Moin
Der letzte bekannte Überlebende der Frankfurter Schule, Jürgen Habermas, wird also heute 80 Jahre alt.
Was bedeutet euch Habermas?
Konnte er das subjektive Bewusstsein mit der objektiven Natur dialektisch versöhnen?
Kam er über Adorno in irgendeinem Aspekt hinaus?
Fällt euch etwas Spezielles zu seiner Philosophie ein?
Gruß,
Branden
Coole Vernunft-Theorie
Hi VB.
Was bedeutet euch Habermas?
Mir jedenfalls sehr viel.
Konnte er das subjektive Bewusstsein mit der objektiven Natur dialektisch versöhnen?
In seiner Theorie der Erkenntnisinteressen auf jeden Fall. Allerdings geht es ihm mehr um die allgemeinen Strukturen des Bewusstseins (bzw. Subjekts) als um das individuelle Subjekt selbst, d.h. er ist ein Philosoph der Intersubjektivität. Er lokalisiert die Vernunft in den Strukturen des intersubjektivien Kommunikationsprozesses sowie in den drei Erkenntnisinteressen (technisch-analytisch, hermeneutisch, emanzipatorisch), unter denen der Mensch die Welt erfährt und handhabt. Was die Erkenntnisinteressen betrifft, ist er von Heidegger beeinflusst.
Kam er über Adorno in irgendeinem Aspekt hinaus?
Adorno war vernunftskeptischer Pessimist, Habermas ist aber diesbezüglich Optimist, d.h. er geht von dem Gegebensein einer Vernunft aus, die in den Kommunikationsprozessen unbewusst,d.h. unabhängig vom subjektiven Willen, tätig ist. Wichtige Aspekte dieser Vernunft sind die diversen „Geltungsansprüche“ innerhalb der Kommunikation. Das einzelne Subjekt ist dieser Vernunft unterworfen, ob es will oder nicht.
Fällt euch etwas Spezielles zu seiner Philosophie ein?
Habermas ist etwas zu metaphysikkritisch, aber nobody is perfect.
Gruß
Horst
Na ja - viele Fragen auf einmal.
Aber ich denke, man kann einem solchen klugen Kopf, der auch sehr sehr viel schrieb und schreibt, nie gerecht werden.
Denn in solche einem Konvulut an Essays und Büchern findet man ja oft auch - ohne seine Absicht - widersprüchliches.
Er würde dann seine beiden langen arme hochheben und sagen: Nichts … so isses halt.
Jder muss das BESTE für SICH und die GESELLSCHAFT auds seinen Schriften herausholen.
DAS ist auch seine Maxime. Wie ich, verkauft er leine Lehren, sondern stellt seine Ideen zur Verfügung.
Wer sie fassen kann, der fasse sie
Aber ich denken, was Adorno betrifft, da ist Habermas sicher ganzheitlicher gewesen in seinen Analysen.
Nicht zu sehr verbohrt (na ja sagen wir fokussiert) auf eine Theoroe (wie die Kritische Theorie) und auch nicht vorbeladtet gewersen wie Adorno (KZ, Judentum etc)
Habermas ist MULTI, wie ich — nur noch besser
Aber jetzt ein Punkt, den Ihr hier auch gerne aufgreifen könnt:
Habermas? Laut Stuttgarter Zeitung:
„Der egalitäre Universalismus,
aus dem die Ideen von Freiheit und solidarischem Zusammenleben entsprungen sind,
ist unmittelbar ein Erbe der jüdischen Gerechtigkeits- und christlichen Liebesethik.“
DAS soll Habermas wirklich so gesagt haben??
Er müsste doch wissen, dass dieser alte Streit zugunsten der Aufklärung, gegen die Kirchen, aber auch gegen die religionen verloren ist. Aber - wie gesagt - das ist ein extra Thema, aber ich will wissen, ob Habermas das so gemeint hat??
Gruss
MultiVista
@ MUltivista + @ Horst
Hi
Danke euch für die inhaltlich reichen Antworten. Ich verstehe auch, dass ihr Habermas beide den Vorzug vor Adorno gebt. Aber Adorno hat den schöneren Stil, finde ich.
Gruß,
Branden
Peinlicher Kniefall vor der Kirche
Hi Multivista.
