Freud: zwangsneurotische Verhaltensweisen?

Hallo:smile:
Behandle gerade den Freudschen Standpunkt
zum Thema glaube Religion.
Freud sieht Religion als Zwangsneurose und als infantile Illusion.
Nun wollte ich fragen, welche zwangsneurotischen Verhaltensweisen der Mensch hat in einem Gottesdienst zum Beispiel???

Hallo,

z.B. die Augen vor etwas verschliessen, was man nicht
wahrhaben will:

A: Annahme es gibt keinen Gott.

Ein Gläubiger kniet vor einem nichtexistenten,
imaginären Begriff, weil er nicht ertragen kann,
dass er sterblich ist.

B: Annahme es gibt einen Gott.

Ein Atheist schüttelt sich den Kopf, weil er nicht
ertragen kann, dass dieser kriechende Wurm womöglich
Recht behalten könnte.

Wäre deine Frage nicht besser im Psychologieforum
aufgehoben?

Gruß
Powenz

Nun wollte ich fragen, welche zwangsneurotischen
Verhaltensweisen der Mensch hat in einem Gottesdienst zum
Beispiel???

Es gibt Leute, die im Gottesdienst Fingernägel kauen oder die Ziegel in der Kirchenwand zählen, aber vielleicht solltest du im Psychologiebrett fragen.

Gruß
Torsten

Hallo.

Freud sieht Religion als Zwangsneurose und als infantile
Illusion.

Ich habe mich nie mit seinem Bild von Religion beschäftigt, allerdings frage ich mich, ob er diese wirklich als Zwangsneurose einordnete und nicht nur als Neurose. Denn mir will kein zwanghaftes Verhalten einfallen, welches dann auch noch zu Angstzuständen usw. führt.

Aber vielleicht ist es eine Zwangsneurose von Atheisten, religiöses Denken und Handeln als Krankheit, als Störung anzusehen? Zumindest hier wollen mir doch einige zwanghafte Muster einfallen. Beispielsweise die Idee, dass man auf G’tt vertraut, weil man Angst vor dem Tod hat. Einen religiösen Menschen habe ich dergleichen noch nie sagen hören, nichts desto trotz wird dieses gerne behauptet. usw.

Gruss,
Eli

Freud: zwangsneurotische Verhaltensweisen?
Hallo,

Freud sieht Religion als Zwangsneurose

das ist so reichlichst vergröbert bzw. Unsinn. Es wäre hilfreich, Freud selbst zu lesen und nicht lesen zu lassen. Freud vergleicht neurotische Zwangshandlungen und liturgisch-religiöse zeremonielle Handlungen und meint, dabei Ähnlichkeiten feststellen zu können. Er schließt daraus, dass Ergebnisse, die aus der Untersuchung des ‚neurotischen Zeremoniells‘ gewonnen werden können, Analogieschlüsse auf religiöse Befindlichkeiten zulassen (Zwangshandlungen und Religionsübungen, 1907). Zwischen Analogie und Identität besteht ein nicht gerade unerheblicher Unterschied.

und als infantile
Illusion.

Das sollte man ebenfalls etwas differenzierter betrachten - vor allem in Hinsicht drauf, was Freud unter einer „infantilen Illusion“ versteht. Auch hier geht Freud von einer Analogie aus, nämlich der zwischen der Übermacht der Natur einerseits und der vom Kind erfahrenen elterlichen Übermacht andererseits. Religion wird mithin von ihm als eine ins Erwachsenenalter übertragene infantile Illusion interpretiert, da sie auf dem Muster kindlicher ambivalenter Gefühle (Furcht vor und Vertrauen in die Macht der Eltern, insbesondere des Vaters) aufbaut. ‚Illusion‘ steht bei Freud nicht für eine Selbsttäuschung, sondern Charakteristikum der Illusion ist bei Freud schlicht die Ableitung aus Wünschen (Die Zukunft einer Illusion, 1927).

