(CH) guggisberglied - interpretation?

Hallo miteinander!

Ich hoffe mal, ich stelle meine Frage am richtigen Ort…
Für die, dies nicht kennen: das Guggisberglied ist ein traditionelles Schweizer Volkslied und ich bin vor kurzem wieder darauf gestossen.
Hier ist der Text, und nachher folgen meine Fragen:

S isch äbe ne mönsch uf ärde
Simelibärg
Und d’s vreneli abem guggisbärg
U d’s simmes hansjoggeli änet äm bärg
S isch äbe ne mönsch uf ärde
Und I möcht bin ihm si

U maner mir nid wärde
Vor chummer stirbe i
U stirbe I vor chummer
So leit me mi is grab
I mines büelis garte
Dert stöh zwöi jungi böim

Dr eini treit muschgate
Der angri nägeli
Mueschgaate die si süess
U nägeli si räss
I gibs mim lieb z’versueche
Das äs mi nie vergäss

Ha di no nid vergässe
Ha immer a di dänkt
S’isch nume zwöi jahr vergange
Das mi a di ha ghänkt
Dert unde I der tiefi
Dert steiht äs mühlirad

Das mahlet nüt aus liebi
Bi nacht und ou bi tag
Das mühlirad isch broche
Und d liebi het es änd
We zwöi vonenangre scheide
De gäh si enangere d händ

Wenn ich den Text richtig interpretiere, dann handelt das Lied von Hansjoggeli Simmen und von Vreneli - aber wie ist die Ich-Form zu verstehen?
Und was ist ein „Büeli“? (2. Strophe) (ich würde es spontan mit „Liebste/r“ übersetzen)
Das Lied ist ja irgendwie ziemlich tragisch, aber ich kann nicht direkt eine Geschichte darin sehen - kann mir da jemand etwas anderes zeigen?
Was war vor 2 Jahren? (4. Strophe) Sind sie da zusammengekommen?

Naja - das waren meine konkreten Fragen. Ich freue mich aber auch über alle anderen Infos zu diesem Lied bzw. Text.

Vielen Dank schonmal und liebe Grüsse,
Julia.

Grüeß Dich, Julia,

von der falschen Seite des Bodensees, dem am weitesten nördlichen Eck, wo alemannisch gesprochen wird, will ichs einmal probieren - kulturell und unabhängig von modernen Grenzen gibts da ja noch ein paar zugewandte Kantone. Die Eidgenossen unter uns mögen mir ein nüt für uguet gestatten.

S isch äbe ne mönsch uf ärde
Simelibärg

Dass der Sänger sich in der dritten Person einführt, ist bloß Höflichkeit. Es geht bis zum Ende um ihn selber.

Und d’s vreneli abem guggisbärg
U d’s simmes hansjoggeli änet äm bärg
S isch äbe ne mönsch uf ärde
Und I möcht bin ihm si

Für die Bedeutung der genannten Orte braucht es Kenntnisse der früheren Verfassung, die mir im Einzelnen fehlen. Die Eidgenossenschaft war nicht immer so republikanisch organisiert wie heute, und territoriale Bindung von Untertanen hat es da auch gegeben, obwohl die feudalen Auswüchse wie in Deutschland durch rechtzeitigen Austritt vermieden werden konnten. Kann es sein, daß die zwei nicht zusammen kommen, weil sie wegen ihre Wohnorte verschiedenen Herrschaften zugetan sind und sie nicht heiraten dürfen? Kann der soziale Unterschied durch die beiden Orte ausgedrückt sein? (vgl. „es sin emol zwei gspieli gsi“, wo das Schicksal des nicht standesgemäß heiratsfähigen Knechtes durch den Kehrreim „Hopp und zue, loss umundumme go“ eindrücklich illustriert ist.

