Hallo,
nur um (den meisten von) Euch die Ablehnung von Herberts Gedanken ein wenig schwerer zu machen, möchte ich zwei Aspekte klären, die in den meisten der Antworten hier angesprochen wurden:
„Ausbeutung“: Der Ausdruck klingt in unseren Ohren pejorativ und moralisierend.
Innerhalb der marxistischen Ökonomie ist er aber rein deskriptiv gemeint.
Am besten zu veranschaulichen ist die Ausbeutung in einer historischen Perspektive:
In Sklavenhaltergesellschaften wird der zur Arbeit gezwungene Sklave über den ganzen Tag verteilt ausgebeutet: Er schafft Produkte, deren Wert über dem Wert liegt, das all die Dinge kosten, die der Sklavenhalter einsetzen muss, um den Sklaven zu ernähren, zu kleiden, etc., insgesamt: um ihn am Leben zu erhalten.
Im Feudalismus wird der Leibeigene nur einen bestimmten Teil des Tages ausgebeutet: Z.B. erzeugt er 9 Stunden am Tag Produkte, die er selbst behält, nur eine Stunde Produkte, die sein Lehnsherr erhält (der berühmte Zehnt).
Im Kapitalismus ist die Situation komplexer: der Arbeiter erzeugt Produkte, welche einen bestimmten Wert besitzen; dieser Wert aber ist in der Regel höher als der Arbeitslohn, den er für seine Arbeit bekommt.
Man könnte hier von Lohnsklaverei sprechen, weil man es nach dem Muster der Sklaverei analysieren könnte: der Arbeiter wird den ganzen Tag ausgebeutet, der von ihm erzeugte Wert ist schlicht höher als das was er kostet um weiter seine Arbeit zu verrichten.
Man könnte aber auch von Lohn-Leibeigenschaft sprechen, wenn man sagt, der Arbeiter bekommt z.B. (das ist eine wechselnde empirische Größe) genau den Wert seiner Arbeit, also Lohn, erstattet, würde er exakt sieben Stunden arbeiten. In der Tat aber arbeitet er acht Stunden, weswegen diese achte Stunde rein der Mehrwert des Unternehmens ist.
„Ausbeutung“ bzw. „Mehrwert“ ist also genau wie die Kategorie „Profit“ (in welche zusätzlich noch andere Faktoren hineingerechnet werden) nichts mysteriöses und nicht skandalöses, sondern ein unbestreitbares Faktum des ökonomischen Geschehens.
Herberts Ausgangsthese (die viele bestritten haben) war, dass wir Europäer die Menschen der Dritten Welt ausbeuten würden:
Auch in der Dritten Welt verläuft der Produktionsprozess in der eben beschriebenen Form: Unternehmen erzielen Mehrwert/Profit durch Ausbeutung von Arbeitskraft.
Die Frage ist nun: wohin gelangen diese Profite?
Und die Antwort ist eindeutig: zu uns, die wir als Aktionäre an diesen Unternehmen beteiligt sind, direkt über Einlagen, indirekt über Zinsen, etc., aber auch über Transferleistungen, also über Leistungen, die uns unser Wohlfahrtsstaat beschert, weil diese durch Steuereinnahmen, etc. finanziert werden, welche eben von Leuten mit Kapitaleinkünften bezahlt werden, welche wiederum ihren Ursprung in der Ausbeutung haben.
Das Ganze ist natürlich noch viel komplexer, in der Kürze aber nicht besser darstellbar.
Das entscheidende Faktum ist also:
wir treiben Handel mit der ganzen Welt, wir tätigen Direkteinlagen in der ganzen Welt, investieren also überall, wo es sich lohnt (nicht unbedingt in direkter Weise, aber unsere Banken und Versicherungen tun dies für uns, wenn wir etwas Geld sparen, etc.), womit unstrittig ist, dass der Reichtum des Westens/Nordens eng mit der Armut des Südens verknüpft ist.
…
Zum Nullsummenspiel: Das Dogma des Developmentalismus (Modernisierungstheorien), dass jeder Staat in der Welt theoretisch unser Wohlstandsniveau erreichen könnte, wenn er sich denn nur so entwickeln würde, wie wir das getan haben, ist noch immer weit verbreitet, dennoch spricht empirisch nichts dafür.
Die Gegenprogramme zum Developmentalismus: die teoria de dependencia und die Weltsystemtheorie gehen dagegen davon aus, dass, solange das Weltsystem als Ganzes noch nicht an seine Grenzen gekommen ist, Entwicklung möglich ist;
heute aber ist die Grenze der Entwicklung nahezu erreicht: es gibt (außer Kuba, Nordkorea, Butan, etc.) keinen Fleck der Erde mehr, an dem nicht „ausgebeutet“ (nicht im moralischen Sinne, sondern rein im ökonomischen Sinne verstanden!) werden könnte, überall ist die Ökonomie kapitalistisch organisiert; (sog. „äußere Landnahme“)
und auch innerhalb dieser erschlossenen Gebiete ist fast jeder weiße Fleck getilgt, d.h. die Zahl derjenigen, die reine Subsistenzwirtschaft betreiben (z.B. Bauern, die genau das selbst essen, was sie selbst geerntet haben, etc.) ist bei uns nahezu Null, in den „Entwicklungsländern“ nimmt sie stark ab (erzwungen meist durch die dortige Gesetzgebung), d.h. fast niemand kann sich mehr der kapitalistischen Ökonomie entziehen. (sog. „innere Landnahme“)
In einer solchen Situation geht dieses Paradigma von einem Nullsummenspiel aus, und zwar nicht aus logischen, sondern empirischen Gründen:
der Wohlstand mehrt sich nicht mehr, sondern verschiebt sich nur noch, weil dieses System kein „Außerhalb“ mehr besitzt, aus dem es einen Input beziehen könnte bzw. kostenfrei externalisieren könnte;
es wird z.B. irgendwann billige Rohstoffe wie Erdöl aufgebraucht haben, wird irgendwann seine Umweltschäden zu reparieren versuchen müssen, weil es sonst nicht weiter existieren kann, etc.
Wallerstein drückt diese Situation so aus: „If a new area comes in, an old area must go out […] If in the next 30 years China or India or Brazil were in a true sense to ‚catch up‘, a significant segment of the world’s population elsewhere in this world-system would have to decline as a locus of capital accumulation“ (in W., Unthinking Social Science, p. 119)
Den China-Effekt, also die Auswirkungen der zunehmenden Verlagerung des Kapitals nach Südostasien erleben wir bereits heute schmerzvoll, die Auswirkungen der Verlagerung des Kapitals nach Europa nach dem 2. Weltkrieg haben etwa die lateinamerikanischen Staaten erlebt (noch in den 50er Jahren haben viele lateinamerikanische Staaten ein höheres BSP per capita als Südeuropa gehabt), etc.
Kurz: sehr viele empirische Fakten sprechen dafür, dass wir dem Nullsummenspiel näherkommen, uns vielleicht bereits dort befinden, dass also ein Spruch wie: jedes Land ist seines eigenen Glückes Schmied, an empirischen Tatsachen insofern radikal vorbeigeht, als in der Tat viele Länder die Möglichkeit haben, sich nach vorne zu entwickeln, immer aber auf Kosten eines anderen Landes, das dadurch automatisch zurückgestuft wird.
Viele Grüße
franz