Kollisionswarnung

Hallo,

gestern abend wurden in einer Dokumentation der BBC noch einmal die Gründe für die Kollision einer DHL-Boeing mit einer Tupolev über dem Bodensee vor ca. 2 Jahren beleuchtet. Damals kamen tragischerweise viele Kinder in der Tupolev ums Leben.

Danach führte eine Kette von technischen und organisatorischen Unzulänglichkeiten zu dem Zusammenstoß. Hauptgrund war aber offensichtlich, daß der Lotse den Kollisionskurs ca. 1 Minute vor dem Ereignis erkannte und dem Piloten der Tupolev die Anweisung zum Sinkflug erteilte. Dieses Manöver sollte die erforderliche Höhenstaffelung mit der kreuzenden Boeing einleiten. Zeitgleich sprangen aber die miteinander koordinierten TCAS-Kollisionswarngeräte in der Boeing und der Tupolev an. Das TCAS der Boeing gab dem Piloten die Anweisung zu sinken, das TCAS der Tupolev erteilte dem Kapitän die Anweisung zum Steigflug. Die Boeing leitete unverzüglich den Sinkflug ein. Die Tupolev reagierte auf Grund der widersprechenden Anweisungen von Lotse und TCAS zunächst nicht und blieb auf ihrer Flugfläche. Es soll zu einer kurzen Diskussion an Bord der Tupolev gekommen sein. Nach einem abermaligen dringlichen „expedite descend“ des Lotsen begann der Kapitän mit dem Sinkflug. Eine erneute Aufforderung des TCAS zum Steigflug („increase climb!“) wurde hingegen ignoriert. Ergebnis war, daß sich beide Maschinen auf gleicher Flugfläche kreuzten.

Es soll zum Umfallzeitpunkt keine eindeutige Regelung gegeben haben, wie ein Pilot bei sich widersprechenden Anweisungen von Lotse und Kollisionswarnsystem zu verhalten hat. Da die Einleitung des Flugmanövers in vielen Fällen von Sekunden abhängen kann, ist eine zuvorige eingehende Abklärung der Lage mit dem Lotsen wohl kaum möglich. Gibt es mittlerweile eine entprechende Regelung?

Hallo Michael,

ich habe jetzt keine Unterlagen mit §§ zur Hand. Aber wir haben schon
vor knapp 20 Jahren im Simulator gelernt, TCAS-Warnungen „regardless
of ATC“ sofort und ohne Diskussion zu befolgen. TCAS overrided alles.
Das haben die Tu-Piloten leider nicht richtig gelernt.
Logisch. Eine falsche TCAS-Warnung (ohne Gefahr) führt nur zu einem
fiktiven Ausweichmanöver, das im nachträglich ohne Probleme
korrigiert werden kann. Eventuell noch mit Diskussionen mit ATC.
Aber eine richtige und nicht befolgte Warnung kann nicht mehr
diskutiert werden. Wie gehabt.
Gruß
TeeBird

Hallo,

es gab in der Tat zum Zeitpunkt des Unfalls keine gesetzliche Regelung ob dem TCAS oder einer Lotsenanweisung zu folgen ist.
Allerdings gab es bei mehreren Airlines eine sog. „Company rule“ die besagte daß in einem Zweifelsfall immer dem TCAS zu folgen ist und nicht der ATC-Anweisung (ATC = Air Traffic Control).

Das erscheint auch sinnvoll: Zum einen ist die Wahrscheinlichkeit eines TCAS-Systemfehlers geringer als die Wahrscheinlichkeit eines Lotsenirrtums, und zum anderen hat der Lotse ja bereits einen Fehler gemacht bzw. man muß ihm unterstellen weiterhin nicht korrekt über die Lage in seiner Kontrollzone informiert zu sein wenn es zu einer Staffelungsunterschreitung kommt.