U maner mir nid wärde
Vor chummer stirbe i
U stirbe I vor chummer
So leit me mi is grab

Unerfüllte Liebe und Tod: Die romantische Auffassung der im Minnesang verklärten Vorstellung, unerfüllte Liebe würde adeln („dâz ihr deste werter sît“). Am weitesten verbreitet dazu „Horch, was kommt von draußen rein“, die letzte nurmehr selten gesungene Strophe „wenn ich einst gestorben bin…“

I mines büelis garte

Den Büeli muß ich den Eidgenossen überlassen, ich würde Dir fürs erste zustimmen

Dert stöh zwöi jungi böim

Dr eini treit muschgate
Der angri nägeli

Liebe und (vermeintlich) aphrodisiakisch, treuebildend etc. wirkende Pflanzen: Auch dieses ein „Standard“ aus Volksliedern. Von den Nachbarn „En passant par la Lorraine“ die unglückliche Duchesse Anne en Sabots, die einen Majoranstrauß bekommt: „S’il fleurit, je serai reine, avec mes sabots, dondaine etc.“. Auch „Mir hat heut nacht geträumet ein’ wundersamen Traum, es wuchs in meinem Garten ein Rosmarienbaum…“

Mueschgaate die si süess
U nägeli si räss
I gibs mim lieb z’versueche
Das äs mi nie vergäss

siehe oben, zu der eigentlich von mueschgate und nägeli erhofften Wirkung weiß man im Brett „Esoterik“ wahrscheinlich mehr

Ha di no nid vergässe
Ha immer a di dänkt
S’isch nume zwöi jahr vergange

Die zweijährige Wartezeit auch in „Wohlan, die Zeit ist kommen“. „Jahr und Tag“ des fremdgeschriebenen Gesellen sind kürzer, aber es gibt aus der vorbürgerlichen Epoche sicher auch noch andere Warterituale, etwa betreffend Verlobung. Eventuell eine Pflicht-Wartezeit für einen Gesellen, der Meister werden will und dann erst heiraten könnte.

Das mi a di ha ghänkt
Dert unde I der tiefi
Dert steiht äs mühlirad

Das Mühlenrad ebenfalls ein häufiges Motiv. Zwei Fährten: (1) Der Müller als nicht zunftfähiger unehrlicher Beruf, in dessen Mühle (wo häufig auch ausgeschenkt werden durfte) die „öffentliche Ordnung“ nicht so ganz genau ist und (2) Fortuna und das Rad. Im Volkslied des ca. 18ten Jahrhunderts ist jede Menge Mittelalterliches verblieben.

Das mahlet nüt aus liebi
Bi nacht und ou bi tag
Das mühlirad isch broche
Und d liebi het es änd
We zwöi vonenangre scheide
De gäh si enangere d händ

Hier wirds erst richtig tragisch: Die beiden sind nicht zusammengekommen, sondern haben ihrer liebi ein end gesetzt und sich endgültig verabschiedet. Wie das geht, weiß der Sänger so wenig wie ich, daher ist ihm das Herz auf Dauer gebrochen und er muß singen.

Wenn ich den Text richtig interpretiere, dann handelt das Lied
von Hansjoggeli Simmen und von Vreneli - aber wie ist die
Ich-Form zu verstehen?

Hansjoggeli ist der unerhörte Liebhaber, aus dessen Sicht auch gesungen wird. Der Sänger fühlt mit ihm.

Und was ist ein „Büeli“? (2. Strophe) (ich würde es spontan
mit „Liebste/r“ übersetzen)

Ich passe und gebe weiter

Das Lied ist ja irgendwie ziemlich tragisch, aber ich kann
nicht direkt eine Geschichte darin sehen - kann mir da jemand
etwas anderes zeigen?

Die eigentliche Geschichte behält der Sänger für sich, wie es sich für Herzensangelegenheiten gehört. Er beschreibt eine Befindlichkeit, und das so schön, daß man eigentlich keinen US-Blues mehr hören braucht…

Naja - das waren meine konkreten Fragen. Ich freue mich aber
auch über alle anderen Infos zu diesem Lied bzw. Text.

Wenn Du irgendwo Aufnahmen von Urs Widmer (früher bei Zytglogge verlegt, glaube ich) auftreiben kannst: Horch einmal hinein. Öppe chai Züricher, sondern (?) Appenzeller oder (?) Toggenburger, aber schöö! - Hat in den siebziger Jahren, auf dem Höhepunkt der „Folk“-Mode, Auftritte eingeleitet mit den Worten „I mach chai Folk, i mach Folchlore“

Ich hoffe, Du bist damit es bizli witer cho.

