Habermas wird heute 80

Theorie und Praxis
Hi Horst,

Für Habermas gibt es keine voraussetzungslosen Normen,…

bevor wir jetzt aneinander vorbeireden, ich beziehe
mich explizit auf den Diskurs zwischen Habermas und
Luhmann!

Hier versucht jemand sogar ein Annäherung:

http://sammelpunkt.philo.at:8080/1075/1/geltungsansp…

Es geht um Theorie und Praxis! Hast du diese Auseinandersetzung
verfolgt?

Nein, zeigt sie nicht.

Dann sind wir eben kontroverser Meinung!

Zu Beginn unseres Kontakts hatte ich
dich schon auf die kleinen Mängel hingewiesen, die sich bei
fast jedem Philosophen finden lassen,

Nichts für ungut, aber ich glaube, das versteht sich von
selbst!

Wenn dir seine theoretischen Exkursionen zusagen,
habe ich kein Problem damit! Wir müssen nicht zwangsläufig
einer Meinung sein! Mir sind pragmatisch relevante
Elemente eben von höchster Priorität, vor allem dann,
wenn praktische Vernunft thematisieren!

Gruß
ST

Naja, im Ernst: Nicht jeder Philosoph ist auch ein guter
Schreiber.
Adorno war halt beides;

Sehr richtig, lieber vanBranden, darum heißt seine „Ästhetische Theorie“ auch nicht „Theorie über Ästhetik“ …

Es grüßt dich mal wieder :wink:
_ ℂ Λ ℕ Ð I Ð € _

P.S.: Inhaltlich: ich denke schon, dass es stimmt, dass der Habermas da über den Adorno rausgekommen ist, wo er es auch behauptet: von der Subjektphilosophie hin zu einer Intersubjektivitätsphilosophie. Der Adorno hat am Ende ja nur noch lauter Aporien feststellen können.

Noch mehr hat aber der Helmut Dubiel recht, dass es lächerlich ist, den Habermas noch immer ernsthaft als Vertreter der Frankfurter Schule zu sehen.

1 Like

Lieber _ ℂ Λ ℕ Ð I Ð € _
Gestern habe ich an dich gedacht! Ich dachte: Warum hat er so lange nichts geschrieben?! Dann dachte ich: Seine Uni-Karriere läuft einfach so stark an…

P.S.: Inhaltlich: ich denke schon, dass es stimmt, dass der
Habermas da über den Adorno rausgekommen ist, wo er es auch
behauptet: von der Subjektphilosophie hin zu einer
Intersubjektivitätsphilosophie. Der Adorno hat am Ende ja nur
noch lauter Aporien feststellen können.

Ja; ich weiß: Ich bin recht verführbar durch einen guten Stil und kurze, knackige Geistesblitze. Deshalb hab ich auch Nietzsche gern gelesen.

Noch mehr hat aber der Helmut Dubiel recht, dass es lächerlich
ist, den Habermas noch immer ernsthaft als Vertreter der
Frankfurter Schule zu sehen.

Stimmt wohl. Ich kann da auch nicht mehr viel erkennen von der einstmals zündenden freudomarxistischen Leidenschaft…
Es grüßt dich
Branden

Hallo, _ ℂ Λ ℕ Ð I Ð € _

P.S.: Inhaltlich: ich denke schon, dass es stimmt, dass der
Habermas da über den Adorno rausgekommen ist, wo er es auch
behauptet: von der Subjektphilosophie hin zu einer
Intersubjektivitätsphilosophie. Der Adorno hat am Ende ja nur
noch lauter Aporien feststellen können.

Und mehr konnte/kann „Kritische Theorie“ auch nicht leisten.
Insofern stimme ich dem zu,

dass es lächerlich
ist, den Habermas noch immer ernsthaft als Vertreter der
Frankfurter Schule zu sehen.

Wobei ich jetzt nicht genauer zu wissen brauche, was du mit
„Frankfurter Schule“ und „Kritische Theorie“ meinst.
Für mich zählt als „Kritische Theorie“ im Grunde nur die
der 30er Jahre.

Gruss
Nescio

Die rationale Matrix
Hi Sun Tsu.

bevor wir jetzt aneinander vorbeireden, ich beziehe
mich explizit auf den Diskurs zwischen Habermas und
Luhmann!

Gebongt, aber sag das doch gleich :smile:

Es geht um Theorie und Praxis! Hast du diese Auseinandersetzung verfolgt?

Vor längerer Zeit mal darüber gelesen, aber das Meiste wieder vergessen. Danke für die Gelegenheit zur Auffrischung.

Was die Debatte H. vs. Luhmann betrifft - nun, da ist sicher eine Synthese möglich. Beide nähern sich ihrem Forschungsgegenstand aus sehr unterschiedlichen Perspektiven und erhellen so jeweils Aspekte, die der andere vernachlässigt. Mir erscheint aber Habermas´ Ansatz letztlich fruchtbarer, denn er ist näher dran am Menschen.

Ähnlich war doch Sartres Problem mit dem Marxismus. Ihm schien der M. sich vom Menschen entfernt zu haben, indem dieser das Primat des Systemganzen über die Würde des Partikularen (eben das Individuum) stellt. Luhmann geht ebenfalls vom Primat ganzer Systeme aus und sieht Rationalität als einen Prozess, der Systeme mit ihrer Umwelt vermittelt. Das Individuum verschwindet darin wie ein Wassertropfen im Meer.

