Determinismus ausführlich
Hallo Walden
Eine Gegenfrage:
Hältst du denn die Annahme, dass gemäss diesem starren
Determinismus auch moralische Verantwortlichkeit
und rationale Argumentation ausgeschaltet werden
für richtig?
Ja. Ich glaube, dass unser traditioneller Schuldbegriff irreführend ist und von einem falschen Menschenbild ausgeht. Warum der Determinismus rationales Argumentieren unmöglichen machen soll, sehe ich jetzt nicht.
Hier habe ich erst vor kurzem mit Friedhelm über die materialistischen Grundlagen unseres Handelns diskutiert:
http://www.wer-weiss-was.de/cgi-bin/forum/showarchiv…
Zu deinem ersten Einwand:
Du nimmst offenbar an, dass die Aussage „es gibt etwas Geistiges“ oder „es gibt Bewusstsein“ mit dem Materialismus unvereinbar sei.
Das ist aber nach meinem Verständnis nicht der Fall. Die Immaterialität des Geistes ist nicht etwa, dass er etwas Ätherisches wäre, sondern Geist ist Information, oder spezieller: Sinn. Der Mensch erkennt in
bestimmten Sinneswahrnehmungen Muster, d.h. Strukturen, die er einordnen kann.
Materialistisch gesehen ist Goethes Faust nur Papier und Druckertinte. Für Hunde oder andere Lebewesen ist er auch nur das. Für Menschen ist er außerdem noch mit Sinn behaftet. Die, die kein Deutsch können,
wissen, dass der Text für andere Mensche sinnvoll ist, wenn auch nicht für sie selbst. Die, die Deutsch lesen können, erkennen mehr oder weniger Sinn in dem Text, je nachdem, wie gebildet sie auf diesem Gebiet sind, d.h. je nachdem wie viele spezielle Schaltkreise in ihrem Gehirn angelegt wurden.
Sinn ist mit den Sinnen nicht wahrnehmbar, aber er existiert wie jede andere Information auch.
Bewusstsein schließlich ist eine spezielle Form von Sinn, und zwar Mustererkennung in bestimmten neuralen Vorgängen, nämlich vornehmlich jenen, die mit Erinnerungen und Gefühlen zu tun haben.
Kann dieser Sinn, die Information, auf die neuronalen Vorgänge, d.h. auf die Materie zurückwirken?
Das kann man bejahen oder verneinen. Der Epiphänomenalismus verneint dies. Ich weise hier ausdrücklich darauf hin, dass eine Ablehnung des Epiphänomenalismus keineswegs einer Ablehnung des Determinismus gleichkommt. Der Epiphänomenalismus ist keine Voraussetzung für den
Determinismus.
Das ist mein Argument gegen den Epiphänomenalismus:
Wenn ich etwas lese oder ein Bild ansehe oder Musik höre, dann erkenne ich Sinn und erst dieser löst Gefühle und Gedanken aus. Der rein physikalische Reiz kann dies noch nicht. Insofern ist es wohl doch so,
dass Sinn, also Bewusstsein und Wille, Ursachen für Handlungen sein können, nämlich Handlungen, die den Gefühlen und Gedanken folgen, die das Bild oder die Musik verursacht haben.
Fraglich bleibt aber immer noch, ob ich anders handeln würde, wären das Bewusstsein und der Wille nicht vorhanden, sonst aber alle physischen Gegebenheiten gleich.
Ich denke, dass ich den Epiphänomenalismus fallenlassen kann, ohne an meiner deterministischen Theorie irgendetwas zu ändern. Das soeben genannte Argument (Wenn ich etwas lese …, dann erkenne ich Sinn
und erst dieser löst Gefühle und Gedanken aus. Der rein physikalische Reiz kann dies noch nicht) finde ich einigermaßen überzeugend.
Ich kopiere mal meine Formulierung der deterministischen Theorie hier rein. Ich bin jedem dankbar, der sie kommentiert:
DER FREIE WILLE IST EINE ILLUSION.