Schöne Grüße

MM

Asche über mein Haupt!

Der Sänger traditionellen schweizer und deutschen Liedgutes ist natürlich nicht Urs Widmer, sondern Urs Stieger. Auch nicht bei Zytglogge verlegt, sondern bei Gold Records, Oberrieden ZH.

Aber der Rest stimmt ungefähr…

MM

Hallo zusammen,

erstmal Kompliment am Martin, man könnte meinen Du seist Berufseidgenosse :wink:)

Ich hoffe mal, ich stelle meine Frage am richtigen Ort…
Für die, dies nicht kennen: das Guggisberglied ist ein
traditionelles Schweizer Volkslied und ich bin vor kurzem
wieder darauf gestossen.

Es ist genau gesagt ein Berner Volkslied und die allerbeste Aufnahme diese Liedes hat Stephan Eicher (als Berner steht im das ja zu) abgeliefert: zu finden auf der Platte „My Place“ von 1986 oder der neuen „Hotel *S“ Platte als Wiederaufnahme. ----Ende der Webung für DEN Schweizer Künstler par excellence----

S isch äbe ne mönsch uf ärde
Simelibärg
Und d’s vreneli abem guggisbärg
U d’s simmes hansjoggeli änet äm bärg
S isch äbe ne mönsch uf ärde
Und I möcht bin ihm si

Die beiden Protagonisten: Hansjoggeli Simmen und Vreni aus Guggisberg (eine Berner Gemeinde, es gibt sogar ein Vrenelimuseum und einen eigenen Wanderweg rund um Guggisberg herum, der „S’Vreneli ab em Guggisberg“ heisst, der eigentliche Titel dieses Liedes)
Es ist eines der vielen Söldner Lieder aus Guggisberg und der Gegend dort, da viele junge Männer in Genuesischen Söldnerdienst eintraten.

U maner mir nid wärde
Vor chummer stirbe i
U stirbe I vor chummer
So leit me mi is grab
I mines büelis garte
Dert stöh zwöi jungi böim

Dr eini treit muschgate
Der angri nägeli
Mueschgaate die si süess
U nägeli si räss
I gibs mim lieb z’versueche
Das äs mi nie vergäss

Ha di no nid vergässe
Ha immer a di dänkt
S’isch nume zwöi jahr vergange
Das mi a di ha ghänkt
Dert unde I der tiefi
Dert steiht äs mühlirad

Das mahlet nüt aus liebi
Bi nacht und ou bi tag
Das mühlirad isch broche
Und d liebi het es änd
We zwöi vonenangre scheide
De gäh si enangere d händ

Wenn ich den Text richtig interpretiere, dann handelt das Lied
von Hansjoggeli Simmen und von Vreneli - aber wie ist die
Ich-Form zu verstehen?

Es ist Hansjoggeli der spricht

Und was ist ein „Büeli“? (2. Strophe) (ich würde es spontan
mit „Liebste/r“ übersetzen)

„Es Bue(h)li“ ist ein Bühl, also ein Hügel oder Berg, Handsjoggelis Berg: das spricht also gegen die Knecht-Theorie von Martin, sorry.

Das Lied ist ja irgendwie ziemlich tragisch, aber ich kann
nicht direkt eine Geschichte darin sehen - kann mir da jemand
etwas anderes zeigen?

Es ist saumässig tragisch und es gibt viele solcher Lieder, bspw. „Im Aargau sin’ zwei Liebi“, es geht immer ums gleiche.
Zwei Liebende, ein Krieg. Der Mann zieht in den Krieg und kehrt dann zurück (hier nach zwei Jahren) und die Frau hat dann einen Neuen, der nicht in fremden Händel verwickelt war.
Er kommt also nach Hause und erinnert sich an die beiden Bäume Muskat (Muschgaate) für die Süsse der Liebe und Nelken (Nägeli, das die nicht auf Bäumen wachsen, tut ja nichts zur Sache), die bitter sind als Symbol für das Ende der Liebe. Bittersüss also. Und in seiner Verzweiflung wirft er sich in den Mühlebach unters Mühlrad, der dann seine Liebe mahlt… und das Lied symbolisiert den Abschied, sie geben sich die Hände nicht mehr, da die Liebe ein Ende gefunden hat.
Im Bernischen erzählt man sich die Geschichte immer noch, die scheinbar zu diesem Lied geführt haben soll, wahrschrinlich wars eine Legende. Genauso macht auch die Geschichte die Runde, dass den Schweizern im Kriegsdienst bei Todesstrafe verboten war dieses Lied zu singen, da sich die Männer reihenweise umbrachten, sosehr waren sie jeweils von Heimweh geplagt.