Das Zitat stammt aus seinem Buch „Zeit der Übergänge“:
„Der egalitäre Universalismus, aus dem die Ideen von Freiheit und solidarischem Zusammenleben entsprungen sind, ist unmittelbar ein Erbe der jüdischen Gerechtigkeits- und christlichen Liebesethik.“
DAS soll Habermas wirklich so gesagt haben??
Sogar geschrieben. Er hat sich 2004 ja auch mit Ratzinger getroffen, was ebenso erstaunlich ist.
Egalitärer Universalismus - das bedeutet so in etwa, dass alle Menschen gleiche Rechte haben und dass das Handeln des Einzelnen primär auf das Allgemeinwohl ausgerichtet sein sollte statt auf sein eigenes. Inwiefern sich jetzt ausgerechnet das Christentum darin hervorgetan hat außer in frommen Sprüchen, sei dahingestellt. Die christliche „Liebesethik“ schien im Mittelalter jedenfalls nicht im Widerspruch zur christlichen Hatz auf jüdische Mitbürger zu stehen.
aber ich will wissen, ob Habermas das so gemeint hat??
Na ja, wie ich schon schrieb: nobody is perfect.
Horst
Habermas oder Adorno
Hallo Torsten,
…dass ihr Habermas beide den Vorzug vor Adorno gebt. Aber
Adorno hat den schöneren Stil, finde ich.
Ob Adornos Stil schöner ist, ist nur Geschmackssache, und de
gustibus…
Aber es gibt einen anderen Grund, ihm den Vorzug zu geben:
weil er im Alter ja doch noch radikal geworden ist, wenn auch
ziemlich versteckt, im sonst schwer verdaulichen Werk Negative
Dialektik, stw 113, S. 267-283.
Du wirst die Passage sicher kennen, wo z.B. S. 269 steht:
In ihren heroischen Zeiten hat die Freudsche Schule … die
rücksichtslose Kritik des Überichs als eines Ichfremden,
wahrhaft Heteronomen, gefordert. Sie durchschaute es als
blinde und bewusstlose Verinnerlichung gesellschaftlichen
Zwangs … Kritik des Überichs aus sozialem Konformismus
[ge]bremst … das Schandmal der unfreien Gesellschaft …
Habermas dagegen: er dient sich dem Papst als Juniorpartner
an. Dazu gehört sicher Mut bei einem, der sich als Aufklärer
versteht, aber es offenbart auch klar den geistigen Bankrott
dieses vielgefeierten „Erben der Kritischen Theorie“.
Gruss
Nescio
Na ja, wie ich schon schrieb: nobody is perfect.
Hi,
Horst!
Sein Dictum von den „religiös Unmusikalischen“ gefällt mir aber ganz gut.
Hannes
d’accord
Hallo Nescio
Aber es gibt einen anderen Grund, ihm den Vorzug zu geben:
weil er im Alter ja doch noch radikal geworden ist, wenn auch
ziemlich versteckt, im sonst schwer verdaulichen Werk Negative
Dialektik, stw 113, S. 267-283.
Ja, damit hast du wohl recht. Wir sind da gar nicht weit auseinander, denn was ich als „schönen Stil“ empfinde und meine, ist ja letztlich auch die S c h ä r f e seines Stils, die Schärfe seiner Gedanken, die Unangepasstheit des Adornoschen Denkens, die kritische Denke eben, wie sie -wie du schon schreibst- in der „Negativen Dialektik“ gut zum Ausdruck kommt.
Gruß,
Branden
Jürgen Habermas, der die Gründerväter der Frankfurter Schule, Horkheimer und Theodor Adorno am Ende beerbte, wollte sich trotz dieser Erfahrungen und Ängste nicht deren Pessimismus anschließen.
Adorno war eben eher der Ästhet (Musik!)
Habermas mehr der Vernunfts-Analytiker…
bis er alt wurde, dann ereilte ihn doch eine gewisse Furcht vor dem Allmächtigen
Kniefall statt Altersweisheit…
mag ich nicht!
Übrigens soll Habermas auch nach wie vor ein Mitglied der Protestantischen Kirche sein…
Ob er sich dazu mal äusserte?
Gruss
MultiVista
ach ja:
„Gegen Adornos aphoristisch zugespitzte Absagen an die Gegenwartsmoderne … argumentiert er darum unverdrossen «rational», beharrend auf Klarheit…“
Habermas´ Kniefall - eher ein banaler Ausrutscher
Hi Nescio.
