"Gnadenwagen"? (Württemberg 1816-1820)

Hallo zusammen;

in einem „Konferenzaufsatz“ aus dem Jahr 1900, entstanden im Dorf Holzmaden im OA Kirchheim, schreibt der Autor (Dorfpfarrer von Holzmaden):

„Von einer religiösen Erweckung in den Jahren vor 1820 heißt es: der Gnadenwagen sei durch den Ort damals gefahren und der Pfarrer (M. Lempp) sei dann noch mit aufgesessen.“

Mit „In den Jahren vor 1820“ ist wohl die Zeit nach den Hungerjahren von 1816/17 gemeint.

Wie muss ich mir einen solchen „Gnadenwagen“ vorstellen?
Auch über die „religiöse (pietistische) Erweckung“ dieser Zeit weiß ich nur sehr wenig. :confounded:

Danke für im Voraus für Eure Mühe!

Es grüßt
Renardo

HI

mir sagte es nichts, aber es interessiert mich :slight_smile: deswegen habe ich etwas gestöbert.

https://drw-www.adw.uni-heidelberg.de/drw-cgi/zeige?index=lemmata&term=gnadenwagen&bd4_983=F

hmmm … demnach gab es die Gnadenwagen nicht nur im kirchlichen Sinn sondern wurden auch sonst genutzt?

In dem Beispiel aus meinem Link klingt es nach Wagen die mit Material beladen waren (statt Geld in diesem Beispiel mit Holz) das an die Rechenscammer (Vorläufer des Rechnungshofes) geliefert werden sollte - also evtl. so eine Art Steuereintreibung ?!?

Sicher weiß da wieder @Aprilfisch etwas dazu :slight_smile:

Gruß h.

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Das ist in der Tat ein seltsamer und sehr seltener Ausdruck. Aber er kommt offenbar nicht nur in Württemberg, sondern auch im Rheinland vor. Dieser Wagen diente wohl zum Transport von Sachleistungen an die Rechenkammer einer Landesherrschaft.

https://drw-www.adw.uni-heidelberg.de/drw-cgi/zeige?index=lemmata&term=gnadenwagen&firstterm=gnadenverkaeufer

Kann wohl auch als Ausdruck der „reliösen Entscheidung zu spät“ bei Evangelisationen … eingesetzt worden sein um 1900. Wenn der Gnadenwagen nicht mehr da ist, hast du den rechten Zeitpunkt verpasst. Ähnlich dem Gleichnis mit den 10 Jungfrauen und dem Öl in den Lampen.

Hanna trat auch hinzu zu derselben Stunde.
Lukas 2, 38

Das war die Stunde, die Gott der Hanna schon lange zugedacht hatte. Die Maria trägt ahnungslos das Kind Jesus in den Tempel. Sie weiß nicht, dass das die Gottesstunde für die alte Hanna ist. Die Gottesstunde, wo Gott der Hanna den Heiland zeigt und schenkt und offenbart. Die Stunde, wo Gott dieser treuen Magd die letzte Tür aufschließt, dass sie eingehen darf als Kind Gottes, wo die Gnade sie umfängt.

O diese Stunde, die Gott einem Menschen bereitet, wo er einem Menschen selber die Tür zum Himmelreich öffnet! Die Hanna hat demütig auf diese Stunde gewartet und sich nach ihr ausgestreckt. Sie war also gerüstet und bereit für diese ihre Gnadenstunde.

Der Erweckungsprediger Henhöfer, der im vorigen Jahrhundert wirkte, brauchte einmal dafür ein drastisches Beispiel. Damals gab es noch keine Eisenbahnen. Einmal am Tag fuhr die Postkutsche. Die steht bereit und wartet auf Fahrgäste. Da kommen ein paar rechtzeitig und steigen ein. Jetzt muss der Postillon eigentlich abfahren. Aber er denkt: „Vielleicht hat sich einer verspätet.“ Also macht er langsam. Er nimmt dem Pferd die Decke ab. Richtig, da kommt einer gelaufen.

Jetzt setzt sich der Postillon auf den Bock. Da kommt noch einer gerannt und steigt ein. – Der Postillon zögert. Er nimmt sein Horn und bläst noch ein Stücklein. Dann fährt er ab.

