Flugunfall bei Überlingen: Untersuchungsbericht

Hallo,

ich habe die Presseinformation und den Untersuchungsbericht eben gelesen (Quelle: http://www.bfu-web.de/aktuinfo42.htm) und mich interessieren eure Meinungen dazu.

Nach meiner persönlichen Auffassung verschiebt sich nach diesem Bericht die Schuldfrage deutlich in Richtung der Organisation von skyguide, weg vom Lotsen. Selbst die Tupolew-Crew wird IMHO von den vorangegangenen Schuldvermutungen teilweise entlastet. Sie hat lt. o.g. Bericht als erstes vom TCAS die TA-Warnung bekommen, dann vom Lotsen die Aufforderung zum Sinkflug und erst DANN vom TCAS die Aufforderung zu steigen.

Wenn ich mir vorstelle, dass der Lotse zwei Arbeitsplätze gleichzeitig zu bedienen hatte (ein drittes Flugzeug offenbar im Ladeanflug) und den Funk vom jeweils anderen Platz nicht hören konnte. Dann stellt sich mir schon die Frage ob es einem Mitarbeiter anzulasten oder eine unternehmerische Fehlplanung ist wenn der Lotse dann einen kurzen Zeitraum (wenige Minuten) überfordert ist. Er hätte seinen Kollegen offenbar nicht mal um Hilfe rufen können (oder klingeln…), da sich dieser außer Hörweite befand.

Für mich stellt sich dann schon die Frage, wer dafür zur Verantwortung zu ziehen ist wenn das System menschliches Fehlverhalten „provoziert“.

Wie steht ihr dazu?

Desweiteren klärt o.g. Bericht auch zwei weitere Fragen die ich weiter unten stellte:
1.Ist so eine Boeing ohne _vorhandenes_ (nicht nur unsteuerbares) Seitenleitwert wohl wirklich einfach garnicht mehr kontrollierbar.
2.war der kleine Fehler mit der 2-Uhr Betrachtung sicher nicht so gravierend, trug aber kurz ein weiteres mal zur Desorientierung der Tupolew-Crew bei: „Damit hat er die Crew der TU154M kurzzeitig irritiert.“

Nunja, überflüssig gestorben ist der Lotse ja so oder so. Der Bericht macht diese Aktion aber IMHO noch sinnloser :frowning:

Viele Grüße,
J~

Hallo J~,

Nach meiner persönlichen Auffassung verschiebt sich nach
diesem Bericht die Schuldfrage deutlich in Richtung der
Organisation von skyguide, weg vom Lotsen. Selbst die
Tupolew-Crew wird IMHO von den vorangegangenen
Schuldvermutungen teilweise entlastet. Sie hat lt. o.g.
Bericht als erstes vom TCAS die TA-Warnung bekommen, dann vom
Lotsen die Aufforderung zum Sinkflug und erst DANN vom TCAS
die Aufforderung zu steigen.

Es ist wie immer: erst durch die Verkettung mehrerer Dinge kommt es zu Problemen.

  1. Die Vorschriften zu TCAS waren schon nicht ganz richtig, bzw. eindeutig, es war den Piloten der Tupolew wohl nicht klar, dass in einem solchen Fall TCAS zu folgen ist, da ja TCAS erst eingreift wenn alle anderen Systeme versagt haben.

  2. Bei Skyguide ist „einiges“ falsch gelauffen !!

Desweiteren klärt o.g. Bericht auch zwei weitere Fragen die
ich weiter unten stellte:
1.Ist so eine Boeing ohne _vorhandenes_ (nicht nur
unsteuerbares) Seitenleitwert wohl wirklich einfach garnicht
mehr kontrollierbar.

Auf Grund der Beschädigung nehme ich an, dass alle Hydraulik-Systeme ausgefallen sind. Vor ein paar Jahren ist ja so ein Fall noch „relativ glimpflich“ abgelaufen (War das in Utah ?), dort wurde das Flugzeug nur mit den Triebwerken gesteuert, aber in diesem Fall wurden ja die Triebwerke auch noch abgerissen.

MfG Peter(TOO)

Guten Morgen Peter,

  1. Die Vorschriften zu TCAS waren schon nicht ganz richtig,
    bzw. eindeutig, es war den Piloten der Tupolew wohl nicht
    klar, dass in einem solchen Fall TCAS zu folgen ist, da ja
    TCAS erst eingreift wenn alle anderen Systeme versagt haben.

wenn man den Bericht aufmerksam liest, muss man meiner Ansicht nach aber die Schuld der Tupolewpiloten relativieren. Für sie stellte sich die Situation so dar, dass die Lotsenanweisung zum sinken eine Reaktion auf die drohende Gefahr war, die ihnen das TCAS kurz vorher meldete (TA). Natürlich hätten sie ihre Entscheidung trotzdem revidieren müssen, es gab ja auch mehrfach zaghaften Widerspruch im Cockpit zum Sinkflug (der auf Grund des starken „Autoritätsgefälles“ leider nicht energisch genug war).

