Gedicht?

Hallo,

Anlass meiner Frage ist das derzeit heftig diskutierte Anti-Israel „Gedicht“ von Grass. Ich will aber nichts zum Inhalt sagen, sondern:

Was macht einen Text eigentich zum Gedicht, wenn man eine Anzahl von Säzten, sprachlich auf ein Minimum reduziert, ohne Reim oder erkennbares Versmaß aneinander reiht?

Würde man die Sätze sprachlich ein wenig erweitern, könnten sie unter „Unsere Meinung“ als Kommentar in einer Zeitung erscheinen.

Wieso macht die sprachliche Reduzierung daraus ein Gedicht? Wieso ist das kein politischer Kommentar, sondern eine „künstlerische Leistung“?

Grüße
Carsten

'Hi,

runterscrollen, der übernächste thread oder so beantwortet genau die frage.

die Franzi

Moin,

Was macht einen Text eigentich zum Gedicht,

guckst Du /t/kriterien-eines-gedichts/6827490

Gandalf

Links bündig, rechts flatternd …
… stellte Robert Gernhardt im Gespräch mit Marcel Reich-Ranicki in einem Gespräch als Mindest-Konsens fest.

http://www.amazon.de/Links-b%C3%BCndig-rechts-flatte…

Über alles andere wird heftig gestritten …

Lieben Gruß
Dantis

Gedicht!
Hallo Carsten,

Wieso macht die sprachliche Reduzierung daraus ein Gedicht?
Wieso ist das kein politischer Kommentar, sondern eine
„künstlerische Leistung“?

Die nähere Formulierung Deiner Frage geht am Sachverhalt vorbei. Weder macht „sprachliche Reduzierung“ ein Gedicht aus noch ist der Text von Günter Grass sprachlich reduziert - was wiederum nicht notwendig bedeuten muss, es handle sich um ein Gedicht. „Sprachlich reduziert“ ist (jedenfalls nach meinem Verständnis) das, was in Basil Bernsteins Defizithypothese als ‚restringierter Code‘ bezeichnet wird. Außer in freier Wildbahn lässt sich sprachliche Reduzierung besonders schön und in Reinform im Nachmittagsprogramm der diversen Prekariatsfernsehsender (Neusprech: Prolefutter) beobachten.

Was eine „künstlerische Leistung“ ist, ist noch deutlich schwieriger (wenn überhaupt) zu definieren, als der Begriff ‚Gedicht‘. Wenn „künstlerische Leistung“ dadurch definiert wird, dass es eine durch einen Künstler erbrachte Leistung ist, dann war beispielsweise die Party, die Jörg Immendorf mit neun Prostituierten und 20g Koks durchzog, zweifellos eine künstlerische Leistung - man wird Immendorf ohne ernstzunehmenden Widerspruch zu ernten als Künstler bezeichnen dürfen und auch der Leistungsaspekt war unbestreitbar gegeben. Wenn man „künstlerische Leistung“ hingegen mal eben flott (ich möchte das als Arbeitshypothese verstanden wissen) als Anwendung gestalterischer Mittel auf hohem technischen Niveau definiert, kommt man der Sache wohl näher.

Die Anwendung gestalterischer Mittel ist nun ein formales Kriterium, wobei sich im Bereich Sprache die klassischen Gattungen Epik, Dramatik und Lyrik durch einen jeweils eigenen Kanon sprachlicher gestalterischer Mittel unterscheiden lassen. Allerdings stellt sich dabei dem Schubladendenker das Problem, dass sich die jeweiligen Kanones partiell überdecken - somit gibt es Mischformen und fließende Übergänge. Der hier bedeutsamere Punkt ist jedoch, dass das formale Kriterium der Anwendung lyrischer gestalterischer Mittel (wenn es denn erfüllt ist) per se noch keine „künstlerische Leistung“ ist - gemäß meiner Arbeitshypothese ist das technische Niveau der Anwendung unberücksichtigt. Langer Rede kurzer Sinn - und damit komme ich auf Deine Frage zurück: ein Gedicht ist nicht notwendig eine „künstlerische Leistung“. Bekanntlich gibt es auch schlechte Gedichte. Sogar sehr schlechte.