Kaum ist der Wagen zum Stadttor hinaus, kommen noch zwei gerannt. Sie hatten sich In der Stadt aufhalten lassen. Da stehen sie nun. Die Post ist weg. Es ist zu spät. So ist es mit dem Gnadenwagen deines Heilandes! Er wartet lange auf dich. Er zögert deine Stunde hinaus, so lange er kann. Aber es kann auch zu spät sein.

Die Hanna war bereit zu ihrer Stunde.

Erkenne die Zeit, darin der Herr dich heimsucht!

Wahr ist’s: Gott ist wohl stets bereit
Dem Sünder mit Barmherzigkeit;
Doch wer auf Gnade sündigt hin,
Fährt fort in seinem bösen Sinn
Und seiner Seele selbst nicht schont,
Dem wird mit Ungnad’ abgelohnt.

https://info2.sermon-online.com/german/WilhelmBusch/Der_Herr_Ist_Mein_Licht_Und_Mein_Heil.html

Hallo zusammen;

soeben, zu später Stunde, habe ich selbst noch etwas zum Thema „Gnadenwagen“ gefunden:

„[…] Er war ein blöder und schwacher Herr, der beinahe die ganze Zeit seiner Regierung in schwerer und großer Krankheit verzehrt. […] Diese Krankheit war auch Schuld, daß er in Speyer nicht nach der alten Sitte einreiten konnte. Er fuhr, von 60 Pferden begleitet, in einem Gnadenwagen (Kutsche) an. 1507 und huldete im Wagen. […]“

„Gnadenwagen“, in: Gieses, Johannes von: Der Kaiserdom zu Speyer mit besonderer Rücksichtnahme auf die Geschichte der Bischöfe von Speyer. Verlag J. P. Bachem, 1876. https://www.google.de/books/edition/Der_Kaiserdom_zu_Speyer/wkQrfQhpHKYC?hl=de&gbpv=1&dq=Gnadenwagen&pg=PA264&printsec=frontcover
Seite 264, Fußnote 3 [betr. Bischof Philipp I. von Rosenberg (1504-1513 Fürstbischof von Speyer)]

Hier ist der Begriff „Gnadenwagen“ aber eher im Sinne eines „Krankenwagens“ gebraucht, das passt leider nicht wirklich zu dem von mir gesuchten Kontext. :slightly_frowning_face:

Es grüßt
Renardo

Servus,

bloß ganz allgemein, dass die Bezeichnung „Kutsche“ erst im Lauf des 18. Jahrhunderts üblich wurde und ein „Gnadenwagen“ vorher ganz schlicht eine Kutsche (im Gegensatz zum offenen, ungefederten Wagen) war.

Das hier:

ist also völlig richtig.

Wie es zu der Wortbildung kommt, kann ich aber auch mal wieder nur spekulieren: Der Gnadenwagen als herrschaftliche Kutsche im Vergleich zum einfachen Wagen der einfachen Leute könnte mit der vom genauen Rang unabhängigen Anrede „Euer Gnaden“ zu tun haben…

Dass die Stundenleute bei Evangelisationen mit geeignetem Brimborium unterwegs waren, leuchtet ein - könnte man sich auch heute bei US-Baptisten vorstellen, dass da ein großer Truck mit Lautsprecheranlage usw. über die Käffer fährt und das Volk mit Hosianna-Geschrey beschallt…

Schöne Grüße

MM

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Servus,

technisch passt das gut, finde ich:

Die Kutschen = Gnadenwagen waren wegen der Konstruktion ihrer Federung (Aufhängung des Wagenkastens an Ketten oder Gurten auf einem zum besseren Ausgleich von Unebenheiten sehr langen Gestell) zwar eindrucksvoll groß und hoben die, die damit gefahren wurden, wegen des relativen Komforts als besonders wichtige Leute hervor, aber im Vergleich zum Wagen waren sie recht schwierig und umständlich zu manövrieren.

Die Stundenleute, von denen in dem Aufsatz die Rede ist, waren hier also ähnlich wie der blöde und schwache Herr mit einer Art Stretchlimousine unterwegs, um Eindruck zu schinden.

Schöne Grüße

MM