  1. Bei Skyguide ist „einiges“ falsch gelauffen !!

Natürlich hast du Recht, es war eine Verkettung von sehr vielen Geschehnissen. Die Verhinderung eines einzelnen hätte das Gesamtsystem wahrscheinlich nicht zum kolabieren gebracht.
Allerdings hatten die Crews nur 50 Sekunden Zeit sich auf die Gefahr vorzubereiten (Eingang TA), sogar nur 36 Sekunden um ihr zu entfliehen (Eingang RA).

Dahingehend hatte die Führung von Skyguide schon Monate vorher gewusst, dass die Besetzung mit nur einem Lotsen nicht ausreichend war. Auch auf die umfangreichen Arbeiten am System, die sie ja selbst in Auftrag gebracht hat, hätte sie angemessen reagieren müssen.
Kosten hin oder her, wenn sie ein so wichtiges System wie die Flugüberwachung dermassen aus der Normallage bringt (es waren ja VIELE System außer Funktion) hätte sie IMHO noch einen dritten Lotsen an diesem Abend beschäftigen müssen.
Der Untersuchungsbericht fordert dies auch (s. Sicherheitsempfehlungen) und sogar zusätzlich noch eine Personalreserve.

Ehrlich gesagt widerstrebt mir der Vorgang dieser Unternehmensführung das System so fehleranfällig zu machen und dann auf den einzelnen Mitarbeiter die ganze Verantwortung zu übertragen. Deshalb hat meiner Meinung nach das Unternehmen skyguide einen Großteil des Unfalls zu verantworten.

aber in diesem Fall wurden ja die Triebwerke auch
noch abgerissen.

Allerdings erst unmittelbar vor dem Aufschlag, so dass es sicher keinen Einfluss hatte.

Viele Grüße,
J~

Guten Morgen,

  1. Bei Skyguide ist „einiges“ falsch gelauffen !!

Natürlich hast du Recht, es war eine Verkettung von sehr
vielen Geschehnissen. Die Verhinderung eines einzelnen hätte
das Gesamtsystem wahrscheinlich nicht zum kolabieren gebracht.
Dahingehend hatte die Führung von Skyguide schon Monate
vorher gewusst, dass die Besetzung mit nur einem Lotsen nicht
ausreichend war. Auch auf die umfangreichen Arbeiten am
System, die sie ja selbst in Auftrag gebracht hat, hätte sie
angemessen reagieren müssen.

Wir hatten das Thema schon ausführlich weiter unten. Für mich liegt die alleinige Schuld bei Skyguide - moralisch, juristisch eben leider nicht … Wenn Skyguide seinen organisatorischen Pflichten auch nur halbwegs nachgekommen wäre, hätte es den Unfall nicht gegeben!

Deshalb hat meiner Meinung nach das Unternehmen
skyguide einen Großteil des Unfalls zu verantworten.

Es ist seiner Verantwortung gerecht geworden: Es hat sich entschuldigt …

Gruß, Stucki

Andere Meinung
Hi,

dass der Lotse entlastet wird, darin sind wir uns einig.
Ich bin aber der Ansicht, dass entweder die Tupolew Crew, oder zumindest die Luftfahrtbehörden der russischen Föderation eine erhebliche Mitschuld hatten:
Sie haben der Anweisung des Lotsen eine höhere Priorität beigemessen als dem TCAS.
Oder sehen wir es mal so:
Wenn bei Skyguide zu der fraglichen Zeit gar kein Lotse aktiv gewesen wäre, dann wäre das Unglück wegen des TCAS nicht passiert.
Die richtige Priorisierung des TCAS hätte das Unglück verhindert, egal was davor drunter und drüber gegangen ist.
Gruss,

Hallo helge!

Hi,

dass der Lotse entlastet wird, darin sind wir uns einig.

yepp. Zwar nicht völlig, aber doch recht weitgehend. Helfen tut das dem armen Kerl aber auch nicht mehr…

Ich bin aber der Ansicht, dass entweder die Tupolew Crew, oder
zumindest die Luftfahrtbehörden der russischen Föderation eine
erhebliche Mitschuld hatten:

Bei den russischen Luftfahrtbehörden gebe ich dir nur bedingt recht: Die Instruktionen messen zwar den Anweisungen des ATC absolute Priorität bei, verbieten allerdings gleichzeitig - und das recht deutlich - eine Anweisung zu befolgen, die dem TCAS widerspricht (ausser das Kommando kommt vom GPWS). Laut dieser Regelung hätte also die Besatzung der Tupolew NICHT sinken dürfen. Allerdings ist die Ausbildung für TCAS ohne Simulator (da nicht verfügbar) meiner Ansicht nach nicht als optimal zu bezeichnen.

Sie haben der Anweisung des Lotsen eine höhere Priorität
beigemessen als dem TCAS.

Leider ja. Sie haben allerdings auch noch einen weiteren Fehler gemacht: Die Anweisung des ATC lautete explizit auf FL 350 zu sinken. Der Zusammenstoss fand UNTERHALB von FL 350 statt. Die Besatzung der Tupolew hätte also den Sinkflug früher abfangen müssen. Interessant in diesem Zusammenhang mE auch die Bemerkung des Flugnavigators der Tupolew, der etwa 30 Sekunden vor der Kollision meinte „es wird unter uns durchfliegen!“.