Nun wollte ich fragen, welche zwangsneurotischen
Verhaltensweisen der Mensch hat in einem Gottesdienst zum
Beispiel???

Es gibt sicherlich Menschen, deren rituelle gottesdienstliche Handlungen Ausdruck einer Zwangsneurose sind. Das heisst nicht, dass das grundsätzlich so ist. Da Du angibst, den „Freud’schen Standpunkt“ derzeit zu behandeln, empfehle ich Dir dringend die Lektüre der oben erwähnten Abhandlung von 1907 (Gesammelte Werke, 4. Auflage 1966, Bd. VII, S. 127 - 139). Sie ist nicht sehr umfangreich und kann Dir besser und präziser Auskunft geben als man es hier im Brett könnte.

Eine grundsätzliche Anmerkung noch - natürlich ist Deine Anfrage hier im Brett Religionswissenschaft richtig plaziert, auch wenn Freud trotz seiner durchaus interessanten Thesen nur ein religionswissenschaftlicher Amateur war. Allenfalls wäre es evt. sinnvoll, sich betreffs des Begriffs ‚Zwangsneurose‘ im Psychologiebrett kundig zu machen. Auch da ist es so, dass zwar viele zu wissen glauben , was Freud darunter verstanden hat - dieser Glaube aber nicht notwendig zutreffend ist.

Freundliche Grüße,
Ralf

Freud über Religion als Neurose
Hi Ralf.

Freud sieht Religion als Zwangsneurose

das ist so reichlichst vergröbert bzw. Unsinn.

In „Zwangshandlungen und Religionsausübungen“ (1907) wertet Freud Religion wörtlich und ohne Zwischenschaltung des Analogischen als „universelle Zwangsneurose“ (GW, 1963, VII, 139), indem er „die Neurose als eine individuelle Religiosität, die Religion als eine universelle Zwangsneurose“ bezeichnet.

Gruß

Horst

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Hallo Tychiades,

Freud sieht Religion als Zwangsneurose
das ist so reichlichst vergröbert bzw. Unsinn…
Zwischen Analogie und Identität besteht ein nicht gerade
unerheblicher Unterschied.

du magst darin einen analogen Schluss sehen,
nur ist der ontologische Fakt zwischen der
daseinsbegründenden Eltern-Kind Beziehung
und dem psychisch sublimierten Kohärenzprinzip göttlicher
Schöpfung nicht zu leugnen. Und das ist nun wahrlich
keine Analogie, sondern eine philosophische,
erkenntnistheoretische Frage.

‚Illusion‘ steht bei Freud
nicht für eine Selbsttäuschung, sondern Charakteristikum der
Illusion ist bei Freud schlicht die Ableitung aus Wünschen
(Die Zukunft einer Illusion, 1927).

Ist diese Illusion nur eine scheinbare und ein
weiterer Schritt des Weges der docta ignorantia
und des draus resultiernden coincidentia oppositorum?
Weiter unten frage ich dich nach der Kommensurabilität
zwischen religionswissenschaftlicher und psychologischer
Sicht, dem greife ich hier ein wenig vor und setze hier
einen Marker, weil mir dies als der neuralgische Punkt
erscheint.

Eine grundsätzliche Anmerkung noch - natürlich ist Deine
Anfrage hier im Brett Religionswissenschaft richtig plaziert,

natürlich ist sie das NICHT, es sei denn du kannst begründen,
unter welchen Gesichtspunkten Religionswissenschaft
und Psychologie kommensurabel sind.
Die Intention des Fragestellern aber hat hier Priorität,
böse Zungen könnten behaupten, jemand der sich in ein
Board einloggt und gleich eine solche provokative Frage
stellt, könnte gewisse suggestive, rhetorische Absichten
hegen.

auch wenn Freud trotz seiner durchaus interessanten Thesen nur
ein religionswissenschaftlicher Amateur war.