Eene, mene muh
Raus bist du

  • ist unbestreitbar ein Gedicht (Endreim, jambische Metrik) und genauso unbestreitbar keine künstlerische Leistung.

Um nochmals auf Deine Frage zurückzukommen - um zu beurteilen, ob es sich bei Günter Grass’ Text um ein Gedicht handelt, genügt also eine formale Prüfung, ob der Text die Kriterien einer sprachlichen Gestaltung mit Mitteln des lyrischen Formenkanons aufweist. Die Frage, ob es sich um eine „künstlerische Leistung“ handelt (meiner Ansicht nach ist dies übrigens der Fall, wenn auch keine nobelpreiswürdige) konnen wir als unerheblich im Sinne Deiner Fragestellung beiseite lassen. Zumal ein Urteil über diesen speziellen Punkt noch deutlich stärker subjektiven Wertungen unterworfen ist als eine Betrachtung der formalen Kriterien.

Kommen wir nun zu diesen. Zunächst fällt hier natürlich die Gliederung des Textes in Verse und Strophen auf - das sicher bezeichnendste formale Gestaltungsmittel der Lyrik (das sich freilich gleichermaßen in der Epik findet). Dass die Gliederung unregelmäßig ist - von der Grundform der Strophe (besser: Versgruppe) mit sechs Versen wird häufig abgewichen - und ob dies nun wiederum Gestaltungsmittel oder künstlerisches Unvermögen ist, diese Frage können wir offen lassen. Fragen der äußeren Form spielen in den meisten stilistischen Spielarten moderner Lyrik ohnehin nur eine sehr untergeordnete Rolle. Das gleiche gilt für Metrik und Reim - zwei klassische formale Mittel von Lyrik, die wir hier in unserem Beispiel nicht vorfinden. Freie Rhythmen und reimlose Lyrik finden wir freilich schon in der Klassik, bei keinen Geringeren als Klopstock, Goethe und Hölderlin; ebenso den Verzicht auf eine regelmäßige Strophenform.

Bedeutender als äußere formale Kriterien sind inhaltliche formale Kriterien. In erster Linie ist da die subjektive Sicht eines ‚lyrischen Ich‘ zu nennen - ein Kriterium, das hier uneingeschränkt zutrifft und das gerade in diesem Fall meines Erachtens auch das entscheidende ist. Ob sich ein solches lyrisches Ich nun in Naturbetrachtungen, in Liebesschwärmereien oder in politischen Analysen ergeht, ist formal ohne Bedeutung. Und natürlich darf ein Gedicht ein (persönlicher!) politischer Kommentar sein - das Eine (Gedicht) ist ein formaler Begriff, das Andere (politischer Kommentar) ein inhaltlicher. Politische Kommentare in lyrischer Form - also politische Lyrik - hat schon Walther von der Vogelweide verfasst.

Ein weiteres typisches Stilmittel der Lyrik ist inhaltliche Verdichtung und Prägnanz (was etwas völlig anderes als sprachliche Reduzierung ist) - auch dies darf man dem Grass-Text bescheinigen. Natürlich ist Dichte und Prägnanz etwas, das auch einem Prosatext gut ansteht - zumal einem politischen Kommentar. Es sind eben nicht nur einzelne sprachliche Mittel als Kriterium, die eine Zuordnung zu einer literarischen Gattung erlauben, sondern erst deren Summe. Nicht alles, was sich reimt, ist ein Gedicht und nicht jedes Gedicht reimt sich.

Die angesprochene Dichte und Prägnanz macht Grass’ Gedicht zu einem guten politischen Kommentar (zunächst formal, nicht notwendig inhaltlich). Es ist nur ein weiterer Irrtum, man müsse „die Sätze sprachlich ein wenig erweitern“ um einen guten politischen Kommentar daraus zu machen. Fast alles, was uns von diversen Lohnschreibern und Zeilenschindern als politischer Kommentar angedient wird - nicht zuletzt in der aktuellen ‚Affäre‘ Grass - krankt an eitler Weitschweifigkeit und an mangelnder Präzision des Ausdrucks; das Ungeschick des Formulierens verweist da auf das Ungeschick des Denkens. Wenn nicht auf Schlimmeres.