Gruss

Yseult

Vielen Dank!
Hallo!

Vielen Dank für die ausführlichen und interessanten Antworten! Jetzt ist mir einiges klarer.

Liebe Grüsse,
Julia.

Korrigenda
Hallo Bettina

„Es Bue(h)li“ ist ein Bühl, also ein Hügel oder Berg,
Handsjoggelis Berg: das spricht also gegen die Knecht-Theorie
von Martin, sorry.

I mines büelis garte
Dert stöh zwöi jungi böim
Im Kontext ist „Büeli“ kein Hügel, es ist das, was ich vermutete, mir aber nicht sicher war:
In meines Buhlen Garten…Buhle = Geliebter, Liebster.
Meine Gewährsperson ist eine 85-jährige Lehrerin aus dem Emmental.

Gruss
Mäni

Grüess Euch,

trotz des büeli ist die Auskunft von Bettina über die wahre Geschichte des besungenen Paares entscheidend und zeigt in bezug auf meine stolpernden Versuche, dass man nie eine immanente Interpretation angehen soll, bevor man alles eruierbare auch eruiert hat. Ohne die notwendigen Hintergrundinformationen wäre ich ja auf einem dem Anschein nach plausiblen, aber grundfalschen Holzweg gelandet - man muss sich bloß einmal vorstellen, ich würde meinen alten Traum vom „Berufseidgenossen“ doch wieder angehen und jemand von den „Schweizermachern“ würde mich grad nach diesem Lied fragen, was für eine Schande für einen, der grad noch vorher „Wir wollen sein ein einig Volk“ etc. etc. nicht bloß fehlerfrei, sondern auch mit tiefer Überzeugung deklamiert hat…

Man würde als Liedform für die Wiedergabe einer in konkreten Einzelheiten überlieferten Begebenheit eigentlich eine Ballade (oder später: Moritat) erwarten. Auch hierzu hat Bettina den Schlüssel geliefert, die Ballade ist untypisch wenig detailreich und „getarnt“ weil wehrkraftzersetzend.

Bleibt noch eine Metapher, die wir offen gelassen haben: Muschgate und Nägeli. Hier hab ich mich in der Zwischenzeit gekümmert und bei einer sehr schön (auch linguistisch und botanisch) ausgearbeiteten Seite http://www-ang.kfunigraz.ac.at/~katzer bei Gernot Katzer zu meiner Überraschung gefunden: Muskat und (Gewürz-)nelken sind seit dem 16. Jahrhundert trotz ihrer exotischen Herkunft sehr populär und gehören zu den damals zu den am meisten genutzten Gewürzen. Die den beiden nachgesagten Wirkungen sind für Muskat aphrodisiakisch, leicht halluzinogen, und für Gewürznelken entzündungshemmend und bakteriostatisch. Die Heimat der beiden Bäume ist in naher Nachbarschaft zueinander auf den Molukken.

Hat der Hansjoggeli eventuell in holländischen Diensten gestanden? Die Molukken waren sehr lange Zeit unangefochtener Teil des holländischen Kolonialimperiums. Schweizer Landsknechte waren ja - nach Ablösung des Rittertums wg. technischer Veraltung - gesuchte Spezialisten nicht nur beim Papst.

Schöne Grüße

MM

Guten Tag

Glaubt man den Ausführungen von Otto von Greyerz (1912) wird das Lied aus Sicht des Mädchens erzählt. Ausserdem wird in Otto von Greyerz’ Herleitungen Inhalts- und Ortsbezug hergestellt.

In E-Periodica: Das alte Guggisberglied

Viel Spass beim Lesen
Flipse