"Der Platz, wo ich stand" u. 3 andere Sprach-Fragen

Ein Autor schreibt. Er erfindet Figuren und ggfs. auch Erzähler. Ein studierter Physiker und Germanist kann einen asozialen Trinker mit dem Wortschatz des US-amerikanischen Präsidenten erfinden und ihn zum Protagonisten eines Buchs über die chilenische Unterschicht werden lassen. Das einzige, was das über den Autor aussagt, ist, daß er über die Phantasie verfügt, den Protagonisten mehr oder weniger glaubwürdig darzustellen bzw. wiederzugeben.

Ein Autor kann alles schreiben - sogar Texte, die ihm als Individuum zutiefst zuwider sind. Ein Autor muß nichts von dem sein oder denken, über das er schreibt. Er muß allein über die Phantasie verfügen, sich das auszudenken, was er schreibt und das kann auch genau das Gegenteil von dem sein, was er ansonsten denkt, fühlt, weiß oder glaubt.

Gruß
C.

So sehe ich das auch. Und ich bewundere es, wenn Autoren überzeugend Figuren erschaffen, die ihnen sehr fremd sind - so wie ich es bewundere, wenn Schauspieler überzeugend sehr unterschiedliche Charaktere spielen können und nicht immer nur sich selbst.

Hallo!
Ich habe nicht nochmal alle Beiträge gelesen und entschuldige mich, falls jemand schon denselben Tipp gegeben hat: Um herauszufinden, ob der Autor gepatzt hat oder seinen Ich-Erzähler als aufgeblasenen Idioten hinstellen will, empfiehlt es sich, mehr von ihm zu lesen. Leseprobe auf Kindl oder die Bücher erwerben. Dadurch kann man feststellen, welchen Stil er pflegt, wie sein Wortschatz beschaffen ist und wie er mit dem Personal in seinen anderen Geschichten umgeht.
Gruß
Eva

2 Like

Hallo Eva, m.E. liefert der Verlgeich mit anderen Büchern des Autors keinen klaren Aufschluss - er kann dort andere Ziele und/oder andere Talente gehabt haben.

Hi,

fast richtig. Aber er oder sie wird immer Spuren von sich selbst hinterlassen: den eigenen Stil.Die gesamte Literaturwissenschaft existiert fast ausschließlich deswegen. Nur ein sehr schlechter Schreiberling ist austauschbar (leih Dir mal von einer Nachbarin zwei Groschenromane, die aus dem Supermarkt… und dann vergleiche Goehte mit Schiller oder Shakespeare mit Marlowe) Ein guter, auch ein sehr guter, Schriftsteller ist kein Chamäleon - bzw. selbst ein tatsächliches Chamäleon bleibt immer ein Chamäleon.

die Franzi

1 Like

Hallo!
Ich übersetze seit mehr als vierzig Jahren Belletristik und kann Dir versichern: Die meisten Autoren sind keine Verwandlungskünstler. Wenn man einiges von einem Schriftsteller gelesen hat, erkennt man seine charakteristische „Handschrift“. Ist wie in der Musik - da weiß man oft auch schon nach den ersten Takten, von wem ein Song/Stück ist.
Wenn Du es ganz genau wissen willst, frag ihn. Der Mann lebt ja noch😉
Gruß,
Eva