Nach diesem Unfall sollte „selbst der dümmste Pilot“ verstanden haben daß TCAS immer Vorrang hat. Unglücklicherweise muß manchmal erst etwas Schlimmes passieren bevor in den Köpfen von Menschen, hier Piloten, eine sog. „Canned Decision“ entsteht. Seit diesem Crash ist wahrscheinlich vielen erst klar geworden daß sie in jedem Fall nach TCAS-Anweisung reagieren müssen wenn ein entsprechender Konflikt auftritt. Aber vor dem Unfall wären bestimmt viele genauso erstmal verwirrt gewesen welcher Anweisung zu folgen ist wie das bei den Tupolew-Piloten der Fall war.

Wie Du richtig beschrieben hast sind bei diesem Unfall, wie immer wenn es zu einem Crash in der Fliegerei kommt, mehrere sehr unglückliche Umstände zusammengekommen. Insofern ist es auch schwer eine eindeutige Schuldzuweisung zu machen.

IMHO hat die Schweizer Flugsicherung Skyguide ein sehr hohes Organisationsverschulden, sicher hat auch der zuständige Lotse einen Fehler gemacht, und die Tupolew-Piloten haben, nachdem TCAS anschlug, sehr lange nicht reagiert - einerseits verständlich, andererseits gefährlich, denn sooooo viel Zeit zum Reagieren bleibt bei einem TCAS-Alert nicht.

Tragisch daß sich die Maschinen dann wirklich getroffen haben. Wenn man bedenkt daß nur ein paar Meterchen Abstand ausgereicht hätten… diese paar Meter sind, bezogen auf die Geschwindigkeit und die Tatsache daß beide Maschinen zum Zeitpunkt des Crash gerade eine Höhenänderung durchführten, ein so geringer Abstand, der da nötig gewesen wäre um sich nicht zu treffen…

Gruß,

MecFleih

Danke für die interessanten Stellungnahmen.

Es war tatsächlich knapp und hätte auch glimpflich ausgehen können. In der BBC-Reportage hieß es, daß lediglich 20 Fuß Höhendifferenz gefehlt hätten. Das Unglück ist nun einmal leider geschehen und man kann in der Tat nur hoffen, daß die zivile Luftfahrt daraus gelernt hat.

Die Versäumnisse von Skyguide wurde in dem Bericht auch deutlich herausgestellt (internes Telefonnetz wegen Wartungsarbeiten außer Betrieb, Reserveleitung nicht verfügbar. Noch nicht einmal über das postalische Telefon konnte Friedrichshafen vom einzigen anwesenden Lotsen kontaktiert werden). Skyguide hat nach dem Unfall immerhin Notfall-Handys eingeführt und das Personal aufgestockt.

Daß sich Maschinen auf gleicher Flugfläche bewegen und dabei vorübergehend auf Kollisionskurs befinden, soll nach Aussage eines Lotsen in dem BBC-Report „ganz normal“ sein. Allerdings werden solche Konstellationen im Normalfall rechtzeitig geklärt - und nicht erst, wenn das TCAS anspringt.

Gruß

Hallo,

Wie Du richtig beschrieben hast sind bei diesem Unfall, wie
immer wenn es zu einem Crash in der Fliegerei kommt, mehrere
sehr unglückliche Umstände zusammengekommen. Insofern ist es
auch schwer eine eindeutige Schuldzuweisung zu machen.

So kann man das wohl nicht stehen lassen. Nach einem TV-Bericht vor nicht allzu langer Zeit hat Skyguide so gravierende Fehler gemacht, dass sie eindeutig die Schuld haben. Der Lotse hat sich mehr um eine Friedrichshafen anfliegende Maschine gekümmert, obwohl eine kritische Situation bestand, Telefonsysteme waren ausser Betrieb, so dass Skyguide auch von der Karlsruher Flugsicherung (ehemals Eurocontrol), die den Crash genau vorhergesehen haben (!), nicht erreichbar war. Laut Bericht hat der Lotse versucht, sich nach der Landung der Friedrichshafener Maschine wieder mit der Tupolew in Verbindung zu setzen … aber die gab es dann nicht mehr