Auch wenn ich oben geltend gemacht habe, die Frage der künstlerischen Qualität sei für die Klärung der Frage, ob der Grass-Text ein Gedicht sei ohne Bedeutung, so möchte ich mir doch erlauben, zu Vergleichszwecken das (hoffentlich auch bekannte) Gedicht dieses Sprachkünstlers (der seine Meriten freilich in erster Linie auf dem Gebiet der Epik erworben hat) mit dem eines sprachlichen Handwerkmeisters zu kontrastieren. Genauer: mit einem Gedicht des Politologen und Friedensforschers Andreas Buro.

_Schon lange haben wir über die Drohungen aus dem Iran-Konflikt gesprochen,
haben Vorschläge gemacht,
wie eine friedliche Lösung erreicht werden könne
und die Maulhelden um Mäßigung
und Vernunft gebeten.

Die Antworten von oben waren eindeutig:
Alternativlos sei die Politik der Sanktionen;
Die ultima ratio des Militärschlages dürfe nicht ausgeblendet werden;
Der Iran sei von der Achse des Bösen hinab zustürzen.
Friede würde nur sein
durch eine Politik der Stärke.

Durch die Worte hörten wir schon
das Krachen der Bomben,
das Stöhnen der Getroffenen,
die Verherrlichung des blutigen Sieges durch die Machtpolitiker
und die Heldenreden der meist überlebenden Generäle.

Was für ein Frieden!
Wir denken an Irak und Afghanistan,
manche auch noch an Vietnam,
an die Folteropfer der Generäle in Lateinamerika,
an die Stellvertreterkriege in Afrika
an das Verhältnis von 9 zu 1
der zivilen Opfer zu den toten Soldaten oder
den Kollateralschäden zu den angeblichen Helden.

Günter Grass hat vor Krieg gewarnt,
Israel als eine Gefahr für den Weltfrieden bezeichnet.
Wir hätten auch die USA, die Erfinderin der Achse des Bösen, genannt,
aber auch die vielen arabischen und islamischen Staaten,
die mit der Kalaschnikow spielen
und aktuelle Konflikte anheizen.

Wir hätten noch auf die Gewaltsucht vieler herrschenden Kräfte gedeutet,
auf ihre Unfähigkeit, ja sogar Unwilligkeit, Frieden zu stiften.
Wir hätten auf die vielen Industrien des Todes verwiesen
und auf ihre glänzenden Geschäfte.
Wir vergessen auch nicht die Produzenten der Verklärung von Krieg:
Humanitäre Interventionen mit etwa 50 000 Toten in Libyen!
und auch nicht die Umarmungen aller getreuen Diktatoren durch die westlichen demokratischen Regierungen.

Schlammschlachten zur Abwehr der Lyrik von Günter Grass,
über seine SS-Zugehörigkeit als 16-jähriger Jugendlicher,
sein angeblich gestörtes Verhältnis zu Israel,
oder gar zu dem Versmaß seines Gedichtes
sollen von seiner Botschaft ablenken:
Keine Politik, die zu einem Krieg im Iran-Konflikt führen kann!

Wir aus Friedensbewegung und Friedensforschung
fordern zum großen Wettbewerb auf,
um eine friedliche Lösung,
um einen Nichtsangriffspakt zwischen den Kontrahenten
und die folgende Aufhebung aller Sanktionen,
um Kontrolle der nuklearen Bestrebungen durch die IAEA,
um die Schaffung einer atomwaffenfreien Zone in Mittel- und Nahost,
um die Eröffnung eines regionalen Dialogs für Sicherheit und Zusammenarbeit
zur Entfaltung von Vertrauen und zum Abbau der Konfrontation
zugunsten von Kooperation der Völker und Staaten.
Deutschland könnte dazu beitragen.
Günter Grass hat dazu beigetragen, diese Aufgabe wieder auf die Tagesordnung zu setzen.
Danke!_
Freundliche Grüße,
Ralf

die leerzeile als wichtigtum

Es sind eben nicht nur einzelne
sprachliche Mittel als Kriterium, die eine Zuordnung zu einer
literarischen Gattung erlauben, sondern erst deren Summe.

