Das Drama Borderline
Hi Doc
auch wenn man auf diesem sehr indirekten Wege nicht mit Sicherheit davon ausgehen kann, daß es sich bei dem beschriebenen problematischen Verhalten tatsächlich um eine sog. Borderline-Persönlichkeitsstörung handelt, lassen deine Andeutungen doch eine Vermutung in dieser Richtung zu.
Deine Hauptfrage ist ja:
Wie gelangt ein Borderliner zur Einsicht über seine Persönlichkeitsstörung?
Du meinst mit der Frage sicher: Wie kommt jemand, der ein solches Verhalten zeigt, zu der Einsicht, daß er therapiebedürftig sei … ?
Dazu läßt sich nur sagen, daß es ein Merkmal aller Persönlichkeitsstörungen ist, daß sich die Betroffenen nicht als therapiebedürftig erleben, selbst wenn sie Kenntnis davon haben, daß sie betroffen sind - wenn es sich z.B. um einen psychologisch Kundigen handelt, wird er es mit Sicherheit selbst wissen - noch bevor es seinen Bezugspersonen bewußt wird 
Das liegt daran, daß eine Persönlichkeitsstörung grundsätzlich nicht eine subjektive Leidensform bedeutet, sondern daß sie sich nur in Konflikten und interaktiven Katastrophen mit der zwischenmenschlichen Umgebung darstellt. An der Charakteristik dieser Konflikte läßt sich dann auch die spezifische Art der Störung bestimmen.
Daher wurde auch diskutiert, daß man besser von Störungen des interpersonalen Verhaltens sprechen sollte.
Wie schon in einigen früheren Posting angedeutet wurde …
http://www.wer-weiss-was.de/cgi-bin/forum/showarchiv…
http://www.wer-weiss-was.de/cgi-bin/forum/showarchiv…
… ist das Borderline-Syndrom eines der komplexesten und kompliziertesten. Denn fast alle anderen Störungen treten dabei in Erscheinung - und deshalb wird es oft falsch diagnostiziert. Insbesondere werden phasenweise auftretende Erscheinungen, die oberflächlich Ähnlichkeit mit Depressionen haben, aber gar keine sind, als solche gedeutet. Auch selbstverletzendes Verhalten, das du erwähnst, hat im Kontext des BS eine ganz andere Funktion, als wenn es sich unabhängig davon zeigt.
Man sollte auch keineswegs hier von einer Krankheit reden. Häufig verwendet man dieses Attribut, weil man sich mit unnachvollziehbaren Reaktionen konfrontiert sieht, aber mit Persönlichkeitstörungen ist in der Regel kein subjektives Krankheitserleben verbunden. Insbesondere der Borderliner fällt auch als solcher gar nicht auf, erst recht nicht im öffentlichen Kontext. Erst bei (individuell verschiedenen) spezifischen Auslösesituationen fliegen plötzlich die Fetzen - und keiner versteht, warum …
Selbst wenn der Borderliner unter dem Druck immer wieder auftretender Konflikte in seiner Umgebung, besonders der Familie, und unter der Einsicht, daß nicht immer nur die anderen Schuld sind, den Eindruck gewinnt, daß er etwas in Richtung Therapie tun sollte, wird er mit der Behauptung, daß ihm eh niemand „helfen“ (für den Borderliner ein absurder Begriff) könne, nicht einmal allzusehr falsch liegen: Ein Therapeut (nach unserer Erfahrung hat die Psychoanalyse bzw. Tiefenpsychologie eine gute Chance) müßte schon ganz spezielle Erfahrungen gerade mit dem BS haben. Aber gerade unter den Betroffenen finden sich sehr häufig Personen, die sich durch eine enorme argumentative Raffinesse und Brillianz auszeichnen und außerdem über ungewöhnliche empathische Fähigkeiten verfügen - dem müßte ein Therapeut erstmal überhaupt gewachsen sein. Oft genug hört man von Therapeuten, die nach kurzer Zeit das Handtuch warfen.
Für Familienangehörige von Betroffenen (als „Betroffene“ wären viel eher die Menschen in seiner Umgebung selbst zu bezeichnen, denn sie sind es, die „leiden“) gibt es eine hervorragende Lektüre, die insofern hilfreich ist, als sie auf charakteristische Situationen und Verhaltensweisen aufmerksam macht - insofern „Bewußtsein“ erzeugt, daß es sich um eine besondere Persönlichkeitskonstitution handelt. Sie können sich darauf einstellen, ändern können sie nichts. Auch Betroffene selbst können daraus lernen, obwohl das meist unnötig ist, denn sie wissen - außerhalb aktueller eskalierter Konflikte - sehr wohl, daß sie für andere manchmal problematisch sind:
Jerold J. Kreisman, Hal Straus:
Ich hasse dich, verlaß’ mich nicht. Die schwarzweiße Welt der Borderline-Persönlichkeit
http://www.amazon.de/exec/obidos/ASIN/3466303265/qid…
ISBN 3466303265 Buch anschauen
Du sagst:
Man wird wohl kaum einen Borderliner davon überzeugen können, daß ihm professionelle Hilfe gut tun könnte …
Ich denke man sollte es tunlichst unterlassen, überhaupt jemanden in psychologischen Kontexten davon überzeugen zu wollen, daß ihm „professionelle“ Hilfe gut tun könne. Ein Laie kann das eh nicht beurteilen und außerdem geht das bei Persönlichkeitsstörungen auch gar nicht: Die Person „hat“ nicht etwas, sondern sie „ist“ etwas. Sie identifiziert sich mit ihrem Schicksal (falls sie es als solches sieht), und da hat ihr gefälligst niemand rein zu reden, zumal er davon auch nichts verstehen kann, da er ja ein anderer Mensch ist. Wer sie von einer Korrekturbedürftigkeit „überzeugen“ will, ist für sie inkompetent - und da hat sie nicht einmal allzusehr Unrecht.
Was ihr nützen kann, ist ein Gesprächspartner, der zunächst die Eigenschaft hat, an ihrem Verhalten nicht selbst zu Bruch zu gehen, und zusätzlich die Empathie, Fähigkeit und Bereitschaft, mit dem anderen in eine Hölle von Selbst- und Weltperspektiven einzusteigen, die dem oberflächlichen Verstand nicht nachvollziehbar sind, die aber von einer wohldurchdachten und beherrschten Dialektik gekennzeichnet sind. Eine Dialektik, die leider in ihren Grundzügen destruktiv ist - für sie selbst und für andere. Ein Labyrinth (ein „tiefenpsychologisches“ könnte man geradezu metaphorisch sagen), bei dem sich gottseidank manchmal zugleich eine feinsinnige und kluge Ariadne findet.
Und so viele Kernberg, Linehen oder Rohde-Dachser usw. gibt es nun mal nicht als mögliche kundige Gesprächspartner …
Also, wie ist da eine Erkenntnis erreichbar, sei es von außen initiiert oder durch diejenigen selbst?
Erkenntnis ist - wie oben gesagt - gar nicht nötig, davon hat der Betroffene selten weniger als seine Umgebung. Für die letztere gilt viel mehr, etwas zu erreichen: Die Fähigkeit, das Drama auszuhalten - und nicht selbst der Hauptauslöser (wenn nicht sogar der Verursacher) der Eskalation zu sein, was in den meisten Familien nämlich vermutlich der Fall ist.
Grüße - und beste Wünsche
Metapher