Das ist doch der Punkt, Freud betrachtet das aus psychologischer
Sicht und nicht religionswissenschaftlich. Eine wirklich
interessant Frage, der man aber stringent nur dann nachgehen
kann, wenn man sich nicht in contradiktorische Positionen
begibt, solange die Realrepugnanz nicht ausgeräumt
ist und der vorerst hypothetische Zustand des,
wie schon erwähnt, coincidentia oppositorum erreicht ist.

Wissenschaft und Glaube schliessen sich nicht zwangsläufig
aus, nur bleibt die Spekulationsfrist, das Fehlen der
conditio-sine-qua-non-Formel.

Gruß
Powenz

Hallo Horst,
und was bitteschön soll man sich unter einer „universellen Zwangsneurose“ konkret vorstellen? Das ist ein überspitzes Bonmot, eine reichlich überstrapazierte Metapher, sonst nichts. Etwas, das „universell“ ist, kann kaum pathologisch sein; es kann nicht einmal ‚normal‘ in dem Sinne sein, dass Ausnahmen davon denkbar wären. Etwas universell Gegebenes (oder auch nur als solches Deklariertes) als zwangsneurotisch und damit pathologisch zu charakterisieren, scheint mir auch nicht gerade auf geistige Gesundheit schließen zu lassen …

Und auch die umgekehrte Anwendung - die pathologische Form ‚Zwangsneurose‘ als ‚individuelle Religiosität‘ zu bezeichnen, ist zweifellos originell, aber dennoch nicht mehr als eine sicherlich griffige und (gewollt) provokante, in jedem Fall jedoch überspitzte Reduzierung und Simplifizierung von Freuds These - wenn auch von ihm selbst stammend. Und mehr soll eben dieses Zitat mE auch nicht sein. Wie schon gesagt, lesen und nicht lesen lassen - dann wird schon deutlich, wie das Freud tatsächlich gemeint hat.

Das, was der Essay tatsächlich aussagt und argumentativ zu belegen sucht, ist deutlich bescheidener wenn auch brisant genug - nämlich dass Religion als kollektive (‚universelle‘) Erscheinung ein Analogon - wenn man will die kollektive Entsprechung - zur individuellen Zwangsneurose ist. Nun mögen kollektive Zwangsneurosen noch im Bereich des Vorstellbaren liegen, auch wenn es sich dabei strenggenommen nie um mehr als um eine wie auch immer definierte Gruppe von Individuen mit gleichartigen individuellen Neurosen handeln kann. Ein Kollektiv ist immer ein Abstraktum; Abstrakta haben keine Neurosen. Wenn man nun gar von einer ‚universellen Zwangsneurose‘ spricht, dann hat man den Begriff der Neurose über den Bereich hinaus, wo er sinnvoll anwendbar ist, ausgedehnt.

Freundliche Grüße,
Ralf

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Hallo Powenz
in Frage steht hier nicht, wie ich das sehe, sondern was Freud in ‚Zwangshandlungen und Religionsübungen‘ und in ‚Die Zukunft einer Illusion‘ tatsächlich schreibt.

Eine grundsätzliche Anmerkung noch - natürlich ist Deine
Anfrage hier im Brett Religionswissenschaft richtig plaziert,

natürlich ist sie das NICHT, es sei denn du kannst begründen,
unter welchen Gesichtspunkten Religionswissenschaft
und Psychologie kommensurabel sind.

Ich mach’s mir einfach: http://de.wikipedia.org/wiki/Religionspsychologie

böse Zungen könnten behaupten, jemand der sich in ein
Board einloggt und gleich eine solche provokative Frage
stellt, könnte gewisse suggestive, rhetorische Absichten
hegen.

Dieser Verdacht ist in der Tat nicht allzu abwegig.

Freundliche Grüße,
Ralf

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Hallo Tychiades,

http://de.wikipedia.org/wiki/Religionspsychologie

OK! :smile: Dann einigen wir uns auf das Brett
Religionspsychologie!