eben.

in summe ergibt der grass’sche text, abgesehen von zutiefst gewollt scheinenden lyrik-ähnlichen verrenkungen (damit es als solche durchgeht & unangreifbare kunst sein muß) eine mischung von prosa & leserbrief, durchsetzt von wichtigkeitsheischenden umbrüchen.

andere machen das seit jahrzehnten, zum glück haben sie nicht das ausdauernde bedürfnis nach omnipräsenz:
http://www.muenic.de/gedichte/wybranietz.html

…der alte sack freut sich nun, daß er endlich mal wieder von allen verfolgt wird.
sei es ihm gegönnt, schlimmstenfalls gibt es ein neues buch.

e.c.

4 „Gefällt mir“

literarische und politische Kompetenz
Ja klar, was Günter Grass kann, kann Frau Allert-Wybranietz schon lange. Und mein Enkel malt im Kindergarten Bilder, die besser sind als die von Dubuffet. Was Josef Beuys konnte, kann ich auch. Und John Cage ist nur ein Witzbold, richtige Musik ist das, was André Rieu macht. Mit solchen Thesen lässt sich immer billig Beifall einfahren, weil sie die Mehrheit, die „Fabrikware der Natur“, in ihrem Geschmack bestätigen und ihr bescheinigen, dass ihr Unwille oder ihre Unfähigkeit, künstlerische Qualität wahrzunehmen, nicht wirklich schlichtes Banausentum sondern Nüchternheit ist. Das hört man immer wieder gerne.

Um nur auf einen wesentlichen Unterschied zwischen dem Grass-Gedicht und Frau Wybranietz’ Wegwerf-Gedichten hinzuweisen: „unangreifbar“ sind letztere, aufgrund ihrer unsäglich banalen Harmlosigkeit. So unangreifbar wie das unbeholfene Geschmiere des Enkelkinds zuhause am Kühlschrank oder das sentimentale Gefiedel des Herrn Rieu. Wirkliche Kunst ist eben gerade nicht unangreifbar, im Gegenteil, sie provoziert Angriffe. Der Text von Grass führt genau das exemplarisch vor und damit Deine Argumentation ad absurdum.

Der „alte Sack“ freut sich sicher nicht, dass er „verfolgt“ wird (eine alberne Übertreibung von Dir übrigens). Er würde sich sicher freuen, wenn endlich in Deutschland ein öffentlicher Diskurs über die von keinen internationalen Kontrollen behelligte Atommacht Israel geführt würde, über die Kriegshetzer in der israelischen Regierung und über die Lieferung von Trägersystemen für Atomwaffen, die einen atomaren Erstschlag ermöglichen, an Israel durch deutsche Unternehmen mit Genehmigung der deutschen Regierung.

Dass eben dieser notwendige Diskurs von vielen - Allzuvielen - peinlich vermieden wird und stattdessen nun zur Ablenkung der Öffentlichkeit eine Metadiskussion über den Autor geführt wird (und zwar - wie vorhersehbar - als Antisemitismusdiskussion), war zu erwarten und es wäre naiv zu glauben, dass Grass dies nicht gesehen und in Kauf genommen hat. Nicht, um damit um öffentliche Aufmerksamkeit zu buhlen - das hat der 84jährige Nobelpreisträger nicht mehr nötig - sondern im Interesse der Sache. Die Bösartigkeit und Unsachlichkeit dieser angeblichen Antisemitismus-Debatte dürfte freilich den „alten Sack“ durchaus überrascht haben. Sie ist genauso populistisch wie Deine Bemerkungen zur literarischen Qualität des Gedichtes - nur darüber hinaus hysterisch statt zynisch.