Oder sehen wir es mal so:
Wenn bei Skyguide zu der fraglichen Zeit gar kein Lotse aktiv
gewesen wäre, dann wäre das Unglück wegen des TCAS nicht
passiert.

Das stimmt. Hätte der Lotse allerdings richtig gehandelt bzw. hätte er seine Aufmerksamkeit der Situation im erforderlichen Ausmaß widmen können, dann hätte TCAS nicht eingreifen müssen - dieses reagiert ja erst bei einer bereits erfolgten Staffelungsunterschreitung. Ganz schuldlos ist also auch der Lotse nicht.

Die richtige Priorisierung des TCAS hätte das Unglück
verhindert, egal was davor drunter und drüber gegangen ist.

Völlig korrekt. Wie so oft eben eine tragische Verkettung von Umständen/Fehlern.

Gruß
Martin

1 Like

Hi,

Du greifst IMHO zu einseitig eine der Komponenten, die den Unfall begünstigten, heraus und vernachlässigst die anderen Puzzle-Teile.
Man kann auch sagen: es wäre nicht passiert wenn der zuständige Lotse nicht alleine an 2 Arbeitsplätzen gewesen wäre. Der Unfall wäre auch nicht passiert wenn die Telefone bei Skyguide funktioniert hätten. Auch nicht wenn das STCA vom ACC Zürich in Betrieb gewesen wäre. Oder wenn ganz einfach die beiden beteiligten Flugzeuge nicht zur gleichen Zeit am gleichen Ort gewesen wären. Oder wenn nur einer von beiden ein paar lächerliche Meter tiefer, höher oder weiter vorne oder hinten gewesen wäre, nur einen Sekundenbruchteil schneller oder langsamer geflogen wäre, eine minimal, in der 5. Nachkommastelle, andere Sinkrate gehabt hätte…

Wenn bei Skyguide zu der fraglichen Zeit gar kein Lotse aktiv
gewesen wäre, dann wäre das Unglück wegen des TCAS nicht
passiert.

Oder anders: wäre dem Lotsen kein Fehler unterlaufen (Staffelungsunterschreitung zu spät bemerkt) wäre das Unglück auch nicht passiert.

Die richtige Priorisierung des TCAS hätte das Unglück
verhindert, egal was davor drunter und drüber gegangen ist.

Ja, aber eigentlich hätte es so weit gar nicht erst kommen dürfen. Schon vorher ist vieles falsch gelaufen - und das sollte man nicht ausblenden. Das TCAS soll nur eine „last line of defence“, eine aller-aller-allerletzte Sicherung sein, wenn vorher schon zahlreiche Sicherungen durchgebrannt sind und keiner hat’s wider Erwarten gemerkt.

Gruß,

MecFleih

Hi,

Sie haben der Anweisung des Lotsen eine höhere Priorität
beigemessen als dem TCAS.

ja, so lauteten auch ihre Anweisungen.
Ich habe den Untersuchungsbericht recht intensiv gelesen. Das Problem war, dass die falsche Lotsenanweisung zu sinken für die Tupolew-Crew ein logisches Gesamtbild ergab und eben auch VOR der TCAS-RA zum steigen kam. Der Pilot war der Meinung, der Lotse hätte die Gefahr erkannt und darauf reagiert.

Allerdings war die streng hierachische Arbeitsweise des russische Teams scheinbar schlechter für eine Krisensituation geeignet als die der LTU-Piloten, die die BFU doch deutlich lobt und als teamorientiert bezeichnet. Und das finde ich auch aus anderen Gesichtspunkten sehr bezeichnend.

Viele Grüße,
J~

Hi,

Interessant in diesem Zusammenhang mE
auch die Bemerkung des Flugnavigators der Tupolew, der etwa 30
Sekunden vor der Kollision meinte „es wird unter uns
durchfliegen!“.

ja, da ist dir was aufgefallen. Sie wussten ja, dass es Konfliktverkehr auf FL360 gab. Dazu würde die o.g. Aussage nicht passen.

J~

etwas ot
Hi,

ich weiß, ich werde jetzt etwas abschweifen.

Wir hatten das Thema schon ausführlich weiter unten. Für mich
liegt die alleinige Schuld bei Skyguide - moralisch,
juristisch eben leider nicht

Aber fußt unser Recht nicht auf unseren Moralvorstellungen? Gab es die christlichen Gesetze (auf denen unser Staat ja nun mal aufgebaut ist) nicht schon eher?

Deshalb hat meiner Meinung nach das Unternehmen
skyguide einen Großteil des Unfalls zu verantworten.

Es ist seiner Verantwortung gerecht geworden: Es hat sich
entschuldigt …

Natürlich kam die Entschuldigung erst als die Fakten offensichtlich waren. Ich finde es trotzdem einen fairen Zug, manch anderer Konzern hätte selbst jetzt nicht reagiert.

J~