Hallo Sportsfreund Müller,
zu dieser Frage kann ich als Antwort nur meine eigene, subjektive Meinung beisteuern. Eine genaue Analyse der Ursachen eines derart spektakulären Leistungssprunges muß Sportwissenschaftlern überlassen bleiben.
Nach meiner Meinung kommen dafür viele äußere Umstände zusammen, die insgesamt zu einer solchen Rekordzeit führen können:
1.)Die Erstbegeher von 1938 (Kasparek, Harrer, Heckmayer und Vörg)mußten sich den Weg durch die Wand zum großen Teil selbst suchen. Bekannt war ihnen die Route von den Versuchen ihrer Vorgänger lediglich bis zum sogenannten „Bügeleisen“. Ab da kam Neuland, mit allen Ungewißheiten.Heute sind alle Routen durch die Wand ausführlich bis ins Detail bekannt und beschrieben, der Sportler kann sich also auf die zu erwartenden Anforderungen gezielt vorbereiten und dann einen „bekannten“ Weg natürlich schneller verfolgen (möglicherweise hat der Rekordinhaber die Wand auch schon vorher einmal durchstiegen, wußte also „wo es lang geht“.)
2.)Die heutige Ausrüstung im Bergsport ist mit der von 1938 natürlich nicht mehr zu vergleichen. Verbesserungen betreffen nicht nur die Steigeisen (auch wenn das ein wesentlichr Faktor war) sondern auch andere Sicherungsmittel, die Biwakausrüstung, Schuhe, Eisbeile (kein moderner Eiskletterer verwendet heute noch den klaasischen Eispickel), Verpflegung u.a.
Nicht zuletzt ist die heutige Ausrüstung nicht nur zweckmäßiger sondern auch leichter und die Gewichtsersparnis sorgt auch für schnelleres Vorankommen.
3.)Die lange Aufstiegszeit (und damit verbunden einige spektakuläre Unfälle in der Wand) ist auch dem Umstand geschuldet, daß am Eiger das Wetter besonders instabil ist. Viele Bergsteiger besonders in den Jahren bis 2000 gerieten in einen Wettersturz, bei Höhen über 2500 m mit Schnee und anderen Behinderungen. Heute ist eine sicherere Langzeitprognose des Wetters möglich. Für einen Rekordversuch kann man sich also ein relativ sicheres Zeitfenster der optimalen Bedingungen aussuchen.
4.) Rekordversuche diese Art sind nur im Alleingang möglich. Die Durchsteigung im alpinen Stil mit gegenseitiger Sicherung ist zeitraubend, da immer nur einer steigt während der andere sichert. Eine Zweier-Seilschaft braucht so die doppelte Zeitgegenüber einem Alleingänger (der dafür allerdings das höhere Risiko eingeht), Dreier- und Viererseilschaften entsprechend noch mehr.
5.) Die Verhältnisse in den Alpen haben sich in den letzten 70 Jahren drastisch verändert (Stichwort Klimawandel). Möglicherweise haben sich auch dadurch die Bedingungen in der Wand zeitweilig verbessert. Ob das eine Rolle spielt ist allerdings fraglich, es könnte im Gegenteil durch den drastischen Rückgang der Größe der drei Eisfelder (über die ein Aufstieg relativ gut möglich ist) auch zu erhöhten Schwierigkeiten beim Überwinden nunmehr ausgeaperter Felspartien kommen.
6.) Hinzu kommt, daß Teile der Route durch von den Vorgängern hinterlassene Fixseile teilweise „entschärft“ worden sind. Z.B. befindet sich am „Hinterstoisser-Quergang“ immer wenistens ein (!) festes Seil (wie lange es dort schon hängt und wieviel man dem dann noch vertrauen kann, muß jeder selbst einschätzen).
7.) Natürlich ist die allgemeine Leistungsentwicklung im Sport im letzten halben Jahrhundert geradezu explodiert (und nicht nur im Bergsteigen). Intensivere Trainingsmethoden, eine andere Einstellung zum Training einschließlich bedingungsloser Anpassung der Ernährungs- und Lebensgewohnheiten können Menschen hervorbringen, deren Leistungsvermögen auf einem für den „Normalsterblichen“ unvorstellbaren Niveau liegt.
Man bednke: Allein den Höhenunterschied zwischen Einstieg (und hier entsteht schon die Frage: Wo ist dieser? Ab welcher Stelle beginnt die Zeitmessung bei einem derartigen Rekordversuch?) und Eigergipfel auf „bequemen“ Wege (zB. über eine Treppe) zu überwinden, würden wohl nur sehr wenige unter drei Stunden schaffen.
So weit meine Meinung dazu. Ich habe versucht, ohne Anspruch auf Vollständigkeit, einige Faktoren zu beleuchten, deren Zusammenspiel dann solche unwahrscheinlichen Rekorde möglich macht. Allerdings, um auf dem Boden der Realität zurück zu finden: Die Eiger-Nordwand, auch über die klassische Heckmayer-Route, stellt auch heute noch eine der anspruchsvollsten Unternehmungen dar, zu der selbst heute noch die meisten unserer besten Alpinisten (und andere haben dort nichts zu suchen) in der Regel zwei Tage benötigen, also nicht ohne Biwak auskommen.
Trotzdem - die Faszination „Berg“ bleibt und ich wünsche allen, die sich daran erfreuen können, dort die Fähigkeit zu klugen und verantwortungsbewußten Entscheidungen als Gewähr für eindrucksvolle und bleibende schöne Erlebnisse.
Mit sportlichem Gruß Horst