10 „Gefällt mir“

So isses. Ich kann’s nicht mehr hören, dieses „Kunst kommt von Können“ Gefasel derer, die im besten Falle Kunstgewerbe meinen, wenn sie Kunst sagen.
Jaja, Harry Potter liest sich leichter als Arno Schmidt, der Hausmeister hat Beuys’ Fettecke weggemacht, da klopfen wir uns die Schenkel und uns gegenseitig auf die Schulter, denn unser Nadinchen malt so schöne Rosenbilder und Onkel Herbert erst mit seinen Landschaften. Zwölftonmusik kann man nicht hören, von Punk ganz zu schweigen und Techno ist grundsätzlich scheiße. Mozart, das war noch schöne Musik und dann wieder Whitney Houston und die Wildecker Herzbuben. Und die schönen Musicals…
In den Buchhandlungen liegen Türme von Schrott („wir lesen viel und Christine Westermann hat das empfohlen“), in den Baumärkten stehen Kunstdrucke mit Kaffeebohnen und Olivenzweigen („da an die Wand würde auch noch gut ein Bild hinpassen“) und überall, selbst auf dem Kaufhausklo, umdudelt uns das, was man auch Musik nennen kann.
Ich kann es nicht mehr hören, das „ist alles Geschmackssache“ und „über Geschmack lässt sich nicht streiten“ derer, die bestenfalls ‚Massenkompatibilität‘ meinen, wenn sie ‚Geschmack‘ sagen.

Gruß

Jo
mag Grass nicht, was nichts daran ändert, dass du Recht hast.

1 „Gefällt mir“

provokation, echo & selbstimmunisierung

Mit solchen Thesen

…du übertreibst das beispiel.

Wirkliche Kunst
ist eben gerade nicht unangreifbar, im Gegenteil, sie
provoziert Angriffe. Der Text von Grass führt genau das
exemplarisch vor und damit Deine Argumentation ad absurdum.

das unterstreicht meine these:
herr grass wollte provozieren, nur kein echo hören.

die blödheit der ballert-pyrowitz’schen befindlichkeitsprosa, die durch einen zeilenumbruch sich wichtigtut, unterscheidet sich nun genau wodurch von einer grass’schen politischen stellungnahme, die als normaler text ebenfalls als durchaus „banal“ eingeordnet werden kann?

Der „alte Sack“ freut sich sicher nicht, dass er „verfolgt“
wird (eine alberne Übertreibung von Dir übrigens).

stimmt. er freut sich nicht, sondern ist mal wieder schwer beleidigt.

Dass eben dieser notwendige Diskurs von vielen - Allzuvielen -
peinlich vermieden wird und stattdessen nun zur Ablenkung der
Öffentlichkeit eine Metadiskussion über den Autor geführt wird

diskussionen zum thema gibt es durchaus, die müssen nicht neu erfunden werden.

wie gesagt: warum sollte der diskurs als „kunst“ getarnt sich dem widerspruch & damit der diskussion entziehen wollen?
eben um sich unangreifbar zu machen & genau dadurch keine diskussion zuzulassen, sofern sie dem in formales gerüst gezwängten inhalt widersprechen könnte,

perfide taktik.

Sie ist genauso populistisch wie
Deine Bemerkungen zur literarischen Qualität des Gedichtes -
nur darüber hinaus hysterisch statt zynisch.

vielleicht mal andersrum:
wenn grass meint, sich politisch äußern zu müssen, kann er dies aufgrund seiner popularität jederzeit einfach so tun.

man muß im 21. jhdt. hier nicht mehr verklausulieren, um etwas zu sagen.
warum diese peinsam-formale kunstbemühung, die allzu durchsichtig ist?

ist es nicht populistisch, sich mit gesetzter literatenattidüde lautstark den medien anzubieten, um sich dann wieder weinerlich zu beschweren, weil das publikum mal wieder zu doof zur rezeption ist?

die ganze angelegenheit wäre einfacher, hätte grass sich nicht das kunstmäntelchen umgehängt – ich persönlich finde das zutiefst peinlich.

e.c.

3 „Gefällt mir“

das unterstreicht meine these:
herr grass wollte provozieren, nur kein echo hören.

Das bezweifle ich sehr. Das Gedicht thematisiert ja zwei Punkte - zum einen die Außenpolitik Israels und deren Unterstützung durch die deutsche Regierung und zum anderen die Frage, ob man diese Politik kritisieren darf, ohne reflexhaft öffentlich als Antisemit geschmäht zu werden. Natürlich wollte Grass ein „Echo hören“ - und dies hervorzurufen ist ihm ja auch gelungen. Glaubst Du wirklich, Grass hätte nur mit Zustimmung und Lob sowie schlimmstenfalls Schweigen gerechnet? Dann bist Du naiv - Grass ist es sicher nicht. Zumindest nicht in dem Maße, wie Du es ihm unterstellst.