Viele Grüße
Powenz

kurzer Auszug
aus der Brettbeschreibung:

Dieses Brett ist Fragen aus dem Umfeld folgender Wissenschaftsgebiete vorbehalten:

Religionswissenschaft mit den Teilgebieten:
[…] Religionspsychologie …

Lieber Tychiades,

Dieses Brett ist Fragen aus dem Umfeld folgender
Wissenschaftsgebiete vorbehalten:

Religionswissenschaft mit den Teilgebieten:
[…] Religionspsychologie …

das ist mir durchaus nicht entgangen, deshalb habe ich
dir auch explizit zugestimmt. Meine erste Assoziation war:
„Exorzismus“, vielleicht verstehst du meine Bedenken?
Deshalb fragte ich dich ausdrücklich unter welchen
Gesichtspunkten Religionswissenschaft und Psychologie
kommensurabel sind und was man ggf. ausschließen sollte.

Und selbstverständlich hat das nichts mit dir persönlich
zu tun, wie du selbst angedeutet hast geht es hier um
Freuds Verständnis religiöser Vorgänge und nicht um deine.
Ich schreibe hier aus rein egoistischen Gründen, eine
Auseinandersetzung mit dir erschien mir interessant
und vielleicht fruchtbar, deshalb habe ich dich ein
wenig provoziert.

Aber dieses Medium gibt wohl leider nicht mehr her.

Viele Grüße
Powenz

Legitimer Schluss von Analogie auf Identität
Hi Ralf.

und was bitteschön soll man sich unter einer „universellen Zwangsneurose“ konkret vorstellen?

Einfach das, dass Religion ein universelles Phänomen ist – also in allen bekannten Kulturen präsent – und zugleich (für Freud) den Charakter des Zwangsneurotischen hat (wobei er sich meines Wissens nur auf Juden- und Christentum bezieht). Aus „Religion ist universell“ und „Religion ist eine Zwangsneurose“ folgt für ihn: „Religion ist eine universelle Zwangsneurose“.

Etwas, das „universell“ ist, kann kaum pathologisch sein; es kann nicht einmal ‚normal‘ in dem Sinne sein, dass Ausnahmen davon denkbar wären.

Mordlust und Sadismus sind universelle Erscheinungen (in allen Kulturen und potentiell bei jedem Individuum auffindbar), aber pathologisch. Das wäre zumindest die schwache Version von Universalität.

Das, was der Essay tatsächlich aussagt und argumentativ zu belegen sucht, ist deutlich bescheidener wenn auch brisant genug - nämlich dass Religion als kollektive (‚universelle‘) Erscheinung ein Analogon - wenn man will die kollektive Entsprechung - zur individuellen Zwangsneurose ist.

Es ist richtig, dass Freud in seinem Text viel von „Ähnlichkeiten“, „Übereinstimmungen“ und „Analogien“ redet, dann aber heißt es:

„Nach diesen Übereinstimmungen und Analogien könnte man sich getrauen, die Zwangsneurose als pathologisches Gegenstück zur Religionsbildung aufzufassen, die Neurose als eine individuelle Religiosität, die Religion als eine universelle Zwangsneurose zu bezeichnen.“

(aus Freud-Lesebuch, Zwangshandlungen und Religionsausübungen, 127-128)

Freud wagt also an dieser Stelle den Schritt vom Analogischen zum Identifizierenden. Dieser Schluss scheint zumindest von der Wissenschaftslogik her gerechtfertigt – er ist, in dieser Form, eine Hypothese, die Freud zuvor mit mehreren Beispielen (Übereinstimmungen, Analogien usw.) zu belegen versucht.

Nun mögen kollektive Zwangsneurosen noch im Bereich des Vorstellbaren liegen, auch wenn es sich dabei strenggenommen nie um mehr als um eine wie auch immer definierte Gruppe von Individuen mit gleichartigen individuellen Neurosen handeln kann. Ein Kollektiv ist immer ein Abstraktum; Abstrakta haben keine Neurosen.

