Crash über dem Bodensee: Wie war es möglich?

Hallo!

Den exakten Hergang der damaligen Ereignisse kenne ich nicht gut. Jedenfalls war es eine abstruse Mischung aus technischen und menschlichen Pannen, eine unglückliche Verkettung verschiedenster Umstände, die für das Unglück verantwortlich war. An einer Stelle aber, nämlich an der praktisch letzten, frage ich mich, wieso der Crash nicht vermieden wurde.

Also: Eine der Maschinen (oder beide?) hatten Kollisionswarnung. Daraufhin wurde von mindestens einer Maschine (evtl. auch von beiden) die Flughöhe verändert. Trotzdem knallte es. Also lag das letzte Problem in dem Umstand, daß keine der beiden Crews wußte, wie die jeweils andere Crew mit der Flughöhe umgehen würde. Dabei wäre das doch sehr einfach zu umgehen, indem man diese Funktion einem Automatismus überträgt. Ein Kriterium hierfür könnte ganz simpel sein, nämlich die Flugnummer. Jede Zusammensetzung aus Buchstaben und Zahlen sollte zu jedem Zeitpunkt einmalig sein im Flugraum. Das Alphabet A, B, C… und die zehn Ziffern bestimmen die Reihenfolge; es gibt also eine „niedrigere“ und eine „höhere“ Flugnummer. Der Automatismus könnte bedeuten, daß die niedrige Nummer sinkt und daß die höhere Nummer steigt. Dafür müßte der „Notfallplan“ jeder Maschine lediglich wissen, welche Flugnummern im Luftraum sind, was durch die Transponder gewährleistet wird. Diese Lösung könnte geradezu aus der Grundschule kommen, so einfach ist sie.
Mache ich einen Denkfehler?

Larry

Hallo.

Also: Eine der Maschinen (oder beide?) hatten
Kollisionswarnung. Daraufhin wurde von mindestens einer
Maschine (evtl. auch von beiden) die Flughöhe verändert.

Meines Wissens hatten beide Maschinen eine Kollisionswarnung.

Trotzdem knallte es. Also lag das letzte Problem in dem
Umstand, daß keine der beiden Crews wußte, wie die jeweils
andere Crew mit der Flughöhe umgehen würde. Dabei wäre das
doch sehr einfach zu umgehen, indem man diese Funktion einem
Automatismus überträgt.

Der Kollisionswarner (TCAS, siehe http://de.wikipedia.org/wiki/Traffic_Alert_and_Colli…) gibt eine Ausweichempfehlung, die beide Maschinen in unterschiedliche Richtungen ausweichen lässt.
Wenn ich das noch richtig in Erinnerung habe, gab der Fluglotse genau entgegengesetzte Anweisungen. Während der eine Pilot dem TCAS folgte, befolgte der andere die Anweisungen des Fluglotsen.

Sebastian.

Hallo!

Wenn ich das noch richtig in Erinnerung habe, gab der
Fluglotse genau entgegengesetzte Anweisungen. Während der eine
Pilot dem TCAS folgte, befolgte der andere die Anweisungen des
Fluglotsen.

Dann war es also der Koch am Boden, der den Brei verdarb. Interessant zu erfahren wäre nun, ob die Entscheidungsketten überarbeitet wurden. Wenn der Controller Hinz dieses entscheidet und wenn der Pilot Kunz jenes entscheidet und wenn der Kollisionswarner noch eine ganz andere Idee auf die Instrumente bringt, dann hört sich das alles nach geqirlter Kacke an.

Danke für Deine Antwort.

Larry

Das Problem war folgendes:

Beide Maschinen hatten jeweils ein funktionierendes TCAS (Traffic Alert and Collision Avoidance System, dt. etwa „Kollisionswarn- und vermeidungsgerät“) an Bord. Diese beiden Geräte haben bemerkt, dass sie sich auf Kollisionskurs befinden und, genau wie es sein soll, untereinander ausgemacht, was zu tun sei: „Ich sage meinem Piloten er soll sinken, wenn du deinem sagst, dass er steigen soll. Einverstanden?“ „Ok, so machen wir’s!“ Gesagt, getan, die Cockpitcrew der einen Maschine erhielt von ihrem TCAS den Befehl für den Sinkflug, die Piloten des anderen Flugzeuges eine Aufforderung zu steigen. Zeitnah dazu hat auch der ATCO (Air Traffic Controller, dt. Fluglotse) den beiden Cockpitbesatzungen Anweisungen zu steigen bzw. zu sinken gegeben. Diese Anweisungen waren leider jenen der beiden TCAS genau entgegengesetzt. Alles kein Problem, schließlich gibt es feste Regeln und Anweisungen, was in diesem Fall zu tun ist:

In der „westlichen Welt“ (USA, EU,…) ist festgelegt, dass die Anweisungen des TCAS Priorität über den Anweisungen des ATCO haben. Widersprechen sich die Anweisungen - so wie in diesem Fall - ist der ATCO zu ignorieren und das zu tun, was das TCAS befiehlt. Schließlich hat das eigene TCAS sich mit dem des anderen Flugzeuges abgestimmt und die beiden Systeme haben gemeinsam die beste Strategie ausgetüftelt, mir der die Kollision vermieden werden kann.

U.a. in Russland ist festgelegt, dass die Anweisungen des ATCO Priorität über den Anweisungen des TCAS haben. Widersprechen sich die Anweisungen - so wie in diesem Fall - ist das TCAS zu ignorieren und das zu tun, was der ATCO befiehlt. Schließlich sitzt da immer noch ein intelligenter, für diesen Job ausgebildeter Mensch, der selber einen Überblick über die Lage hat und im Zweifel am besten weiß, was zu tun ist. Technik kann schließlich kaputtgehen.