Die veröffentlichte Meinung plädiert nun zum größten Teil lautstark dafür, SO dürfe man Israel nicht kritisieren, schon gar nicht als Deutscher - und natürlich wird Grass ausgiebig als Antisemit denunziert, weil er dies tut. Völlig erwartbar - und wie in dem Gedicht selbst prophezeit (wozu freilich auch keine hellseherischen Fähigkeiten vonnöten waren).

Wichtig ist weniger das Gedicht selbst, als der Diskurs, den es ausgelöst hat. Das ‚Können‘, nach dem sich ‚Kunst‘ bemisst, zeigt sich in der Wirkung, nicht im So-Sein des künstlerischen Produkts. Das simple Kunsthandwerk wird da zur Kunst, wo es neue Sicht-, Hör- und Denkweisen erschließt - wo es wirkt. Und natürlich hat Grass das Recht, sich in dem von ihm ausgelösten Diskurs zu äußern - insbesondere gegen bösartige Anwürfe und persönliche Unterstellungen diverser Kleingeister und Medienhuren (wobei diese Bezeichnung für einen H.M. Broder schon deutlich zu viel der Ehre ist).

die blödheit der ballert-pyrowitz’schen befindlichkeitsprosa, die durch einen zeilenumbruch sich wichtigtut, unterscheidet sich nun genau wodurch von einer grass’schen politischen stellungnahme, die als normaler text ebenfalls als durchaus „banal“ eingeordnet werden kann?

Genau das habe ich Dir schon erläutert - Grass’ Gedicht exponiert sich und seinen Autor. Es provoziert Angriffe - und damit erzielt es öffentliche Wirkung. Äußerlich-formal mag sich Grass’ Gedicht wenig von den Ergüssen unserer zeitgenössischen Wiedergängerin Friederike Kempners unterscheiden - aber wie ich schon in meinem ersten Posting geschrieben habe, lässt sich die Frage ‚Gedicht - ja oder nein‘ eben nicht ausschließlich anhand äußerer formaler Kriterien beantworten („Bedeutender als äußere formale Kriterien sind inhaltliche formale Kriterien“). Und genau da hast Du den Unterschied - zumindest ist das lyrische Ich eines Günter Grass nicht mit dem einer Allert-Wybranietz zu verwechseln. Genauso wenig wie der Antisemitismus, den man ersterem unterschieben will mit der Blödheit, die Du dem zweiten bescheinigst.

Ich verkneife mir, weiter auf formale Kriterien einzugehen, das habe ich bereits getan und ich habe auch deutlich gemacht, dass ich nicht gedenke, eine Diskussion über Qualität des Gedichtes zu führen. Auch wenn ich persönlich eine positive Qualität durchaus wahrnehme, so handelt es sich dessenungeachtet doch nur um ein Gelegenheitsgedicht, dessen literarischer Wert an die politischen Zeitumstände gebunden ist und mit deren Veränderung obsolet wird. Um dies mit Peter Rühmkorfs dritter Variation über das Zeitgedicht zu verdeutlichen:

Das Zeitgedicht, das Zeitgedicht,
hat nur ein kurzes Lebenslicht,
und wenn es auch die Wahrheit spricht,
man dankt’s ihm nicht!
Olé!

wie gesagt: warum sollte der diskurs als „kunst“ getarnt sich dem widerspruch & damit der diskussion entziehen wollen?
eben um sich unangreifbar zu machen & genau dadurch keine diskussion zuzulassen, sofern sie dem in formales gerüst gezwängten inhalt widersprechen könnte,

Du wirfst da zwei Dinge fröhlich durcheinander, das Gedicht selbst und den Diskurs darüber. Wobei - nur nebenbei bemerkt - der Teil des Diskurses, der sich mit der Ästhetik des Gedichts beschäftigt genauso bemüht an der Sache vorbeigeht wie der Teil, der sich mit der Frage beschäftigt, ob Grass im Geiste immer noch die Uniform der Waffen-SS trägt.