Für Freud waren Kollektive („Massen“) aber relativ eigenständige „Wesen“: die Masse ist, so Freud, ein "provisorisches Wesen, das aus heterogenen Elementen besteht, die sich für einen Augenblick miteinander verbunden haben“ (Massenpsychologie und Ich-Analyse). Der Einzelne identifiziert sich dabei mit den Anderen in der Masse und hat zum Führer die Beziehung der Idealisierung. Nichts anderes findet auch im Christentum statt, wo die Idealisierung der Christusfigur ja nun wirklich ins Auge sticht.

Insofern spricht nicht viel dagegen (sofern man Freud überhaupt folgt), im Falle der von Freud angezielten Religionen von „neurosefähigen“ Kollektiven zu sprechen.

Gruß

Horst

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das Konzept der ‚Schiefheilung‘
Hallo!

Freud sieht Religion als Zwangsneurose

das ist so reichlichst vergröbert bzw. Unsinn. Es wäre
hilfreich, Freud selbst zu lesen und nicht lesen zu lassen.
Freud vergleicht neurotische Zwangshandlungen und
liturgisch-religiöse zeremonielle Handlungen und meint, dabei
Ähnlichkeiten feststellen zu können. Er schließt
daraus, dass Ergebnisse, die aus der Untersuchung des
‚neurotischen Zeremoniells‘ gewonnen werden können,
Analogieschlüsse auf religiöse Befindlichkeiten
zulassen (Zwangshandlungen und Religionsübungen, 1907).
Zwischen Analogie und Identität besteht ein nicht gerade
unerheblicher Unterschied.

Gerade wenn man solche Freud-Stücke im Kontext seines Oeuvres verstehen soll (und nur das kann „Freud selbst lesen, nicht lesen lassen“ sinnvollerweise meinen), dann kann man hier sicher nicht von einer bloßen „Analogie“ zwischen Neurose und Religion sprechen - aber natürlich auch nicht von Identität, das steht außer Frage.

Ein nettes Bindeglied, das Freud etwa in der „Massenpsychologie“ heranzieht, ist das Konzept der „Schiefheilung“. Das meint, dass durch libidinöse Bindung an Großgemeinschaften, darunter eben die Religionsgemeinschaften, einer individuell ausgeprägten Neurose vorgebeugt werden kann. Also: Religion statt Neurose(ausbruch)

Das wäre dann also aus der Sicht des Schiefheilungskonzepts weder eine identische noch eine analogische Beziehung zwischen Religion und Neurose, sondern eine funktionale.

Dazu postuliert er an mehreren Orten, z.B. in den Bemerkungen über einen Fall von Zwangsneurose (der Falldarstellung des „Rattenmanns“), dass Neurose, hier sogar speziell die Zwangsneurose, auf dem gleichen infantilen Substrat beruht wie die Religion: der Allmacht der Gedanken, welche der moderne Religiöse Gott zuschreibt wie sie der Zwangsneurotiker nach außen projiziert und als Gedankeneinfall erlebt.
Auch hier weder Identität noch Analogie, sondern ein genetischer* Zusammenhang.

* im psychoanalytischen Sinne des Wortes auf die psychosexuelle Entwicklung bezogen

_ ℂ Λ ℕ Ð I Ð € _

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Legitimer Schluss von Analogie auf Identität???
Hallo Horst,
dankenswerterweise zitierst Du Freud selbst, wobei ich mich frage, was gerade an diesem Zitat eigentlich misszuverstehen ist:

„Nach diesen Übereinstimmungen und Analogien (sic!) könnte man sich getrauen, die Zwangsneurose als pathologisches Gegenstück zur Religionsbildung aufzufassen“

Bitte genau lesen. „man(!) könnte“ - das ist ein Konjunktiv, d.h. Freud selbst tut dies nicht. Aber von besonderem Interesse ist hier der Ausdruck „pathologisches Gegenstück“, was nichts anderes heisst, als dass Freud

  1. zwar der Zwangsneurose, nicht aber der „Religionsbildung“ einen pathologischen Charakter zuspricht und
  2. es sich eben nicht um Identisches, sondern um „Gegenstücke“ handelt.