Gruß, Stucki

Hallo,

mir persönlich „paßt“ es auch nicht so recht daß - wieder mal - menschliches Versagen und der Fehler eines Einzelnen als Begründung für den Unfall herhalten sollen. Natürlich setzt Skyguide alles daran von ihrer Schuld abzulenken und schiebt die Verantwortung auf den Lotsen - der ja leider ermordet wurde und sich nun nicht mehr dagegen wehren kann - und auf die russischen Piloten, die nicht ihrem TCAS gefolgt sind. Auch sie sind tot und können den Schutzbehauptungen der Skyguide nicht entgegentreten.
Insofern habe ich auch ganz bewußt Skyguide an den Anfang meiner Aufzählung von Verantwortlichen gestellt weil ich diese Firma moralisch für „zuständig“ halte. Nur: rechtlich oder im Hinblick auf die Frage „Was lernen wir daraus?“ muß man ehrlicherweise schreiben daß mehrere Umstände dazu führten daß das bekannte traurige Ergebnis zustande kam.

Man darf nicht darüber hinwegsehen daß der Lotse am Board sitzt und für eine ordnungsgemäße Staffelung zu sorgen hat. Wenn dann ein „Near miss“ oder wie hier tragischerweise ein Zusammenstoß passieren, kann man nicht einfach sagen „der Lotse konnte aber gar nichts dafür“ - schließlich ist es sein Job soetwas zu verhindern.

Daß z. B. die Karlsruher Lotsen keine telefonische Warnung abgeben konnten und dem sich anbahnenden Inferno zusehen mußten ist sicherlich tragisch und der Skyguide anzulasten, es ist auch eine nachvollziehbare Erklärung daß der Lotse im entscheidenden Augenblick mehr auf die in Friedrichshafen anfliegene Maschine konzentriert war - aber das erklärt die Unfallursache nur. Der schwarzen Peter bleibt teilweise trotzdem bei dem Lotsen, denn der muß ja trotz allem dafür sorgen daß solche Situationen, wie hier tragischerweise entstanden, nicht passieren.

Gruß,

MecFleih

Hallo,
da kann ich mit meiner bescheidenen persönlichen Meinung nur MecFleih
beipflichten. Es ist fast immer eine Kette von Ursachen, die zu
Katastrophen führt. Theoretisch könnte man jeden einzelnen Faktor
ursächlich ansehen, aber die Kette wäre meist schon mit einem
fehlendem Detail unterbrochen.
Hier:

  • Piloten folgen dem TCAS und mißachten den Controller
  • selbst wenn die Piloten also ATC Priorität einräumen, würde eine
    richtige Situationsanalyse vom Controller die richtige Anweisung zur
    Folge haben. Wenn nicht im Vorfeld schon diese Situation gar nicht
    erst entstanden wäre.
  • Telefon intakt. Hätte die beiden vorliegenden Fehlerursachen ev.
    auch schon korrigiert.
  • Zwei Diensthabende am Radar

Und das kann man bis weiß ich wo fortführen. Komplexe Systeme haben
ebenfalls solche Fehlerursachen.

GrußTeeBird

Hallo,

mir persönlich „paßt“ es auch nicht so recht daß - wieder mal

  • menschliches Versagen und der Fehler eines Einzelnen als
    Begründung für den Unfall herhalten sollen.

Nein, dann würde keiner mehr einen solchen Job annehmen. Wie schon geantwortet, ist das ein komplexes System und in diesem Fall hat eine Kette von „unglücklichen Umständen“ zum Unfall geführt, das wird sich wohl auch nie ganz verhindern lassen. Eben genau deswegen aber gibt es in solchen „komplexen Systemen“ Regeln, Vorschriften usw., die die Wahrscheinlichkeit eines Versagens minimieren sollen - z.B. grundsätzlich zwei Lotsen, mindestens ein Kanal (Telefon oder so), über den der/die diensthabenden Lotsen direkt und schnell erreichbar sind. Beides hat gefehlt, beides liegt im Verantwortungsbereich von Skyguide, nicht des Lotsen. Der hätte vielleicht seinen Dienst unter solchen Umständen verweigern sollen …
Das als meine unbedingte Zustimmung zu Deiner Aussage, dass „diese Firma moralisch „zuständig“ ist“.
Der Fehler, dass die russischen Piloten nicht ihrem TCAS gefolgt sind, wäre leicht ausgeglichen worden, wenn alles so gewesen wäre, wie es hätte sein sollen.