Diskurs lebt von Widerspruch und Diskussion und ist - wenn er denn Kunst ist (was selten genug der Fall ist) - ein Kunstwerk sui generis. „Kunst“ ist hier allenfalls das Gedicht - und zwar nicht zuletzt dadurch, dass es einen Diskurs auslöst und zur Folge hat. Etwas, was Wybranietz-Gedichten versagt bleibt und das ich als banale Harmlosigkeit charakterisiert habe - typisches Kennzeichen des Amateurhaften und Epigonalen. Zumindest banale Harmlosigkeit hat Grass in der jetzigen Diskussion mW noch niemand vorgeworfen. Willst Du Grass wirklich ernsthaft unterstellen, er habe mit der Veröffentlichung seines Gedichtes in drei internationalen Zeitungen (und nicht etwa in einem Gedichtband) keine Diskussion auslösen sondern einfach ex cathedra eine Glaubenswahrheit verkünden wollen? Nicht einmal der Papst (der in Rom selbstverständlich, nicht Reich-Ranicki) glaubt heute noch, er könne sich das leisten, ohne Widerspruch zu ernten und Grass ist mE deutlich weniger realitätsfremd als Herr Ratzinger.

Am abwegigsten ist jedoch, einem Schrifsteller zum Vorwurf zu machen, dass er sich in Form eines Gedichts statt eines Leitartikels äußert - also sich der Zumutung verweigert, vom Schriftsteller zum Journalisten zu degenerieren - und dabei mal so eben mit links gleich die gesamte Gattung der politischen Lyrik zu erledigen und als unzeitgemäß und überflüssig geworden zu erklären; noch dazu mit solch haarsträubenden Argumenten. Einer politischen Aussage lyrische Form zu verleihen, hat noch nie jemanden vor dem geschützt, was er bei gleicher Aussage in Prosa hätte erwarten müssen. Sie hat einen Schubart oder einen Wedekind nicht vor dem Gefängnis bewahrt und genauso wenig bewahrt sie einen Grass vor Kritik und persönlichen Anfeindungen. Nur eines hätte ihn davor bewahrt - wenn er selbst Jude wäre; dann wäre der absurde Vorwurf des Antisemitismus nicht so wohlfeil gewesen. Das Grass als nichtjüdischer Künstler diesen äußerst zweifelhaften ‚Bonus‘ nicht genießt, weiss er spätestens seit „Beim Häuten der Zwiebel“.

Wäre er Jude, dann hätten seine Kritiker das Gedicht bemüht ignoriert, so wie man es mit den israelkritischen Gedichten von Erich Fried (sicherlich ein besserer politischer Lyriker als Grass) gemacht hat. Nur nebenbei - ist nicht schon der Titel „Was gesagt werden muss“ ein deutlicher Reflex auf Frieds „Worauf es ankommt“? Nicht, was Grass sagt und auch nicht, wie er es sagt, ist neu. Sondern, dass darüber breit in der Öffentlichkeit diskutiert wird - endlich. Da ist der Vorwurf des Antisemitismus kein zu hoher Preis - was allerdings nicht heißen darf, Grass dürfe sich dagegen nicht zur Wehr setzen. Zur Erinnerung bzw. für die, die es nicht kennen:

_Erich Fried
Worauf es ankommt

Es kommt im Augenblick
nicht darauf an
wann es war
dass die Unterdrückerregierung
in Israel
sich verwandelt hat
in eine Verbrecherregierung

Aber es kommt darauf an
zu erkennen
dass sie jetzt eine
Verbrecherregierung ist

Es kommt auch nicht mehr
darauf an
darüber zu streiten
nach welchem Vorbild
sie ihre Verbrechen begeht.
Diese Verbrechen selbst
tragen sichtbar die Spur ihres Vorbilds.

Aber es kommt darauf an
nicht nur klagend oder erstaunt
den Kopf zu schütteln
über diese Verbrechen
sondern endlich
etwas dagegen zu tun

Es kommt nicht darauf an
was man ist
Moslem, Christ, Jude, Freigeist:

Ein Mensch
der ein Mensch ist
kann nicht schweigen
zu dem was geschieht._

Freundliche Grüße,
Ralf