All unsere Gedanken und Gefühle haben eine physische Grundlage. Der Geist kann ohne die Materie nicht sein, wohl aber die Materie ohne den Geist.
Geeignete elektrische, magnetische, chemische (Psychopharmaka, Drogen) oder mechanische (Stöße, Verletzungen) Veränderungen des Körpers (besonders des Gehirns) oder der Umwelt führen zu einer Veränderung unserer Gedanken, Gefühle, unseres Willen, ja u.U. sogar zu einer Veränderung unserer Persönlichkeit.
Dass unsere Psyche von physischen Gegebenheiten abhängt, ist unbestritten. Fraglich ist, ob sie von der Physis eindeutig determiniert ist, oder ob es psychische Prozesse gibt, die unabhängig von physischen Vorgängen sind. Sollte es eine solche reingeistige Komponente geben, dann stellt sich das bisher ungelöste Problem, wie diese entstehen und wie sie auf den Körper wirken kann (Leib-Seele-Problem). Aber selbst wenn es sie gäbe, so müsste auch für sie gelten, dass sie sich entweder kausal oder zufällig verhält. Beides wäre aber nicht das, was wir unter Freiheit verstehen.
Wenn wir sagen, wir entscheiden uns frei, dann meinen wir damit, dass die Entscheidung weder die notwendige Folge einer oder mehrerer Ursachen, noch dass sie zufällig entstanden ist. Da es aber außer
Kausalität und Zufälligkeit (=Nicht-Kausalität) nichts geben kann, gibt es keine Freiheit.
Daraus ergibt sich folgendes konsistentes Bild:
Alles in der Welt ist entweder zufällig oder bestimmt (die Wirkung von Ursachen). Das gilt auch für die Psyche (Menge aller Gedanken, Gefühle, Erinnerungen, Prägungen und Verhaltensimpulsen). Sofern die
Psyche bestimmt ist, sind die Ursachen das genetische Erbe, Erlebnisse, aktuelle Sinnesreize und der chemisch-physikalische Zustand des Körpers (das Gehirn ist Teil des Körpers). Jede dieser Ursachen kann selbst wieder zufällig oder das Ergebnis von Ursachen sein.
Dass die Handlungen eines Menschen von Bewusstsein begleitet sind, bedeutet nicht, dass sie frei sind, d.h. dass der Mensch durchaus auch hätte anders handeln können. Das Gefühl frei zu wählen ist eine Illusion, denn diese Wahl wäre dann weder bestimmt noch zufällig. Die Gründe, die man selbst für die Ursachen eigener Taten hält, sind oft nicht die wahren Gründe und sind selbst wieder bestimmt oder zufällig.
Die Psyche ist, anders ausgedrückt, das Ergebnis von genetischer Veranlagung und von Wechselwirkungen mit der Umwelt in Gegenwart und Vergangenheit. Die Wechselwirkungen sind materielle (d.h. von
physikalischen Objekten übertragene) Wechselwirkungen des Körpers mit anderen Psychen, die ebenfalls über die zu ihnen gehörenden Körper nach außen wirken, und anderen Reizen (Wetter, andere Körper,
Düfte etc.).
Es ist eine weitere Rückführung möglich: Alles, was in uns relativ stabil ist, ist eine Folge der Vergangenheit. Jeder hat eine kollektive Vergangenheit, nämlich die Evolution des Menschen, eine familiäre, die sich in seinen Genen niederschlägt und eine persönliche, die seine eigenen Erfahrungen beinhaltet. Die kollektive Vergangenheit wirkt auf die familiäre und auf die persönliche und die familiäre auf die persönliche.
So wie unter dem Einfluss geologischer und atmosphärischer Kräfte unendlich viele verschiedene Landschaften möglich sind, bilden sich unter dem Einfluss genetischer und sozialer (Wechselwirkungen
mit anderen Psychen) unendlich viele verschiedene Menschen heraus.
Selbststeuerung ist möglich, hängt aber ebenso wie alles von Ursachen oder Zufall ab.
Kreativität äußert sich in der Entstehung neuer Muster im komplexen System Psyche, so wie auch in anderen komplexen bzw. chaotischen Systemen neue Muster entstehen, z.B. Wetter.