Daß z. B. die Karlsruher Lotsen keine telefonische Warnung
abgeben konnten und dem sich anbahnenden Inferno zusehen
mußten ist sicherlich tragisch …

Ja, für die Karlsruher Lotsen muss das fast ein Alptraum gewesen sein. In dem von mir erwähnten Fernsehbericht wurden sie natürlich auch gefragt, warum sie nicht eingegriffen haben. „Das ist grundsätzlich verboten, in den Zuständigkeitsbereich anderer einzugreifen!“ Was unmittelbar nachvollziehbar ist: Eine Flugkontrolle sagt „Hüh!“, die andere sagt „Hott!“ Das würde wohl zu noch größeren Gefahren führen. Immerhin haben die Karlsruher versucht, Skyguide auf alle erdenkliche Weise zu erreichen, aber das ging aus bekannten Gründen nicht. Womit wir wieder bei Skyguide sind …

Ich habe vor längerer Zeit ein Jahr in Zürich gelebt und die Schweizer kennen und schätzen gelernt, und ich habe heute noch Freunde dort und fahre heute noch gerne dahin. Aber, oder gerade deswegen, der Unfall erinnert mich immer wieder an das Buch des Schweizer Nationalrats Jean Ziegler, „Eine Schweiz über jeden Verdacht erhaben“, auch wenn es darin um was anderes geht.

Gruß, Stucki

Hallo,

grundsätzlich zwei Lotsen, mindestens ein Kanal (Telefon oder
so), über den der/die diensthabenden Lotsen direkt und schnell
erreichbar sind. Beides hat gefehlt, beides liegt im
Verantwortungsbereich von Skyguide, nicht des Lotsen.

Naja, AFAIK waren 2 Lotsen im Dienst - nur hat der eine gerade zu diesem Zeitpunkt eine Zigaretten-/Pinkelpause gemacht…

Der Fehler, dass die russischen Piloten nicht ihrem TCAS
gefolgt sind, wäre leicht ausgeglichen worden, wenn alles so
gewesen wäre, wie es hätte sein sollen.

In diesem Punkt frage ich mich auch: wieso waren sie auf gleicher Höhe? Sind die beide im eine ungefähr gleiche Richtung unterwegs gewesen, zu Recht auf dem gleichen Flight Level, oder gab es auch hier schon einen Fehler a) der ATC oder b) eines der Piloten?

Daß z. B. die Karlsruher Lotsen keine telefonische Warnung
abgeben konnten und dem sich anbahnenden Inferno zusehen
mußten ist sicherlich tragisch …

Sie sind nach dem Crash, soweit mir bekannt ist, auch psychologisch betreut worden…

Ja, für die Karlsruher Lotsen muss das fast ein Alptraum
gewesen sein. In dem von mir erwähnten Fernsehbericht wurden
sie natürlich auch gefragt, warum sie nicht eingegriffen
haben. „Das ist grundsätzlich verboten, in den
Zuständigkeitsbereich anderer einzugreifen!“ Was unmittelbar
nachvollziehbar ist: Eine Flugkontrolle sagt „Hüh!“, die
andere sagt „Hott!“ Das würde wohl zu noch größeren Gefahren
führen.

Man hat nach diesem Unfall diskutiert ob es überhaupt sinnvoll ist daß ATC in einer Situation, wie sie hier gegeben war, eingreift. Es gibt die Meinung daß es besser ist nur den unmittelbar bevorstehenden TCAS-Alert anzukündigen, sich ansonsten aber nicht weiter einzumischen um genau das, was hier passiert ist, zu verhindern: daß ein Konflikt zwischen einer ATC-Anweisung und dem TCAS auftritt und Verwirrung schafft. Das wäre nämlich genauso ein Hüh oder Hott wie widersprechende Anweisungen unterschiedlicher Lotsen.