Der Flugunfallbericht der BFU
([http://www.bfu-web.de/nn_41670/DE/Publikationen/Unte…](http://www.bfu-web.de/nn_41670/DE/Publikationen/Untersuchungsberichte/2002/Bericht 02 AX001-1-2,templateId=raw,property=publicationFile.pdf/Bericht_02_AX001-1-2.pdf))
gibt nun Aufschluss darüber, wo die Piloten ausgebildet worden sind:

Boeing B757-200 (DHL, Flugnummer 611)
Kommandant (PIC): ATPL, USA
Copilot: ATPL, USA
(PIC = Pilot in Command, dt. verantwortlicher Luftfahrzeugführer)
(ATPL = Airline Transport Pilot License, dt. Verkehrsflugzeugführerlizenz)

Tupolew TU154M (Bashkirian Airlines, Flugnummer 2937)
Kommandant (unter Aufsicht): Verkehrsflugzeugführer 1. Klasse der Russischen Föderation
Instruktor (PIC): Verkehrsflugzeugführer 1. Klasse der Russischen Föderation

Den Rest kann man sich zusammenreimen.

Daniel

6 Like

Hi,

Dann war es also der Koch am Boden, der den Brei verdarb.

es wurde ja schon erwähnt, dass bei widersprüchlichen Anweisungen damals dem TCAS gefolgt werden sollte.
Der „Koch am Boden“ hätte den Kollisionskurs IM VORNHEREIN vermeiden müssen. Da er dies NICHT tat, hat ER bereits einen Fehler begangen. Das ist IMHO auch die Logik die dahinter steht, dass man im Zweifel seine Anweisungen ignoriert. Man würde sonst sozusagen einem aktuell fehlerhaften System weiter folgen, da nimmt man besser das, welches noch keinen Fehler produziert hat.
So erkläre ich mir das zumindest…

Interessant zu erfahren wäre nun, ob die Entscheidungsketten
überarbeitet wurden.

Sie waren doch damals (eigentlich) schon schlüssig. Auch im Cockpit der Tupolew gab es damals Kritik an der Entscheidung das TCAS zu ignorieren. Aber sie wurde nicht erhört und auch nicht durchgesetzt weil dort ein anderes Hierarchieverständnis herrschte als im „westlichen“ Cockpit.

VG,
J~

PS: such mal im Archiv, das Thema hatten wir schon mehrmals
/t/flugunfall-bei-ueberlingen-untersuchungsbericht/2…
/t/kollisionswarnung/2182254
/t/kollision-verhindern/3144762/2

Ungänze im TCAS
Moin,

nach meinem Wissen ist die Frage nach dem letztendlichen Grund recht einfach: Das TCAS wies einen Konstruktionsfehler im Design auf.

Die bisherigen Schilderungen des Unfallhergangs sind soweit richtig. Allerdings gibt es über diese erste Warnung hinaus genau für diesesn Fall noch eine weitere TCAS Funktion, die Reversal Resolution Advisory. Für den Fall, daß eines der beteiligten Flugzeuge seiner RA nicht, falsch oder entgegengesetzt folgt, kann das andere TCAS eine Umkehr der Ausweichempfehlung anordnen, der in sehr viel kürzerer Zeit gefolgt werden muß - also für genau so einen Fall wie in Überlingen.
Das Problem an diesem Modus ist aber, daß eine Bedingung war, daß mindestens 100’ (also 30m) Höhendifferenz bestehen müssen - und die wurden in diesem Fall nie erreicht!

Im BFU Bericht (Link: [http://www.bfu-web.de/nn_41670/DE/Publikationen/Unte…](http://www.bfu-web.de/nn_41670/DE/Publikationen/Untersuchungsberichte/2002/Bericht 02 AX001-1-2,templateId=raw,property=publicationFile.pdf/Bericht_02_AX001-1-2.pdf)) auf Seite 80 (Seitzahl, PDF-Seite: 82) wird die Thematik entsprechend dargestellt, zumal es wohl genau dazu bereits eine Beanstandung von Eurocontrol gab.

Gruß,

Nabla

Hi,

was war deiner Meinung nach der Konstruktionsfehler? Die Bedingung, dass der Abstand für eine Reversal RA min 100Fuß betragen muss?
Ist es denn in den 4Sekunden bis zum Zusammentreffen dann überhaupt machbar von einen gerade eingeleiteten Sinkflug mit einem Steigflug merkbar an Höhe zu gewinnen?

wird die Thematik
entsprechend dargestellt, zumal es wohl genau dazu bereits
eine Beanstandung von Eurocontrol gab.

Was wurde denn inzwischen an den Bedingungen verändert?

Viele Grüße,
J~

Die russische Luftfahrtdoktrin sah stets eine sehr starke Bindung der Piloten an die Luftverkehrskontrolle vor. Noch schlimmer war es nur bei Militärfliegern. Das kann dazu führen, daß man die Verantwortung auf den Bodencontroller schiebt und blind macht, was der sagt. Dazu kommt, das speziell altgediente Piloten bisweilen ihre Schwierigkeiten mit westlicher Technik und/oder englischer Sprache haben. Ich will niemanden herabwürdigen, aber weiß von mindestens zwei Fällen wo ein Pilot Warnungen ignorierte bzw. nicht verstand. Trotzdem darf so etwas nicht passieren und ich glaube das 99,9% der im internationalen Verkehr fliegenden Piloten ihren Job top machen, egal wo sie ausgebildet wurden. Leider bestätigen Ausnahmen die Regel.