Habermas dagegen: er dient sich dem Papst als Juniorpartner an. Dazu gehört sicher Mut bei einem, der sich als Aufklärer versteht, aber es offenbart auch klar den geistigen Bankrott dieses vielgefeierten „Erben der Kritischen Theorie“.
An Habermas wird ohnehin kritisiert, dass er der Kritische Theorie den kritischen Stachel gezogen habe. Seine Vernunfttheorie aber bleibt, finde ich, dennoch ein Meilenstein. Das Andienen an das Christentum empfinde ich nicht unbedingt als „geistigen Bankrott“, sondern als unbeholfenen Ausdruck seines vagen Sehnens nach Metaphysik, die er eigentlich ablehnt, unbewusst aber irgendwie vermisst.
Horst
Gruss
Nescio
Der große Denker ist metaphysisch untalentiert
Hi Hannes.
Sein Dictum von den „religiös Unmusikalischen“ gefällt mir aber ganz gut.
Genau das meinte ich in meine Antwort an Nescio: dass Habermas metaphysische Neigung hat (unbewusst), dies aber nur unbeholfen zum Ausdruck bringt, d.h. er hat kein „Talent“ für das Metaphysische.
Horst
„Gegen Adornos aphoristisch zugespitzte Absagen an die
Gegenwartsmoderne … argumentiert er darum unverdrossen
«rational», beharrend auf Klarheit…“
Und vermutlich macht ihn das auch ein wenig langweiliger als Adorno.
Naja, im Ernst: Nicht jeder Philosoph ist auch ein guter Schreiber.
Adorno war halt beides; er hatte halt auch das Talent, seine originellen Gedanken gut zu formulieren.
Gruß,
Branden
Hallo Hannes,
Sein Dictum von den „religiös Unmusikalischen“ gefällt mir aber ganz gut.
Ich weiss nicht, was du an diesem Diktum — das m.W. übrigens von Max Weber stammt — gut findest. Dass es entlarvend ist?
Ich sehe darin jedenfalls eine weitere prägnante Äusserung seines „Kniefalls“ (Horst) vor der Catholica / dem Christentum bzw. seines „geistigen Bankrotts“ (ich) als Aufklärer: das Eingeständnis, einen wichtigen Bereich des menschlichen „Seins“ nicht wahrnehmen zu können. Dazu passt freilich, dass er aufgrund dieses Mangels sich als nicht gleichrangiger (Junior-)Partner des Papstes anbietet.
Gruss
Nescio
Hi Branden,
nun ist ja eigentlich genug geschrieben worden,
grad im Flieger hab ich eine Laudatio gelesen,
während mein Nachbar eine andere in einem
Konkurrenzblatt las!
Was mir zwiespältig erschien, ist die gemeinsame
Auffassung, dass Habermas nun viel bewirkt hätte?!
Denn grad die Soziologen, wie Luhmann, setzen hier
in ihrer Kritik an! H. ist ein Idealist, der sich
mit seinen Idealen von der Realität entfernt und somit
fehlt seinen Moralgrundsätzen die praktische Relevanz!
Habermas konterte mit seinem Werk: Erläuterungen zur
Diskursethik!
Und wenn ich seine Ausführungen darin, mit dem
tatsächlichen Weltgeschehen, mit den Intrigenspielen
in Politik, Wirtschaft, Religionen etc. vergleiche,
dann suche ich vergeblich nach Indizien wo Habermas
und Leute in seinem Kontext oder adäquatem Denken
wirklich etwas bewirkt hätten.
Oder bezieht sich dieses *etwasbewirkthaben*, nur
auf den Olymp ethisch-geistig-elitärer Diskurstheorie?
Was mir fehlt ist einfach die pragmatische Relevanz!
Was nützen Idealisten in theoretischen Höhen, die
die Realität des täglichen Machtkampfes nicht
erreichen? Oder ist Habermas seiner Zeit einfach nur
voraus?
Aber ich bin auch kein Laudator!
Gruß
ST
Salut,
Was mir zwiespältig erschien, ist die gemeinsame
Auffassung, dass Habermas nun viel bewirkt hätte?!
…
Und wenn ich seine Ausführungen darin, mit dem
tatsächlichen Weltgeschehen, mit den Intrigenspielen
in Politik, Wirtschaft, Religionen etc. vergleiche,
dann suche ich vergeblich nach Indizien wo Habermas
und Leute in seinem Kontext oder adäquatem Denken
wirklich etwas bewirkt hätten.