Die Motivation, Dinge zu tun oder zu lassen, kann zufällig entstehen oder von außen (d.h. durch Sinnesreize, also Worte, Bilder, dieser Text, etc.) erzeugt werden.
Motivation kann nur spontan entstehen oder als Folge eines geeigneten Sinnesreizes. Insbesondere lässt sie sich nicht willentlich herbeiführen (Schopenhauer: „Man kann zwar tun was man will, aber nicht wollen, was man will.“)
Aus dieser Annahme folgt, dass es Schuld im traditionellen Sinn nicht gibt, sondern nur insofern, als dass ein Vorfall auf das Wirken eines Menschen zurückgeführt werden kann, dem dann je nach Bewusstsein der
Konsequenzen seiner Tat und je nach Fähigkeit zur Selbststeuerung mehr oder weniger Schuld gebührt.
Wer wir sind,
wählen wir nicht.
Schuld gibt es nicht.
Die Taten der Menschen
und das Fallen des Steins
haben dieselbe Ursache.
Erforsche die Menschen,
aber verurteile sie nicht.
Alle Vorgänge sind zufällig oder die Folge von Ursachen, d.h. spezieller: von Naturgesetzen. So sind auch die Taten der Menschen Naturvorgänge, die zufällig oder gesetzmäßig geschehen. Eine gute Tat ist wie der Sonnenschein, eine schlechte wie der Regen, ein Mord wie ein zerstörerisches Erdbeben. Wenn es auch tragisch ist, so ist die Frage nach der Schuld irrelevant.
Keiner hat sich selbst zu dem gemacht, der er ist. Keiner hat sich selbst erschaffen. Jeder ist das Ergebnis seiner Geschichte. Unmittelbare Ursache für viele Taten, Gedanken oder Gefühle ist der Charakter. Diesen jedoch hat sich keiner gewählt. Auch jene, die ihren Charakter selbst mitformen, indem sie z.B. Tugenden einüben, nahmen die Motivation dafür nicht aus sich selbst, sondern diese kam aus der Umwelt (Ermahnungen, erbauliche Bücher, Umgang mit Menschen).
Gedanken und Gefühle sind entstehende und vergehende Muster, die im komplexen System Psyche erscheinen und für die wir nicht verurteilt werden können, weil sie nur in geringem Maße unserer Kontrolle unterliegen und diese Kontrolle auch nur scheinbar die unsere ist.
Der Gute verdient so wenig Lob für seine Güte wie der Schlechte Tadel für seine Schlechtheit. Beide sind das Ergebnis von Naturvorgängen (zu denen auch die zwischenmenschliche Wechselwirkung zählt) und
Zufällen.
Die Unterschiedlichkeit der Menschen ist völlig natürlich und jemanden für seine psychische Gestalt zu verurteilen, zeugt von Unkenntnis ihrer Notwendigkeit, setzt also voraus, dass ein Mensch sich selbst
bestimmen könne, was nach dem hier Gesagten aber nicht zutrifft.
Eine weitere praktische Konsequenz ergibt sich aus folgender Überlegung:
Bin ich mit meiner heutigen Situation unzufrieden, dann leide ich daran viel mehr, wenn eine scheinbar freie Entscheidung mich in sie geführt hat als wenn Umstände schuld an ihr sind, die ich nicht beeinflussen konnte. Diese Fehlentscheidung bedaure ich mit: „Ach hätte ich damals doch nur anders gewählt“. Mit nicht selbstverschuldeten Schwierigkeiten finde ich mich leichter ab. Halte ich mir nun aber vor Augen, dass meine vermeintlich freie Entscheidung ebenso wenig frei war wie ein unbeeinflussbarer Umstand, dass sie also genau wie dieser aus Zufall und Notwendigkeit folgte, dann wird mein Ärger geringer werden und ich kann die Situation so gelassen akzeptieren, weil meine Entscheidung nur Zwischenglied einer Kausalkette war und nicht erste Ursache.
Gruß, Tychi