Gedicht!
Hallo Carsten,
Wieso macht die sprachliche Reduzierung daraus ein Gedicht?
Wieso ist das kein politischer Kommentar, sondern eine
„künstlerische Leistung“?
Die nähere Formulierung Deiner Frage geht am Sachverhalt vorbei. Weder macht „sprachliche Reduzierung“ ein Gedicht aus noch ist der Text von Günter Grass sprachlich reduziert - was wiederum nicht notwendig bedeuten muss, es handle sich um ein Gedicht. „Sprachlich reduziert“ ist (jedenfalls nach meinem Verständnis) das, was in Basil Bernsteins Defizithypothese als ‚restringierter Code‘ bezeichnet wird. Außer in freier Wildbahn lässt sich sprachliche Reduzierung besonders schön und in Reinform im Nachmittagsprogramm der diversen Prekariatsfernsehsender (Neusprech: Prolefutter) beobachten.
Was eine „künstlerische Leistung“ ist, ist noch deutlich schwieriger (wenn überhaupt) zu definieren, als der Begriff ‚Gedicht‘. Wenn „künstlerische Leistung“ dadurch definiert wird, dass es eine durch einen Künstler erbrachte Leistung ist, dann war beispielsweise die Party, die Jörg Immendorf mit neun Prostituierten und 20g Koks durchzog, zweifellos eine künstlerische Leistung - man wird Immendorf ohne ernstzunehmenden Widerspruch zu ernten als Künstler bezeichnen dürfen und auch der Leistungsaspekt war unbestreitbar gegeben. Wenn man „künstlerische Leistung“ hingegen mal eben flott (ich möchte das als Arbeitshypothese verstanden wissen) als Anwendung gestalterischer Mittel auf hohem technischen Niveau definiert, kommt man der Sache wohl näher.
Die Anwendung gestalterischer Mittel ist nun ein formales Kriterium, wobei sich im Bereich Sprache die klassischen Gattungen Epik, Dramatik und Lyrik durch einen jeweils eigenen Kanon sprachlicher gestalterischer Mittel unterscheiden lassen. Allerdings stellt sich dabei dem Schubladendenker das Problem, dass sich die jeweiligen Kanones partiell überdecken - somit gibt es Mischformen und fließende Übergänge. Der hier bedeutsamere Punkt ist jedoch, dass das formale Kriterium der Anwendung lyrischer gestalterischer Mittel (wenn es denn erfüllt ist) per se noch keine „künstlerische Leistung“ ist - gemäß meiner Arbeitshypothese ist das technische Niveau der Anwendung unberücksichtigt. Langer Rede kurzer Sinn - und damit komme ich auf Deine Frage zurück: ein Gedicht ist nicht notwendig eine „künstlerische Leistung“. Bekanntlich gibt es auch schlechte Gedichte. Sogar sehr schlechte.
Eene, mene muh
Raus bist du
- ist unbestreitbar ein Gedicht (Endreim, jambische Metrik) und genauso unbestreitbar keine künstlerische Leistung.
Um nochmals auf Deine Frage zurückzukommen - um zu beurteilen, ob es sich bei Günter Grass’ Text um ein Gedicht handelt, genügt also eine formale Prüfung, ob der Text die Kriterien einer sprachlichen Gestaltung mit Mitteln des lyrischen Formenkanons aufweist. Die Frage, ob es sich um eine „künstlerische Leistung“ handelt (meiner Ansicht nach ist dies übrigens der Fall, wenn auch keine nobelpreiswürdige) konnen wir als unerheblich im Sinne Deiner Fragestellung beiseite lassen. Zumal ein Urteil über diesen speziellen Punkt noch deutlich stärker subjektiven Wertungen unterworfen ist als eine Betrachtung der formalen Kriterien.
Kommen wir nun zu diesen. Zunächst fällt hier natürlich die Gliederung des Textes in Verse und Strophen auf - das sicher bezeichnendste formale Gestaltungsmittel der Lyrik (das sich freilich gleichermaßen in der Epik findet). Dass die Gliederung unregelmäßig ist - von der Grundform der Strophe (besser: Versgruppe) mit sechs Versen wird häufig abgewichen - und ob dies nun wiederum Gestaltungsmittel oder künstlerisches Unvermögen ist, diese Frage können wir offen lassen. Fragen der äußeren Form spielen in den meisten stilistischen Spielarten moderner Lyrik ohnehin nur eine sehr untergeordnete Rolle. Das gleiche gilt für Metrik und Reim - zwei klassische formale Mittel von Lyrik, die wir hier in unserem Beispiel nicht vorfinden. Freie Rhythmen und reimlose Lyrik finden wir freilich schon in der Klassik, bei keinen Geringeren als Klopstock, Goethe und Hölderlin; ebenso den Verzicht auf eine regelmäßige Strophenform.
Bedeutender als äußere formale Kriterien sind inhaltliche formale Kriterien. In erster Linie ist da die subjektive Sicht eines ‚lyrischen Ich‘ zu nennen - ein Kriterium, das hier uneingeschränkt zutrifft und das gerade in diesem Fall meines Erachtens auch das entscheidende ist. Ob sich ein solches lyrisches Ich nun in Naturbetrachtungen, in Liebesschwärmereien oder in politischen Analysen ergeht, ist formal ohne Bedeutung. Und natürlich darf ein Gedicht ein (persönlicher!) politischer Kommentar sein - das Eine (Gedicht) ist ein formaler Begriff, das Andere (politischer Kommentar) ein inhaltlicher. Politische Kommentare in lyrischer Form - also politische Lyrik - hat schon Walther von der Vogelweide verfasst.
