Hi zusammen.
Kann Sprache die Wirklichkeit wiederspiegeln? Oder konstruiert sie nur ein ungefähres Bild von der Wirklichkeit? Oder hat das, was sie an Vorstellungen hervorruft, überhaupt keinen Bezug zur Wirklichkeit (was immer das dann sein mag?)
In welchem Verhältnis also steht Sprache zur Wirklichkeit? Welchen Stellenwert hat sie für das Erkenntnisvermögen des menschlichen Subjekts?
Ich hole – und bitte dafür um Nachsicht – etwas weiter aus, um das komplexe Thema und die damit verbundenen Fragen zu exponieren.
Schon in der Antike gibt es Zweifel an der wirklichkeitsabbildenden Funktion der Sprache. Die Sophisten bezweifeln, dass zwischen Begriffen und Dingen einen relevanten Zusammenhang besteht, vielmehr seien Wörter durch Konvention gebildete Zeichen, die das Bedeutete nicht repräsentieren.
Was das heißt, kann man am semiotischen Zeichenmodell veranschaulichen: hier gibt es 1) das Zeichen, 2) der Gegenstand und 3) die Bedeutung (Vorstellung). Es gibt also das Wort „Pferd“, das ´Ding´ Pferd und die Vorstellung ´Pferd´. Den Sophisten geht es darum, das Band zwischen dem Wort und dem Ding zu zerschneiden. D.h. das Wort „Pferd“ ist ein konventionelles Zeichen, dem kein wirkliches Ding „Pferd“ entspricht. Xeniades geht so weit zu behaupten, dass der Mensch überhaupt nicht in der Lage ist, etwas Wahres zu sagen, da Sprache und Denken nur in die Irre führen.
Platon lässt später Sokrates im Kratylos-Dialog dagegen argumentieren und zu dem Kompromiss gelangen, dass Begriffe halb konventionell, aber auch halb wirklichkeitsabbildend sind.
Aristoteles formuliert dann das Prinzip der sog. Korrespondenztheorie der Wahrheit, die bis zur Intervention von Immanuel Kant weitgehend das Denken in der Philosophie beherrschen wird.
Für ihn haben die logischen Kategorien des Denkens / der Sprache die gleiche Struktur wie die Wirklichkeit, d.h. Denken und Sprache korrespondieren den ontologischen Strukturen der Wirklichkeit. Aristoteles benennt mehrere logische Kategorien, z.B. Substanz, Akzidenz, Quantität, Qualität, Raum, Zeit usw.
Wir erfahren also Raum und Zeit, so der Grieche, weil die Wirklichkeit in dieser Weise strukturiert ist.
Im Mittelalter bestimmt der Aristoteles-Anhänger Thomas von Aquin die Korrespondenztheorie bündig als „adaequatio rei et intellectus“ (Übereinstimmung von Sache und Verstand). Das bedeutet, einfach gesagt: wenn jemand behauptet: „Es regnet“, dann schau aus dem Fenster. Wenn es draußen regnet, dann hat der Sprecher die Wahrheit gesagt.
Ende des 18. Jahrhunderts zerstört Immanuel Kant dieses schöne Gebilde. Er verortet die logischen Kategorien von Denken / Sprache allein im denkenden Subjekt, dem diese Denkgesetze angeboren sind. Das Material der Sinnesempfindungen wird durch die spontane Anwendung der Kategorien durch das Denken strukturiert und dem Bewusstsein zugänglich gemacht (dazwischen liegen noch die Schemata der Einbildungskraft, die zwischen den Kategorien und den Sinnesdaten eine vorstrukturierende Vermittlung herstellen).
Mit Kant heißt Erkennen also nicht mehr: die Wirklichkeit im Bewusstsein abbilden, sondern: ein sprachlich-logisches Muster auf die chaotischen Sinnesdaten projizieren, welches diese in eine begreifbare Form bringt. Die „eigentliche“ Wirklichkeit aber bleibt außen vor – sie ist das unerkennbare „Ding-an-sich“ jenseits des menschlichen Erkenntnisvermögens.
Hegel treibt die Sprachanalyse noch ein Stück weiter und veranschaulicht am Beispiel der Subjekt-Prädikat-Form des Aussagesatzes, wie das Denken irreduzibel in einem Widerspruch gefangen ist.