3 Like

Hi,

das, was @newcallas vorschlägt, ist die Arbeit des Literaturwissenschaftlers, derer, die sich überlegen, ob jemand einen Preis bekommt oder verrissen wird. Macht er in anderen Werken die gleichen Sachen, obwohl er eigentlich einen anderen Typen darstellen will, kann er kein Deutsch. Kann er nur diesen einen Typen darstellen, ist er ein Schriftsteller mit extrem begrenzten Fähigkeiten. Nachdem er bereits preisgekrönt ist, liegt der Verdacht nahe, dass er seine Figur genau das absichtlich hat sagen lassen, was Dich so stört, und du solltest dich vielleicht über die Figur aufregen und nicht über den Autor.
Ich zum Beispipel finde James Joyce unerträglich, ich habe von Ulysses ca. 2 Seiten geschafft und bin dann ausgestiegen, stream of consciousness ist nicht meins, ich kann und will nicht folgen. Hier ein Ausschnitt vom Ende:
"o thats no way for him has he no manners nor no refinement nor no nothing in his nature slapping us behind like that on my bottom because I didnt call him Hugh the ignoramus that doesnt know poetry from a cabbage thats what you get for not keeping them in their proper place pulling off his shoes and trousers there on the chair before me so barefaced without even asking permission "

und einer vom Anfang:

" Stately, plump Buck Mulligan came from the stairhead, bearing a bowl of lather on which a mirror and a razor lay crossed. A yellow dressinggown, ungirdled, was sustained gently behind him on the mild morning air. He held the bowl aloft and intoned:
Introibo ad altare Dei .
Halted, he peered down the dark winding stairs and called out coarsely:"

Er sagte selber über Ulysses,

„Ich habe so viele Rätsel und Geheimnisse hineingesteckt, dass es die Professoren Jahrhunderte lang in Streit darüber halten wird, was ich wohl gemeint habe, und nur so sichert man sich seine Unsterblichkeit.“
Kann er jetzt Englisch oder nicht? (Sei vorsichtig, es ist eines der größten Werke der Weltliteratur!"

die Franzi

Hallo,

ob man immer Spuren des eigenen Stils hinterläßt oder ob man sich „als Autor die sprachlichen Defizite seiner Figur selbst zuschreiben lassen muss“ sind zwei völlig verschiedene Paar Schuhe. Ersterem will ich nicht widersprechen, auch wenn ich dem nicht uneingeschränkt folgen möchte, aber letzteres? Ein Autor, dessen Idiot ein Vollidiot ist, der keinen gerade Satz herausbekommt, wäre nach der These zwangsläufig selber auch ein bißchen geistig minderbemittelt…? Das ist doch völlig absurd.

Glattauers „Darum“ hatte ich bereits erwähnt und Lauries „Bockmist“ schiebe ich gleich noch hinterher. Daß in den Büchern die ein oder andere Gewohnheit des jeweiligen Autors in Sachen Satzbau o.ä. wiederfindet, will ich nicht abstreiten, aber die Autoren haben in beiden Fällen mehr oder weniger komplexe Persönlichkeiten mit dazu passenden Sprach- bzw. Schreibstilen kreiert. Im zweiten Fall handelt es sich um einen recht rauhbeinigen Söldner mit einer entsprechenden Sprache. Ich kenne Laurie nun nicht persönlich, aber ich verfolge seine Karriere seit ungefähr 35 Jahren - auf Deutsch und auf Englisch. Weder er selber noch die von ihm verkörperten Rollen in Filmen, Serien und Soloprogrammen hatten eine Neigung sich so auszudrücken, wie das im genannten Buch der Fall ist.

Gruß
C.

Darum geht’s doch nicht. Es geht um diese Behauptung:

Falls sich die Autoren nicht als „Verwandlungskünstler“ verstellen können (was ich gleichwohl hoffen würde), so wandeln sich ihre Talente und Vorlieben doch sehr deutlich mit dem Alter, s.z.B. Thomas Mann oder V.S. Naipaul.

Wolf Haas kann auch innert weniger Jahre sehr unterschiedliche Stile kreiieren (Brenner-Romane, Nicht-Brenner-Romane wie Junger Mann, Wetter vor 15 Jahren).

Dies nur ein paar Beispiele, die mir auf Anhieb einfielen, sicher gibt’s viel mehr.

Ich will den Autor gar nicht nach seiner „Intention“ fragen. Ich will gucken, was allein im Buch selbst drinsteckt, ohne Zusatz von außen. Vielleicht antwortet der Autor auf eine Frage auch nicht erschöpfend - was ich ihm nicht verübeln würde. The answer is only in the book.