Ein weiteres typisches Stilmittel der Lyrik ist inhaltliche Verdichtung und Prägnanz (was etwas völlig anderes als sprachliche Reduzierung ist) - auch dies darf man dem Grass-Text bescheinigen. Natürlich ist Dichte und Prägnanz etwas, das auch einem Prosatext gut ansteht - zumal einem politischen Kommentar. Es sind eben nicht nur einzelne sprachliche Mittel als Kriterium, die eine Zuordnung zu einer literarischen Gattung erlauben, sondern erst deren Summe. Nicht alles, was sich reimt, ist ein Gedicht und nicht jedes Gedicht reimt sich.
Die angesprochene Dichte und Prägnanz macht Grass’ Gedicht zu einem guten politischen Kommentar (zunächst formal, nicht notwendig inhaltlich). Es ist nur ein weiterer Irrtum, man müsse „die Sätze sprachlich ein wenig erweitern“ um einen guten politischen Kommentar daraus zu machen. Fast alles, was uns von diversen Lohnschreibern und Zeilenschindern als politischer Kommentar angedient wird - nicht zuletzt in der aktuellen ‚Affäre‘ Grass - krankt an eitler Weitschweifigkeit und an mangelnder Präzision des Ausdrucks; das Ungeschick des Formulierens verweist da auf das Ungeschick des Denkens. Wenn nicht auf Schlimmeres.
Auch wenn ich oben geltend gemacht habe, die Frage der künstlerischen Qualität sei für die Klärung der Frage, ob der Grass-Text ein Gedicht sei ohne Bedeutung, so möchte ich mir doch erlauben, zu Vergleichszwecken das (hoffentlich auch bekannte) Gedicht dieses Sprachkünstlers (der seine Meriten freilich in erster Linie auf dem Gebiet der Epik erworben hat) mit dem eines sprachlichen Handwerkmeisters zu kontrastieren. Genauer: mit einem Gedicht des Politologen und Friedensforschers Andreas Buro.
_Schon lange haben wir über die Drohungen aus dem Iran-Konflikt gesprochen,
haben Vorschläge gemacht,
wie eine friedliche Lösung erreicht werden könne
und die Maulhelden um Mäßigung
und Vernunft gebeten.
Die Antworten von oben waren eindeutig:
Alternativlos sei die Politik der Sanktionen;
Die ultima ratio des Militärschlages dürfe nicht ausgeblendet werden;
Der Iran sei von der Achse des Bösen hinab zustürzen.
Friede würde nur sein
durch eine Politik der Stärke.
Durch die Worte hörten wir schon
das Krachen der Bomben,
das Stöhnen der Getroffenen,
die Verherrlichung des blutigen Sieges durch die Machtpolitiker
und die Heldenreden der meist überlebenden Generäle.
Was für ein Frieden!
Wir denken an Irak und Afghanistan,
manche auch noch an Vietnam,
an die Folteropfer der Generäle in Lateinamerika,
an die Stellvertreterkriege in Afrika
an das Verhältnis von 9 zu 1
der zivilen Opfer zu den toten Soldaten oder
den Kollateralschäden zu den angeblichen Helden.
Günter Grass hat vor Krieg gewarnt,
Israel als eine Gefahr für den Weltfrieden bezeichnet.
Wir hätten auch die USA, die Erfinderin der Achse des Bösen, genannt,
aber auch die vielen arabischen und islamischen Staaten,
die mit der Kalaschnikow spielen
und aktuelle Konflikte anheizen.
Wir hätten noch auf die Gewaltsucht vieler herrschenden Kräfte gedeutet,
auf ihre Unfähigkeit, ja sogar Unwilligkeit, Frieden zu stiften.
Wir hätten auf die vielen Industrien des Todes verwiesen
und auf ihre glänzenden Geschäfte.
Wir vergessen auch nicht die Produzenten der Verklärung von Krieg:
Humanitäre Interventionen mit etwa 50 000 Toten in Libyen!
und auch nicht die Umarmungen aller getreuen Diktatoren durch die westlichen demokratischen Regierungen.
Schlammschlachten zur Abwehr der Lyrik von Günter Grass,
über seine SS-Zugehörigkeit als 16-jähriger Jugendlicher,
sein angeblich gestörtes Verhältnis zu Israel,
oder gar zu dem Versmaß seines Gedichtes
sollen von seiner Botschaft ablenken:
Keine Politik, die zu einem Krieg im Iran-Konflikt führen kann!
Wir aus Friedensbewegung und Friedensforschung
fordern zum großen Wettbewerb auf,
um eine friedliche Lösung,
um einen Nichtsangriffspakt zwischen den Kontrahenten
und die folgende Aufhebung aller Sanktionen,
um Kontrolle der nuklearen Bestrebungen durch die IAEA,
um die Schaffung einer atomwaffenfreien Zone in Mittel- und Nahost,
um die Eröffnung eines regionalen Dialogs für Sicherheit und Zusammenarbeit
zur Entfaltung von Vertrauen und zum Abbau der Konfrontation
zugunsten von Kooperation der Völker und Staaten.
Deutschland könnte dazu beitragen.
Günter Grass hat dazu beigetragen, diese Aufgabe wieder auf die Tagesordnung zu setzen.
Danke!_
Freundliche Grüße,
Ralf