Was ist denn nun das Viele, das er bewirkt haben soll ?
Ich glaube, ein Versuch, dies konkret zu benennen, wäre ernüchternd und würde zeigen, dass es ziemlich banale Dinge sind, triviale Gedanken, terminologisch aufgeputzt, die man ihm als Verdienst anrechnet, ein Fall, so ungefähr wie der des Sir Karl Popper. Bei den Anglophonen ist er wohl deswegen auch der meistzitierte deutsche Philosoph. Das zeigt aber nicht, dass er etwas bewirkt hat, sondern eher, dass er der Philosoph resp. „Philosoph“ des status quo ist. Allerdings scheint er vor kurzem selbst bemerkt zu haben, wie dürftig sein Theoriegebäude ist: so jedenfalls erkläre ich mir, grob gesagt, seine Anbiederung an Rom.
Gruss
Nescio
Servus,
Allerdings
scheint er vor kurzem selbst bemerkt zu haben, wie dürftig
sein Theoriegebäude ist: so jedenfalls erkläre ich mir, grob
gesagt, seine Anbiederung an Rom.
Diskursethik bedingt, dass alle tatsächlich und potentiell
Betroffenen, den Grundsätzen zustimmen könnten!
Eine solche Basis fordert Kompromisse! Der Gebrauch der
praktischen Vernunft im lebensweltlichen Kontext.
Habermas „Anbiederung“ ist ein solcher Kompromiss und zeigt,
da stimme ich dir zu, die Dürftigkeit seiner Theorie.
H. spricht außerdem, in weiterer Hinsicht, von einem
universalen moralischen Grundsatz, der nicht von einer
partikularen Gemeinschaft, sondern von der globalen
Weltgemeinschaft ausgehen könnte.
Immerhin hat er hier selbst erkannt, dass es keine direkte
Anwendungsmöglichkeit gibt.
Was er denn nun wirklich so Bedeutendes „bewirkt“ haben
soll, bleibt wohl das Geheimnis der Laudatoren!
Sei gegrüßt
ST
Was er denn nun wirklich so Bedeutendes „bewirkt“ haben
soll, bleibt wohl das Geheimnis der Laudatoren!
Da bin ich im Grunde mit euch beiden einer Meinung.
So ähnlich ging es mir ja bei seinem Antipoden Karl Popper, der ähnlich weichgespült rüberkam, nur von der anderen Seite. Der hat nur noch mehr Banalitäten draufgehabt. Den haben sie sogar zum SIR ernannt, vermutlich, weil er ihnen ebenfalls so gut in ihren spätkapitalistischen Kramladen passte.
Gruß,
Branden
Habermas - Retter des Vernunftbegriffs
Hi Sun Tsu.
Diskursethik bedingt, dass alle tatsächlich und potentiell
Betroffenen, den Grundsätzen zustimmen könnten!
Für Habermas gibt es keine voraussetzungslosen Normen, sondern jede Norm, jeder Wert kann und muss hinterfragt werden. Dabei sind das Für und Wider im Rahmen einer rationalen herrschaftsfreien, also zwanglosen Diskussion abzuwägen.
Natürlich gibt es Grundnormen, der „tatsächlich alle“ zustimmen würden - z.B. das grundsätzliche Tötungsverbot. Nur was die Ausnahmen von diesem Verbot betrifft, gehen die Meinungen auseinander. Dann beginnt eben der Diskurs mit seinen möglichst rationalen Argumenten.
Rational, das heißt: mit Begründungen argumentierend. Die Mechanismen der Rationalität sind in die Strukturen der Kommunikation eingebaut als etwas Unhintergehbares - in diesem Sinne sind sie „transzendental“.
Habermas „Anbiederung“ ist ein solcher Kompromiss und zeigt,
da stimme ich dir zu, die Dürftigkeit seiner Theorie.
Nein, zeigt sie nicht. Zu Beginn unseres Kontakts hatte ich dich schon auf die kleinen Mängel hingewiesen, die sich bei fast jedem Philosophen finden lassen, siehe Heidegger, Nietzsche, Platon usw. Habermas hat viel für die Rettung des Vernunftbegriffs getan, der von den Postmodernen so in den Schmutz gezogen wurde.
Gruß
Horst