Hallo, da widerspreche ich Dir nicht. Deine Erfahrung in Ehren. Du sagst aber eben auch, die meisten. Nun gehört es aber zum Talent des Erzählers, sich in andere hineinzuversetzen, was per Introjektion zu einer nahezu perfekten Identifikation führen kann. Würden die meisten Autoren dies nicht können oder es meiden? Ja vielleicht.

Hi,

Das ist nicht der Weg zu guten Geschichte. Einen Autor erkennt man an seinem Wortschatz wieder, an der Syntax, die er am liebsten wählt, an Themen und der Bandbreite an Themen, die er auswählt.
Man vermutet, dass shakespeare nicht aus stratford stammt, weil er kompetent über höfische Themen spricht und den entsprechenden wortschatz beherrscht, wofür er zum Londoner Hof gehören müsste. Man weist innerhalb seiner Werke mehrere Stile verschiedenen Autoren nach, was logisch ist: Theaterstücke wurden während dem einstudieren verbessert und umgeschrieben, von allen beteiligten. Bei seinen Sonetten streitet sich die Wissenschaft, ob das lyrische ich der Sonette Shakespeare selbst ist oder nicht - das ist von daher von Interesse, dass sich ein Teil der Sonette an eine dark Lady richtet, der andere Teil an a fair youth, einen jungen Mann.
Jeder kann immer nur über das schreiben, was er kennt und weiss. So erkennt man den Autor.

Die Franzi

1 Like

Ja, kann ich, will ich nicht bestreiten.
Ich fragte bzw. behaupte, ob es bzw. dass es einigen Autoren mittels Introjektion gelingt, einen Protagonisten sehr identisch darzustellen.
Schauspieler tun dies auch. Man kann ja dem Schauspieler die Rolle nicht unterstellen. Der leidet häufig darunter und wird gar übel angefeindet, weil er eine böse Rolle sehr gut rüberbrachte. Das gelingt ihm desto besser je mehr er in der Lage ist, sich die Person, die er darstellen soll, zu introjizieren.
Ein Krimiautor, nur z.B., tut dies auch, bzw. dürfte glaubhafter schreiben können, wenn ihm diese Introjektion gut gelingt. Und jetzt bin ich bei der Fragestellung. Also ich meine, dass der Autor nicht mit der Ich-Person identifiziert werden darf, denn es kann sein, dass er den Protagonisten sehr gut darstellte.
Und es wurde ja schon gesagt, dass diese Frage hier schlecht zu beantworten geht, ob der Autor einen Stil immitierte oder ob es sein Stil ist.
Ich neige dazu, ihn solange zu verteidigen bis es offenkundig ist, dass der schlechte Stil eben seiner ist.

Ob das nun der schlechte Stil des Autors ist oder der seines Ich-Erzählers ändert doch nichts am schlechten Stil der Erzählung. Entscheiden ließe sich diese Frage im Übrigen nur durch Vergleich mit anderen Arbeiten des Autors. Das macht es auch nicht besser - so etwas zu fordern, würde die Autonomie des Werks negieren.

Gruß,
Ralf

1 Like

Ja, das sag ich ja, wir können die Frage kaum klären.

Und das stimmt nicht, sondern lässt sich eben nur vermuten. Wir müssen doch unterscheiden zwischen den Dialogen und der Erzählung. Ich vermute den schlechten Gesamtstil auch, wenn Dich das beruhigt. Wir sind schon durchaus einer Meinung, nur fürchte ich frühzeitige Verurteilung. Du weißt doch sicher auch um die dürftige Wahrheitsqote von uns Experten und Möchtegerneexperten inklusive allen wirklichen Experten. Du scheinst mir schon ein Experte zu sein. Ich bin kein Experte sondern nur ein Schreiberling. Ich weiß, dass ich wenig weiß, in Anlehnung an …, dass ich nichts weiß …

1 Like