Hallo Candide,
ich gebe dir in fast allem Recht und sehe mich auch gar nicht kritisiert, denn die Position, die du bekämpfst, ist gar nicht meine.
Wenn jemand etwas getan hat, das gegen die Gesetze verstößt
(in denen sich unsere gesellschaftlichen Normen
widerspiegeln), dann ist es sinnvoll, etwas zu unternehmen, um
die Gesellschaft vor diesem Menschen zu schützen und zu
versuchen, sein Verhalten zu korrigieren. Je nachdem wie seine
mentalen und emotionalen Voraussetzungen sind, fällt dieser
Freiheitsentzug und die Korrektur anders an. Mancher kommt ins
Gefängnis, ein anderer in die geschlossene Anstalt.Dieser, ich nenn es mal, totalitäre Utilitarismus lässt mich
allerdings nicht weniger erschaudern.
Das, was ich beschreibe, ist doch aktuelle Wirklichkeit.
Der Richter sperrt einen Verbrecher ein, um die Gesellschaft zu schützen und ihn zu bessern, d.h. zu korrigieren.
Die mentalen und emotionalen Vorraussetzungen werden mit dem Feststellen der Schuldfähigkeit und dem Erwägen mildernder Umstände geprüft. Bei einem Jugendlichen, z.B., sind die emotionalen Voraussetzungen nicht gegeben, ihn viele Jahre ins Gefängnis zu schicken.
Und ob Gefängnis oder Anstalt wird doch gegenwärtig auch entschieden.
Wenn du das totalitär nennst, dann musst du auch die heutige Praxis totalitär nennen.
Solche Logik des ‚Défendre la Société‘, um es mit einem
Buchtitel Foucaults zu sagen, hat schon auch seine
barbarischen Zügen:
- die Gesellschaft kann nie genug genug geschützt sein.
- es ist daher immer sicherer, wenn einer weggesperrt ist als
wenn er wieder frei ist.- die Maxime des Technokraten/Gutachters, den diese Logik an
die Stelle des Richters setzt, ist die Fehlerminimierung - und
zwar aus prinzipiellen Gründen nur in eine Richtung, nämlich
in die, jemanden fälschlich nicht mehr weggesperrt zu
haben. Den beta-Fehler, jemanden fälschlich unnötig lange
weggesperrt zu haben, schließt diese Logik grundsätzlich aus,
denn dafür kann kein den Irrtum erweisendes Ereignis
auftreten.
Alles richtig. Dieses Problem besteht aber aktuell auch.
Lies mal genau was ich geschrieben habe: Nichts davon bedeutet einen praktischen Unterschied zum gegenwärtig herrschenden System. In meiner Darstellung sind nur die Sprechweise und die dahinterstehende Theorie anders.
Die alte Logik von Strafe-Schuld-Richterspruch-Sühne, das hat
schon auch seine humanen, und Grausamkeits-begrenzenden
Seiten, wenn die Strafe in der Tat selbst begründet ist.
Insofern halte ich diese utilitaristische Position (die ich
dir jetzt zugegeben ein gutes Stück weit einfach unterstelle,
um meine Position darstellen zu können) für einen grandiosen
historischen Rückfall hinter das angeblich ach so
archaisch-grausame Talionsprinzip, dessen Funktion durchaus
die Strafbegrenzung ist.
Ah, was dich stört, ist, dass ich den Menschen auf sein Funktionieren in der Gesellschaft reduziere. Bei dir richtet sich die Strafe nach der Tat, bei mir richtet sie sich nach dem Menschen. Das also ist des Pudels Kern deiner Kritik, richtig?
Ich gebe zu, dass meine Ausführungen diesen Verdacht nahelegen. Allerdings habe ich nichts dagegen, das Strafmaß (Korrekturmaß) an der Tat auszurichten. Dennoch würde ich die Individualität des Täters immer berücksichtigen, so wie es gegenwärtig meistens auch geschieht, indem man Faktoren wie Niedertracht, Heimtücke, Reue usw. mit in das Strafmaß einfließen lässt.
Wenn der Richter heute sagt, der Angeklagte sei schuldig, dann
müsste er künftig sagen, der Angeklagte habe dieses oder jenes
Fehlverhalten gezeigt und werde dieser und jener Korrektur
unterzogen.Nein, das ist dann kein Richter mehr, sondern ein
Gutachter (Kriminologe, Psychologe), der ständig den
Erfolg der Korrektur evaluieren müsste.
Es hat was Humanes, wenn dem Verbrecher seine Schuld
mitgeteilt wird und eine klar definierte Sühne auferlegt wird.
Zwanzig Jahre etwa.
Aber dagegen sage ich doch gar nichts. Ich will nur die Begriffe Schuld durch Fehlverhalten und Strafe durch Korrektur ersetzen.
Es hat etwas sehr Grausames, wenn sein Schicksal vollständig
in die Hand eines Gutachters gelegt wird, der ihn
möglicherweise nie für ‚gezähmt‘ erklären wird.
Richtig.
Es ist krass, wenn sich heute Menschen selbst kastrieren
lassen als wären sie Straßenköter, um der
Sicherheitsverwahrung zu entgehen.
Hier verurteilst du Menschen in deren Haut du nicht steckst.
Tychi