Ich habe vor längerer Zeit ein Jahr in Zürich gelebt und die
Schweizer kennen und schätzen gelernt, und ich habe heute noch
Freunde dort und fahre heute noch gerne dahin. Aber, oder
gerade deswegen, der Unfall erinnert mich immer wieder an das
Buch des Schweizer Nationalrats Jean Ziegler, „Eine Schweiz
über jeden Verdacht erhaben“, auch wenn es darin um was
anderes geht.

:wink: Ich verstehe…

Gruß,

MecFleih

Hallo nochmal,

In diesem Punkt frage ich mich auch: wieso waren sie auf
gleicher Höhe? Sind die beide im eine ungefähr gleiche
Richtung unterwegs gewesen, zu Recht auf dem gleichen Flight
Level, oder gab es auch hier schon einen Fehler a) der ATC
oder b) eines der Piloten?

Laut Bericht in etwa rechtem Winkel aufeinander zu, die Tupolew von Osten, die Frachtmaschine von Süden. Wenn es so war, müssen die beiden Piloten fast völlig ahnungslos gewesen sein. Ich kenne mich zu wenig aus, aber wenn das TCAS anschlägt, müsste doch mindestens erhöhte Aufmerksamkeit da sein oder gar (innerliche) Alarmglocken klingeln!? Kurz vor dem Crash soll das TCAS regelrecht „verrückt gespielt“ haben …

Gruß, Stucki

Hallo,

Laut Bericht in etwa rechtem Winkel aufeinander zu, die
Tupolew von Osten, die Frachtmaschine von Süden.

Es gibt eine Grundregel, die - ganz einfach erklärt und ohne Ausnahmen zu beachten - besagt: alle Flüge mit Kompaßkurs zwischen 0° und 179°, also grob gesagt Richtung Osten (eastbound - odd) gehören auf ungerade Flightlevel, während alle Flüge mit Flighttracks zwischen 180° und 359° (westbound - even) auf gerade Flightlevel gehören.
Man könnte demnach vermuten daß die Tupolew wohl auf einen geraden Flightlevel gehörte weil sie westbound geflogen ist. Die Frage ist: wie sieht’s mit der Frachtmaschine aus?
Theoretisch wäre ja auch denkbar daß beide im gleichen Segment unterwegs waren und deswegen zu Recht auf die gleiche Höhe gehörten. Aber hier kommt man ohne ausreichende Infos zu sehr in den Bereich der Spekulationen.

Wenn es so
war, müssen die beiden Piloten fast völlig ahnungslos gewesen
sein. Ich kenne mich zu wenig aus, aber wenn das TCAS
anschlägt, müsste doch mindestens erhöhte Aufmerksamkeit da
sein oder gar (innerliche) Alarmglocken klingeln!? Kurz vor
dem Crash soll das TCAS regelrecht „verrückt gespielt“ haben

Das TCAS sollte den Intruder schon anzeigen bevor es überhaupt zu einer kritischen Situation kommt. Insofern müßten aufmerksame Piloten durchaus rechtzeitig „situational awareness“ gehabt haben und die Annäherung beobachtet haben.
„Verrückt spielen“ tut ein TCAS normalerweise nicht, es warnt eindringlich vor einer drohenden Kollision und gibt je nach Gerät/Betriebsmodus auch eine Ausweichempfehlung, die zwischen den beiden beteiligten TCAS-Geräten koordiniert wird. Dabei sind es nie laterale sondern immer nur vertikale Ausweichmanöver (also: der eine muß steigen, der andere sinken).

Schönen Gruß,

MecFleih

Hallo MacFleih!

Es gibt eine Grundregel, die - ganz einfach erklärt und ohne
Ausnahmen zu beachten - besagt: alle Flüge mit Kompaßkurs
zwischen 0° und 179°, also grob gesagt Richtung Osten
(eastbound - odd) gehören auf ungerade Flightlevel, während
alle Flüge mit Flighttracks zwischen 180° und 359° (westbound

  • even) auf gerade Flightlevel gehören.