Dass Freud hier methodologisch mehr als zweifelhaft vorgeht, nämlich auf Grund partieller phänotypischer „Übereinstimmungen und Analogien“ ohne weitere Begründung eine Wesensverwandtschaft postuliert (besonders auf religionswissenschaftlichem Gebiet äußerst problematisch), sei hier nur am Rande angemerkt. Doch nein, ich übertreibe - Freud postuliert das ja nicht, er behauptet lediglich, man könnte sich getrauen , so etwas zu postulieren. Freud ist durchaus nicht so schnell bei der Hand, aus „Übereinstimmungen und Analogien“ auf eine Identität zu schließen wie Du ihm unterstellst. Dass so etwas eben nicht „legitim“ ist, dürfte ihm durchaus bewusst gewesen sein. Hier nochmals der Hinweis, gewisse ohnehin schon provokante und polemisch überspitzte Formulierungen doch bitte nicht zu verkürzen und zu simplifizieren und dann schlicht als Quintessenz von Freuds Argumentation auszugeben.

Zurück zur Formulierung „pathologisches Gegenstück“. Einmal davon abgesehen, dass das Pathologische ein entscheidendes Charakteristikum der zwangsneurotischen Symptomatik ist und man bei Fehlen gerade dieses Merkmals wohl kaum von einer ‚Identität‘ sprechen kann, so ist es gerade dieser Punkt, um den es mir in meiner Antwort auf den UP ging. Nämlich, dass dem unbefangenen Leser, der mit Freuds Text nicht vertraut wird, durch ein zwar griffiges aber aus dem Kontext gerissenes und vermutlich auch nicht einmal halb verstandenes Pseudo-Zitat vorgegaukelt wird, Freud habe Religion als pathologische Erscheinung bezeichnet. Eben dies hat er gerade nicht.

Darauf, dass bei Freud auch ‚infantile Illusion‘ nicht gleichzusetzen ist mit ‚kindische Einbildung‘ - dieser Eindruck liegt bei jemandem nahe, der nur mit dem heutigen umgangssprachlichen Gebrauch der Begriffe ‚infantil‘ und ‚Illusion‘ vertraut ist - hatte ich ja bereits hingewiesen. Das liegt auf genau der gleichen Linie, nämlich Freud eine Art von Religionskritik zu unterstellen, die in solcher Primitivität seiner unwürdig gewesen wäre. Mir geht es hier allenfalls am Rande um Verteidigung der Religion gegen Freuds Kritik - mir geht es mehr um die Verteidigung Freuds gegen wohlfeile Instrumentalisierung seines Namens.

Freundliche Grüße,
Ralf

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Freud über Pathologisches im Religiösen
Hi Ralf.

Freud-Zitat: „Nach diesen Übereinstimmungen und Analogien (sic!)könnte man sich getrauen, die Zwangsneurose als pathologisches Gegenstück zur Religionsbildung aufzufassen“
Bitte genau lesen. „man(!) könnte“ - das ist ein
Konjunktiv, d.h. Freud selbst tut dies nicht.

Er tut es nicht direkt, aber vielleicht indirekt, indem er eine Aussage in einen Konjunktiv verkleidet. Immerhin ist die These, Religion sei generell neurotisch, nicht gerade frei von beleidigendem Potential (gegenüber Gläubigen), also Grund genug, die These diplomatisch zu verpacken.

Wäre es so, wie du meinst, dann verstünde ich nicht, warum Freud überhaupt den Vergleich bzw. die Gleichsetzung wagt. Nur als ein abstraktes Gedankenspiel und Stoff für akademische Debatten? Nein, ich denke, es ist, wie ich ja schrieb, eine klare und ausführlich begründete Hypothese, und eine solche kann man konjunktivisch formulieren.

