Hi Semjon,
Kant macht nicht Halt am Kartesischen (methodischen)
Skeptizismus, und auch nicht am Humeschen Skeptizismus,
sondern geht zum Apriori zurück, anders gesagt: er ist der
erste, der konsequent nach den Bedingungen der
Möglichkeit von Erkenntnis fragt;
OK,
das ist mein Punkt!
aber (IMHO) ist er nicht in der Lage, diese seine
rhetorische Frage auch nur irgendwie verständlich zu
beantworten.
es ist keine rhetorische Frage, sondern es ist schlicht eine andere Art des Fragens (statt zu fragen: „Was ist dieses Ding?“ nun „Was ist die Bedingung dafür, dass dieses Ding möglich ist?“).
IIRC bemühte sich seinerzeit bereits Nietzsche, aus
Kant eine Antwort darauf zu extrahieren.
==> „Vermöge eines Vermögens“ JGB 1HS/11
…
Wie sind synthetische Urtheile a priori möglich?
fragte sich Kant, — und was antwortete er eigentlich?
Vermöge eines Vermögens: leider aber nicht mit drei
Worten, sondern so umständlich, ehrwürdig und mit einem
solchen Aufwande von deutschem Tief- und Schnörkelsinne,
dass man die lustige niaiserie allemande überhörte,
welche in einer solchen Antwort steckt.
Man war sogar ausser sich über dieses neue Vermögen,
und der Jubel kam auf seine Höhe, als Kant auch noch ein
moralisches Vermögen im Menschen hinzu entdeckte: — denn
damals waren die Deutschen noch moralisch, und ganz und
gar noch nicht „real-politisch“.
…
Anstatt diese Stelle zu kommentieren (m.E. ist sie sehr viel mehr gegen die Deutschidealisten gerichtet, die in den Tübinger Stiftsbüschen Vermögen suchen, als gegen Kants „eigentliche Antwort“), möchte ich daraufhin weisen, dass Nietzsche doch selbst (z.B. in der Genealogie) nach folgendem Muster fragt: Was ist die Bedingung von dieser und jener Moralvorstellung? die Herrenmoral! die Sklavenmoral! Was ist die Bedingung des Subjekts? die Falschmünzerei der Ohnmacht! Was ist die Bedingung des Rechts? das Bestehen einer Relation von Gläubigern und Schuldnern!, etcpp.
…
und diese Art zu fragen ist heute unhintergehbar; jede Kritik
an Kant (außer der dogmatischen) ist gezwungen, in diesem
Modus der „Bedingungen der Möglichkeit“ vorzugehen.
Letztendlich sehe ich auch hier nichts als die Reaktion
auf Hume. Denn: war *das* nicht die drohende Frage, die
immer um Hume herumwaberte?
Letztendlich habe ich immer noch nicht verstanden,
inwieweit Kant über Hume hinauskommt (der Punkt,
an dem er nicht „überschätzt“ wird ==> Thread
…
Könnte Nietzsche diese Fragen als „Neo-Humianer“ stellen, käme er mit Hume etwa jemals auf die „Herrenmoral“, den „Willen zur Macht“, etc. (die als solche unmöglich jemals „in den Sinnen“ sein könnten …)?
Als „Neo-Kantianer“ m.E. sehr wohl, und zwar dann, wenn er Kants Ansinnen zurückweist, nach der Bedingung der Möglichkeit aller Erkenntnis, aller Dinge zu fragen, aber eben wohl nach der Bedingung der Möglichkeit dieser Erkenntnis, dieses Dings fragt.
Kant fragt: Was kann ich wissen? Was kann ich tun? etc.
Nietzsche fragt: Wie kann ich Ja sagen zum Leben unter diesen (heutigen) Bedingungen?, etc.
Kann man mit Hume nach den Bedingungen der Sinneseindrücke fragen, oder ist gerade das das große Ausgeschlossene bei ihm?
Die wirkmächtige Differenz Kants zu Hume ist m.E. also diese Ebene der Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit von etwas; und diese Ebene motiviert die ganze Arbeit bei Hegel, Marx, Nietzsche, Apel, Rawls, Habermas, Foucault, etc., wenn auch deren sehr verschiedene „Antworten“ sicherlich andere sind als die Kantische Antwort „Vermöge eines Vermögens“, aber die Ebene des Fragens ist die gleiche, nämlich eine kritische, und eben keine radikal-skeptizistische wie bei Hume, die sich z.B. auch in der Frage des „Selbst“ zeigt, das es für ihn einfach nicht geben kann: „It cannot, therefore, be from any of these impressions, or from any other, that the idea of self is deriv’d; and consequently there is no such idea. (Treatise 1, 4, 6), während alle die eben Genannten sehr unterschiedlich die Bedingungen eines Selbsts/Ichs/Subjekts denken, ohne deshalb „hinter“ Hume zu einem einfachen „Selbst an sich“ zurückzukehren.
Viele Grüße
Franz