kämpfe mit ihnen, bis du sie vertilgt hast! Warum hast du der Stimme des HERRN nicht gehorcht, sondern hast dich an die Beute gemacht und getan, was dem HERRN mißfiel?“ Saul hat also dem Herrn nicht gehorcht, obschon Er ihm einen klaren Befehl erteilt hatte. Dagegen Abraham in 1 Mose 22, 2ff: Er gehorchte Gott auch gegen die Vernunft, als Gott ihn seinen Sohn opfern hiess, und Gott sorgte vor. „Da rief ihn der Engel des HERRN vom Himmel und sprach: Abraham! Abraham! Er antwortete: Hier bin ich. Er sprach: Lege deine Hand nicht an den Knaben und tu ihm nichts; denn nun weiß ich, daß du Gott fürchtest und hast deinen einzigen Sohn nicht geschont um meinetwillen.“
Gott hatte also nicht für alle Menschen den gleichen Befehl gegeben. Dennoch halten wir das Alte Testament nicht für unvernünftig. Vielmehr halten wir es für ein Buch, an welchem man das Handeln Gottes als Heilsgeschehen am Menschen in einer Entwicklung erkennt, welche beim Auserwählen eines gläubigen Volkes beginnt und in welcher der Kumulationspunkt dann erreicht wird, wenn Mensch und Gott auf gleicher Augenhöhe erscheinen bzw. Gott einen Augenblick lang als ohnmächtiger oder demütiger wahrzunehmen ist als der Mensch. In diesem Augenblick vollendet sich die Offenbarungsgeschichte, die bei „Bereschit berah Elohim…“ (im Anfang schuf Gott…) ihre Aufdeckung begonnen hat, währenddem die Heilsgeschichte am Vollendungstag der (bereits begonnenen) zweiten, neuen Schöpfung enden wird. Die Offenbarung Gottes (durch AT, NT und Kirche) spricht nach katholischer Auffassung den Menschen unmittelbar an und beeindruckt sein Herz ohne Notwendigkeit von weiteren Gesetzen und Richtlinien, die so wichtig wären wie die Schrift. Daher sind auch alle moralischen Forderungen, die die Kirche ihrerseits aufstellt, letztlich nichts als Ausdeutungen oder Konkretisierungen der einmal gegebenen, nicht mehr ergänzungsbedürftigen Geschichte, die das Heilsgeschehen offenbart, welches an uns geworden ist, wird und werden soll.
Gruss
Mike