Aber von
besonderem Interesse ist hier der Ausdruck „pathologisches
Gegenstück“, was nichts anderes heisst, als dass Freud

  1. zwar der Zwangsneurose, nicht aber der „Religionsbildung“
    einen pathologischen Charakter zuspricht und
  2. es sich eben nicht um Identisches, sondern um
    „Gegenstücke“ handelt.

Freud hat 12 Jahre nach jenem Text das Thema wiederaufgenommen (Vorrede zu Reiks „Probleme der Religionspsychologie“ in: Der Mann Moses und die monotheistische Religion, Frankfurt 1989, 16) und schreibt:

„Das Zeremoniell und die Verbote des Zwangsneurotikers nötigen uns zum Urteil, er habe sich eine Privatreligion geschaffen, und selbst die Wahnbildungen der Paranoiker zeigen eine unerwünschte äußere Ähnlichkeit und innere Verwandtschaft mit den Systemen unserer Philosophen. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass hier der Kranke in asozialer Weise doch dieselben Konflikte und Beschwichtigung ihrer drängenden Bedürfnisse unternehmen (so steht es in der zitierten Quelle - H.Tr.), die Dichtung, Religion und Philosophie heißen, wenn sie in einer für eine Mehrzahl verbindlichen Weise ausgeführt werden.“

Das weist nochmals hinreichend auf die für Freud pathologische Natur des Religiösen hin. Das mit dem „pathologischen Gegenstück“ heißt vermutlich nicht, n u r das Gegenstück sei pathologisch. Freud drückte sich einfach vorsichtig und „über die Bande“ aus.

Nämlich, dass
dem unbefangenen Leser, der mit Freuds Text nicht vertraut
wird, durch ein zwar griffiges aber aus dem Kontext gerissenes
und vermutlich auch nicht einmal halb verstandenes
Pseudo-Zitat vorgegaukelt wird, Freud habe Religion als
pathologische Erscheinung bezeichnet. Eben dies hat er gerade
nicht.

Ich finde, das hat er durchaus. Siehe das obige Zitat. Wer so hartnäckig Beziehungen zwischen Pathologischem und Religiösem auflistet, hält Religiosität natürlich selbst für pathologisch.

Darauf, dass bei Freud auch ‚infantile Illusion‘ nicht
gleichzusetzen ist mit ‚kindische Einbildung‘ - dieser
Eindruck liegt bei jemandem nahe, der nur mit dem heutigen
umgangssprachlichen Gebrauch der Begriffe ‚infantil‘
und ‚Illusion‘ vertraut ist - hatte ich ja bereits
hingewiesen.

Religiosität war für Freud Symptom einer unzureichenden Aufarbeitung des Ödipuskomplexes. Wer religiös ist, ist für Freud regressiv, und Regression ist ein pathologischer Mechanismus.

Gruß

Horst

Hi Horst,

Freud-Zitat: „Nach diesen Übereinstimmungen und Analogien (sic!)könnte man sich getrauen, die Zwangsneurose als pathologisches Gegenstück zur Religionsbildung aufzufassen“

Bitte genau lesen. „man(!) könnte“ - das ist ein
Konjunktiv, d.h. Freud selbst tut dies nicht.

Er tut es nicht direkt, aber vielleicht indirekt, indem er

eine Aussage in einen Konjunktiv verkleidet. Immerhin ist die
These, Religion sei generell neurotisch, nicht gerade frei von
beleidigendem Potential (gegenüber Gläubigen), also Grund
genug, die These diplomatisch zu verpacken.

nun lass dich mal nicht ganz aus dem Konzept
bringen! Auch begriffliche Haarspalterei hat
lediglich rhetorische und keine substantielle
Funktion! Dass Freud der Religion gegenüber
ambivalent eingestellt war, lässt sich auch
eloquenterweise nicht wirklich leugnen!

http://www.dieuniversitaet-online.at/dossiers/beitra…

usw.