Laut http://www.bfu-web.de/berichte/02_ax001dst.pdf war die Tupolew mit Kurs 274° auf FL 360 unterwegs, die Boeing mit Kurs 4° ursprünglich auf FL 320, stieg dann mit Genehmigung durch ACC Zürich auf FL 360.

Die von dir angeführte Grundregel wurde also bei der Boeing nicht berücksichtigt, wobei ich nicht feststellen konnte, ob der Kurs der Boeing schon vor dem versuchten letzten Ausweichmanöver Richtung Osten ging oder die 4° ein Resultat desselbigen sind.

Hier nochmal kurz eine Zusammenfassung des obigen Berichts:
50 Sekunden vor der Kollision warnt das TCAS in beiden Maschinen vor dem möglichen Konfliktverkehr. 7 Sekunden später erteilt der ATC der Tupolew die Anweisung zum schnellen („expedite“) Sinken auf FL 350 mit Hinweis auf Konfliktverkehr, den die Besatzung auch weitere 7 Sekunden später einleitet. Laut Bericht gleichzeitig erhalten die beiden Besatzungen die Kommandos vom TCAS zum Sinken (Boing) bzw. Steigen (Tupolew). Die Besatzung der Boeing befolgt die Anweisung des TCAS, die der Tupolew bestätigt die wiederholte Anweisung zum Sinken. Der ATC weist die Besatzung bei der Wiederholung der Anweisung zum Sinken auf Konfliktverkehr in FL 360 hin. Das TCAS der Tupolew gibt 8 Sekunden vor dem Zusammenstoss noch einmal die Anweisung „increase climb“.

Man könnte demnach vermuten daß die Tupolew wohl auf einen
geraden Flightlevel gehörte weil sie westbound geflogen ist.
Die Frage ist: wie sieht’s mit der Frachtmaschine aus?

Wie gesagt, der Kurs von 4° ist der zum Zeitpunkt der Kollision. Aus der dem Bericht beiliegenden Grafik ist aber ersichtlich, dass der Kurs der Boeing ein östlicher war.

Theoretisch wäre ja auch denkbar daß beide im gleichen Segment
unterwegs waren und deswegen zu Recht auf die gleiche Höhe
gehörten. Aber hier kommt man ohne ausreichende Infos zu sehr
in den Bereich der Spekulationen.

Dem stimme ich zu…

Der Abschlussbericht soll ja am Mittwoch vorgestellt werden. Mal sehen, wie der dann aussieht.

Gruß
Martin

In dem Bericht der BFU wird die Bitte der Boeing-Besatzung erwähnt, von FL 260 auf FL 360 steigen zu dürfen (laut BBC-Bericht ein übliches Anliegen, um Treibstoff zu sparen). Dies spricht dafür, daß die Boeing eine standardmäßig für ihren Kurs nicht vorgesehene Flugebene anstrebte. Das „Go“ für diese Aktion erhielt die Boeing 9 Minuten vor dem Zusammenstoß. Knapp 6 Minuten vor dem Unfall erreichte sie die Flugfläche der Tupolev.

Man darf vermuten, daß der Lotse, hätte er nicht gleichzeitig einen Anflug auf einem 3 Meter(!) von seinem eigentlichen Arbeitsplatz entfernten Monitor koordinieren müssen, den Überblick bewahrt und der Boeing die Genehmigung verweigert hätte.

Gruß

Hallo,

die Sache mit den Halbkreisflugregeln darf man nicht überbewerten.
Diese haben mehr einen planerischen Hintergrund, sind aber keine Vorschrift oder Regel für den aktuellen Flugbetrieb.

Aber schon auf planerischer Ebene gibt es zahlreiche Ausnahmen. Viele ATS-Strecken werden schon als „Einbahnstrasse“ definiert, d.h., sie können unabhängig vom Kurs in allen Höhen beflogen werden.