Das grammatische Satzsubjekt, z.B. „Tisch“, wird durch diverse Prädikate (Eigenschaften) näher bestimmt, wobei die Sprache dazu verführt, eine Substanz (ein Wesen) „Tisch“ anzunehmen, das unabhängig von seinen Prädikaten besteht. Hegel zeigt, dass das Satzsubjekt aber nichts anderes ist als die Summe der ihm zugesprochenen Prädikate. Das irregeführte Denken unterstellt, dass der „Tisch“ ein von seinen Prädikaten unabhängiges Wesen sei oder habe. Die auf ihn projizierte Einheit ist nur ein unter einen Begriff gefasste Bündelung von zufälligen Eigenschaften, die, wenn sie wegfielen, kein eigenschaftloses Wesen „Tisch“ zurücklassen würden.
Da das Denken aber nicht ohne diesen Widerspruch funktionieren kann, folgert Hegel daraus, dass es grundsätzlich aus Widersprüchen gebildet ist, die vom denkenden Subjekt zusammengehalten werden. Da – für Hegel – das Denken aber das Wesen des Subjekts ausmacht, folgt daraus für ihn, dass das menschlichen Wesen prinzipiell in sich gespalten ist – in die Pole des Subjektiven und des Objektiven.
Über Nietzsche, den späten Wittgenstein und den Linguisten de Saussure gelangt die Sprachphilosophie dann zu den diversen Anschauungen des Strukturalismus / Poststrukturalismus (hier besonders Lacan und Derrida).
De Saussure gelingt Anfang des 20. Jahrhunderts eine epochenmachende Entdeckung: Sprache ist nicht aus positiven Entitäten (Zeichen) zusammengesetzt, die sich a u c h voneinander unterscheiden, sondern sie ist durch und durch „differentiell“, d.h. sie sind als Zeichen nur erkenn- und identifizierbar dadurch, dass sie sich von anderen Zeichen innerhalb des gleichen Systems unterscheiden. Das „m“ ist also ein Zeichen insofern, als es nicht „a“, „b“, „c“ usw. ist. Seine Identität bestimmt sich allein über die Differenz zu den anderen Zeichen. De Saussure nennt diese Zeichen „Signifikanten“, denen die Bedeutung, das „Signifikat“, gegenübersteht.
Lacan entwickelt daraus seine Lehre von der Sprache als „Signifikantenkette“, die unaufhörlich Bedeutungen erzeugt, die in keinster Weise klar konturiert sind, da die Kette „gleitet“, was eine punktuelle Ausbildung von Signifikaten verhindert. Für den Psychoanalytiker ist also die Beziehung des Zeichens zur Bedeutung eine sehr asymmetrische: das Zeichen dominiert, die Bedeutung ist nur ein Nebel, dessen Konturen ständig verwehen.
Eine Realität außerhalb der sprachlichen Ordnung ist für Lacan kein Thema, denn sie ist durch und durch sprachstrukturiert. Hier steht er in der Tradition von Kant.
Derrida geht ebenfalls in die Vollen und konzipiert die „differance“, das Prinzip der unaufhörlichen Aufschiebung des Sinns (Bedeutung). Die Sprache ist – für Derrida – kein Instrument der unmittelbaren Präsentation eines Sinns, d.h. es ist keine Präsenz und Selbst-Identität des Sinns möglich. Alle Texte sind in Raum und Zeit endlos miteinander verwoben und an keinem Punkt imstande, einen festen Sinn zu vermitteln. Es gibt keine Identität von Sinn, sondern nur Wiederholungen sprachlicher Zeichen, die immer wieder neue Variationen von Sinn erzeugen. Dies endlose Kette der Sinnproduktion und Sinnverfehlung nennt Derrida „Iteration“. Hinzu kommt, dass alle Zeichen – wie ja de Saussure schon vorgibt – ohnehin keine positive Identität haben, sondern sich nur wechselseitig bestimmen. Somit entsteht auch Sinn immer nur im Spiel ständiger wechselnder Zeichen-Bedeutung-Zuordnungen und kann nie etwas Endgültiges sein.
Woraus für Derrida folgt, dass Wahrheit durch Sprache nicht vermittelt werden kann. Der Prozess der Sinn- und damit Wahrheitsfindung ist prinzipiell unabschließbar.
Also nochmals die Fragen:
Kann Sprache die Wirklichkeit wiederspiegeln? Oder konstruiert sie nur ein ungefähres Bild von der Wirklichkeit? Oder hat das, was sie an Vorstellungen hervorruft, überhaupt keinen Bezug zur Wirklichkeit (was immer das dann sein mag?)
In welchem Verhältnis also steht Sprache zur Wirklichkeit? Welchen Stellenwert hat sie für das Erkenntnisvermögen des menschlichen Subjekts?
Gruß
Horst