@Tychiades: Religionspsychologie!

Gruß
Powenz

Wenn wir den Gottesdienst mal weglassen:
1.Durch Medien diktierte Dauer-Notgeilheit( rollige Katzen- Syndrom )
besonders ausgeprägt bei Hormonpillen- Gois
2.Modetrends von homosexuellen jüdischen Männern werden gerne von „hollywood begeisterten“ Arbeitslosen adaptiert, ohne auf die Folgen zu achten.
3.Weghören, wenn es um die Eroberung von Palästina geht… usw
Gruss George

Alternative Lesarten des Freud-Zitats
Hi Powenz.

Bitte genau lesen. „man(!) könnte“ - das ist ein Konjunktiv, d.h. Freud selbst tut dies nicht.

Er tut es nicht direkt, aber vielleicht indirekt, indem er eine Aussage in einen Konjunktiv verkleidet. Immerhin ist die These, Religion sei generell neurotisch, nicht gerade frei von beleidigendem Potential (gegenüber Gläubigen), also Grund genug, die These diplomatisch zu verpacken.

nun lass dich mal nicht ganz aus dem Konzept
bringen! Auch begriffliche Haarspalterei hat
lediglich rhetorische und keine substantielle
Funktion!

Keiner hat irgendwen aus dem Konzept gebracht. Ich versuchte nur, eine zu Ralfs Verständnis alternative Interpretation des Zitats zu begründen, von der ich glaube, dass sie dem von Freud Gemeinten näher steht.

Dass Freud der Religion gegenüber
ambivalent eingestellt war, lässt sich auch
eloquenterweise nicht wirklich leugnen!

Es geht hier aber nicht um Freuds ambivalente Haltung zur Religion, sondern um die Frage der Relation von Zwangsneurose und Religion bei Freud. Ich meine, Freud ging klar über das rein Analogische hinaus. In einer zumindest hypothetischen Weise setzte er Religion und Zwangsneurose identisch, das geht jedenfalls aus dem zentralen Zitat von der „universellen Zwangsneurose“ hervor.

Gruß

Horst

Makro- vs. Mikro-Neurose
Hi Candide.

Zwischen Analogie und Identität besteht ein nicht gerade
unerheblicher Unterschied.

Gerade wenn man solche Freud-Stücke im Kontext seines
Oeuvres verstehen soll (und nur das kann „Freud selbst lesen,
nicht lesen lassen“ sinnvollerweise meinen), dann kann man
hier sicher nicht von einer bloßen „Analogie“ zwischen
Neurose und Religion sprechen - aber natürlich auch nicht von
Identität, das steht außer Frage.

Ich habe meine wesentlichen Argumente für die Identitäts-Interpretation schon an Ralf gepostet. Hinzufügen kann ich hier noch, dass man in der Sekundärliteratur, gleich ob pro oder contra Freud, von der Identität von Neurose und Religion ausgeht, was Freud diesbezügliche Auffassung betrifft. Auch Paul Ricoeur versteht Freud so, hält ihm allerdings entgegen, dass der Vergleich Neurose vs. Religon mehr als Analogien nicht hergibt.

Ein nettes Bindeglied, das Freud etwa in der
„Massenpsychologie“ heranzieht, ist das Konzept der
„Schiefheilung“. Das meint, dass durch libidinöse Bindung an
Großgemeinschaften, darunter eben die Religionsgemeinschaften,
einer individuell ausgeprägten Neurose vorgebeugt werden kann.
Also: Religion statt Neurose(ausbruch)

Nein, nicht „Religion statt Neurose“, sondern „Kollektive Neurose statt individueller Neurose“, d a s war Freuds Auffassung. Die Makro-Neurose Religion erspart dem Individuum sozusagen die Mikro-Neurose.

Gruß

Horst