Bei einem Kurs, der wie die genannten 4° um den Grenzwert von 359°/0° pendelt, wäre es völlig unrealistisch, bei jedem „Knick“ die Flughöhe abhängig von der Halbkreisflugregel zu ändern.

Nächster Punkt: Wenn die Route normalerweise eher westlich läuft, kann es trotzdem sein, dass z.B. durch eine Abkürzung oder einen anderen Radarvector, ein mehr östlicher Kurs herauskommt. Auch dies kann kein Grund sein, die Flughöhe zu ändern.

Man kann also auf keinen Fall sagen, dass eines der Flugzeuge in einer „falschen“ Höhe flog, auch wenn es „falsch“ und tragisch war, dass beide Flugzeuge in der gleichen Höhe und an der gleichen Position waren.

Gruss

Ronald
www.atcnet.de

1 Like

Hi,

Laut http://www.bfu-web.de/berichte/02_ax001dst.pdf

danke für den Link. Der Unfall erschien mir erschreckend nahe als ich diesen Bericht las.

Etwas verstehe ich aber nicht, vielleicht kann mir das jemand erklären:

In dem o.g. Bericht steht: „Unittelbar darauf informiert der Radarlotse [die Tupolew], dass sich anderer Flugverkehr in der „2-Uhr-Position“ in FL360 befinden würde“
Laut Karte befand sich die Boeing aber links von der Tupolew. Ist das ein Lotsenfehler gewesen oder bedeutet „2-Uhr“ nicht von rechts-vorne?

Dann würde mich noch folgendes interessieren: lt. des Berichts war die Boeing bis kurz vor dem Aufprall auf den Boden noch in „einem Stück“. Könnte man theoretisch so eine Maschine bei der (angenommen) nur das Seitenruder fehlt noch irgendwie steuern und vielleicht sogar noch durch eine Notlandung „heil“ zur Erde bringen?

Oder bring so ein Crash die System i.A. komplett zum erliegen?

Grüße,
J~

Hallo,

das mit der 2-Uhr war wohl ein Fehler des Lotsen (wenn es so war), also so wie das Verwechseln von Rechts/Links oder Ost/West.

Bei einer so schweren Beschädigung kann man wohl keine allgemeingültige Aussage machen.
Vielleicht solltest Du Dir da mal einige Vorfälle aus der Vergangenheit ansehen:

Gruss

Ronald
www.atcnet.de

Hallo,

Du hast Recht wenn Du monierst daß bei meinem Posting zu sehr der Eindruck entsteht daß aufgrund der Halbkreisregeln jemand auf dem falschen FL gewesen sein könnte. Ich hab’ zwar geschrieben „einfach erklärt und ohne Ausnahmen zu beachten“, aber das leitet doch auf die falsche Spur.

Danke für den Einwand!

Gruß,

MecFleih :smile:

Hi,

In dem o.g. Bericht steht: „Unittelbar darauf informiert der
Radarlotse [die Tupolew], dass sich anderer Flugverkehr in der
„2-Uhr-Position“ in FL360 befinden würde“
Laut Karte befand sich die Boeing aber links von der Tupolew.
Ist das ein Lotsenfehler gewesen oder bedeutet „2-Uhr“ nicht
von rechts-vorne?

Du hast wirklich gut aufgepaßt :smile: In der Tat ist hier ein zusätzlicher Lotsenfehler passiert, der aber meistens aufgrund der anderen Unfallursachen nicht weiter beachtet wird. Die Frage ist auch ob dieser Irrtum den Unfallablauf beeinflußt hat… wahrscheinlich nicht maßgeblich.

Abgebrochenes Seitenruder führten in der Vergangenheit meistens zum Absturz.
So geschehen bei einem Airbus A300 kurz nach dem Start in New York 2001 - damals haben Turbulenzen einer vorrausfliegenden Maschine den Piloten zu starken Rechts/Links-Seitenruder-Ausschlägen bewogen, die dann die Struktur des Seitenruders überlastet haben (Stichwort PIO -> Schwingungen, die sich aufschaukeln) und es dann haben abbrechen lassen.
1985 hat ein Jumbo von Japan Air Lines auch einen Teil des Seitenruders verloren nachdem das hintere Druckschott „explodiert“ ist. Daraufhin ging die komplette Hydraulik weg und irgendwann ist man mangels Kontrolle über das Flugzeug gegen einen Berg geprallt. Man hat die Maschine damals mittels Engine Thrust zu steuern versucht und das hat auch eine Weile lang geklappt. Allerdings war in diesem Fall AFAIK auch nur ein Teil des Seitenruders weggebrochen.

