Hermeneutik vs. Szientismus oder beides
Lieber Horst!
Der hermeneutische
Ansatz (in der Metatheorie) erscheint mir sinnvoller, weil
offener.
Ich gehe jetzt nur darauf ein, weil ich ja vom „halben Freud“ sprach.
Am Konzept der „Nachträglichkeit“ (als Lacan-Fan müsste dir das ja sehr gefallen, weil es ja eigentlich dessen Baby ist) wird vielleicht klar, was ich meine. Es wird notwendig etwas umfangreich werden.
Eine Anekdote zur Übersetzung Freuds ins Englische („Standard Edition“):
Strachey wollte angeblich „nachträglich“ erst als „retroactively“ übersetzen, Jones setzte dann die Übersetzung „deffered action“ durch.
Retroaktion heißt: Szene I (also die chronologisch frühere Szene; Freud benennt sinnigerweise eigentlich I als II und II als I, also nicht verwirren lassen, falls dir der Text mal über den Weg läuft) erhält ihre Bedeutung erst durch nachträgliche Sinn-Zuschreibung, Auslegung, Resignifikation.
Dies geschieht in Szene II.
Das ist Hermeneutik, der Zeitpfeil geht ‚rückwärts‘.
Deffered action heißt: in Szene I wird etwas aufgeschoben für Szene II, ist aber in I bereits enthalten, so dass Szene I Szene II determiniert. Das ist Szientismus, der Zeitpfeil geht ‚vorwärts‘.
am Fall des „Wolfsmanns“ erklärt:
hermeneutische Deutung: Szene II, der Traum von den Wölfen, resignifiziert Szene I, die Urszene (Beobachtung des elterlichen Koitus), verleiht also der Urszene erst ihren Sinngehalt. II versteht I.
szientistische Deutung: die Urszene im Alter von 1,5 Jahren, also Szene I, beinhaltet schon all das, was sich dann aber erst in Szene II, im Wolfstraum mit 4 Jahren, ausdrücken kann, aber eben schon in der Urszene enthalten ist, was heißt: I determiniert bzw. erklärt II.
Nun kann man aber gerade die Wolfsmann-Geschichte nicht nur hermeneutisch lesen, weil man dann halt nicht mehr Freud lesen würde, sondern beispielsweise Jung.
In der Tat haben die beiden gerade in dieser Frage ja eine bittere Kontroverse geführt, wobei Jung eben die „hermeneutische“ Position einnahm, das vielleicht bekannte Konzept des „Zurückphantasierens“, Freud aber nicht einfach eine „szientistische Position“, sondern eine Position, die zwischen beiden hin- und herschwankte.
Das trifft m.E. auf Freud auch insgesamt zu, darum finde ich eben einen „hermeneutisierten“ Freud à la Habermas nur noch einen halben, und damit gar keinen Freud mehr.
Das hat für mich erst mal noch nichts mit allgemeinen Erwägungen zu tun, wie reduktionistisch denn nun die Psychoanalytiker wären, sondern ich brauche diesen „ganzen“ Freud um ihn überhaupt einigermaßen konsistent lesen zu können (was bei ihm eh schwierig ist, weil es nichts gibt, was er gesagt hat, ohne irgendwo anders das Gegenteil gesagt zu haben).
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