Schönen Gruß,

MecFleih

Hallo,

bei der DC10 in Sioux City war aber das Seitenleitwerk weiterhin vorhanden, also auch aerodynamisch wirksam. Das Problem bestand damals darin daß ein winzig kleiner Fehler in den Triebwerksschaufeln von Engine #2, also dem im Seitenleitwerk integrierten Triebwerk, die Hydraulik für das nahegelegene Seiten- und Höhenruder zerstört hat und damit die komplette Hydraulik außer Gefecht gesetzt hat. Die Piloten haben es damals in einer Glanzleistung geschafft die Maschine nur mittels Engine Thrust der beiden an den Flügeln vorhandenen Triebwerke zu steuern. Man hat diese Situation später sehr oft im Simulator nachfliegen lassen und AFAIK hat es kaum jemand geschafft ebenfalls halbwegs glimpflich zu landen.

Der A300 von DHL hatte schwere Beschädigungen am Flügel und am Querruder und nach den Bildern, die ich seinerzeit gesehen habe, wundert man sich wirklich wie sich der Flieger mit einer so schweren Beschädigung noch in der Luft hat halten können. Auch hier gab es wieder einen Hydraulik-Ausfall, allerdings war das Seitenleitwerk unbeschädigt.

Die beiden mir bekannten Fälle, in denen Flugzeuge ihr Seitenleitwerk eingebußt haben sind der von Dir erwähnte A300 und eine 747 in Japan, 1985. In beiden Fällen endete der Abbruch des Seitenleitwerks mit Abstürzen.

Bei der 747 ist eine fehlerhafte Reparatur des hinteren Druckschotts Schuld gewesen. Das Ding ist im Flug zerborsten, dabei wurde die Hydraulik im Heck der Maschine beschädigt und das halbe Seitenleitwerk brach ab. Man hat zwar versucht mittels Engine Thrust zu steuern, ist aber schließlich in einen Berg gekracht.

Der Airbus A300 ist zu knapp hinter einer 747 gestartet und in Wirbelschleppen geraten. Der PF, in diesem Fall der First Officer, hat mit maximalen Seitenruder-Ausschlägen gegengehalten und dabei ist etwas passiert, was man PIO, „Pilot Inducted Oscillation“, nennt. Das Problem entsteht wenn man mehrmals hintereinander Vollausschläge in entgegengesetzte Richtungen verursacht. Da können Schwingungen entstehen und Kräfte wirksam werden, die weit stärker sind als das, was bei einmaligem Vollausschlag in eine Richtung anliegen würde und verkraftbar wäre. So aber „schaukelt sich eine Schwingung auf“, und wenn dann ein weiterer Vollausschlag genau entgegen der Schwingung, möglicherweise zusätzlich zu Einflüssen durch die Massenträgheit des Flugzeugs, auftreten kann das die Struktur des Leitwerks überlasten - und es bricht ab. Das ist in diesem Fall geschehen.

Schönen Gruß,

MecFleih

PS: Ich bin regelmäßiger Gast Deiner Seite, lese sehr gerne im Forum mit und wünsche Dir und Deinen Kollegen daß ihr der DFS-Geschäftsführung mit der GdF „Feuer unter dem Hintern“ machen könnt!

Hallo,

der abschließende Bericht der BFU wurde nun heute (19.05.04) veröffentlicht. Eine Zusammenfassung, die im wesentlichen die in diesem Thread geäußerten Stellungnahmen bestätigt, findet sich z.B. bei Reuters:

http://reuters.notlong.com

Gruß