Natürlich sagt auch Habermas (wie ich ja schon woanders feststellte), dass Rationalität (Vernunft) eine über-individuelle Instanz ist, aber er leugnet nicht die Möglichkeit des Individuums, a l s Individuum bewusst rationale Entscheidungen zu treffen. Das ist etwas anderes als die Luhmann´sche Rationalität, die eine Kompetenz von übergeordneten Systemen ist.

Noch ein Wort zur „Idealität“ der Vernunft bei Habermas: natürlich handelt der Mensch in der Praxis meist wenig vernünftig, oft gar nicht, bestenfalls gelingen ihm gute Annäherungen. Nichtsdestotrotz bleibt Rationalität die unbewusste Matrix, nach der der Mensch handelt, auch wenn er von dieser Matrix abweicht.

Die rationale Matrix selbst ist intersubjektiv (also über-individuell) und wird den Individuen per Sozialisationsprozess vermittelt. Das berührt sich hier mit Luhmann, aber der Akzent liegt auf dem Subjekt (Individuum).

Auch Sartres Blick des Andern fällt in dieses Thema. Das Subjekt ist immer nur Subjekt für den Andern. Menschsein - das heißt: ein Mensch für Andere sein.

Der strukturalistische Analytiker Jacques Lacan nannte die Matrix „Symbolische Ordnung“. Sie strukturiert die unbewussten Gesetze der Sozialität (die freilich bewusst gemacht werden können, aber auch unbewusst funktionieren, ob man will oder nicht).

Diese symbolische Ordnung ist für Lacan notwendig, um das „Imaginäre“, also den egozentrischen, narzisstischen Machttrieb des Subjekts zu bändigen und in die Intersubjektivität einzubinden.

Für heute „nur“ so viel.

Gruß Horst

Hi Horst,

mich explizit auf den Diskurs zwischen Habermas und
Luhmann!

Gebongt, aber sag das doch gleich :smile:

oh das habe ich gleich im ersten Artikel getan! :smile:

Was die Debatte H. vs. Luhmann betrifft - nun, da ist sicher
eine Synthese möglich…

das sehe ich nun ganz anders. Ich bin ein Praktiker,
wir integrieren soziologische Erkenntnisse sehr
fruchtbar in unsere tägliche Arbeit. Während
Habermas nun ja, du kennst wohl seine Arbeit!
Natürlich kann man immer und überall eine Synthese
herstellen! Wie heißt die berühmte Aussage:
These, Antithese - Synthese
Der Link war nur zur Verdeutlichung gedacht, dass
ich Habermas nicht nur kritisch betrachte, denn
ich mag auch Lyrik! Aber diese muss nicht
so ausholend sein und sich dauernd am Zeitgeist orientieren.
Denk nur mal an seine Wende, nachdem der realexistierende
Sozialismus untergegangen ist, während er Heidegger
ob seiner Nazivergangenheit dies nicht zugestanden hat.

Aber ich bin nicht der Nabel der Welt! Wenn ich gefragt
werde, dann antworte ich eben, ohne Anspruch aber auch
ohne mich an populistische Vorgaben zu halten.

Wie sagte Hegel einmal:

Wer die öffentliche Meinung nicht zu verachten versteht,
wird es nie zu Großem bringen! :smile:

Gruß
ST

1 Like

Von Adorno zu Habermas
Hi Sun Tsu.

Mir wird immer noch nicht klar, welche wirklich substantiellen Dinge dir bei Habermas nicht gefallen. Du kritisierst seine Annäherung an die Kirche (die verzeihbare Schwäche eines alten Mannes, sage ich), bemängelst eine „Wende“ nach dem Zusammenbruch des Realsozialismus (damit meinst du wohl ein Abwenden seinerseits vom Marxismus, was ja so falsch nun wirklich nicht ist) und weist darauf hin, dass du Praktiker bist (aber wer ist das nicht, wenn er keine theoretischen Bücher schreibt?).

Habermas war in erster Linie ein Philosoph der Rationalität (Erkenntnisinteressentheorie, Kommunikationstheorie, alles längst vor 1990 geschaffen). Hier ist die Substanz seines Werks, auf die man sich beziehen sollte, wenn man ihn kritisiert. Sein Ausrutscher hin zur Kirche (er ist und bleibt aber Atheist!) und sein Für und Wider zum Marxismus sind dritt- bzw. zweitrangig. Es geht doch um das W e r k von Habermas, nicht um den Menschen. Und das (vorgenannte) Werk ist marxistisch beeinflusst, insofern es Emanzipation von Unterdrückung als Kernthema hat.

Wie sagte Hegel einmal: Wer die öffentliche Meinung nicht zu verachten versteht, wird es nie zu Großem bringen! :smile:

Deshalb bin ich ja auch zu Großem berufen. Aber, ähem, im Ernst:

Ausgerechnet Hegel als Argument gegen Habermas´ wirklichen oder vermeintlichen Opportunismus anzuführen, greift meiner Ansicht nach nicht. Denn Hegel (dessen Werk ich sehr bewundere) war erst ein glühender Bewunderer der Frz. Revolution (die v o l l dem Zeitgeist entsprach…), dann ein Anhänger der preußischen Monarchie.

Ich denke, als analytisches Instrument ist der Marxismus großartig und ein zeitloser Klassiker. Als Praxis kann und muss man ihn vergessen.

Adorno sah die Dialektik der Aufklärung als Rückschritt im Fortschritt. Das von der Metaphysik befreite und damit metaphysisch orientierungslose Subjekt verfiel einer neuen Herrschaftsform, nämlich der instrumentellen Vernunft des Subjekts, die zwangsweise in den Untergang der Gemeinschaft führt.

Damit hatte die Vernunft innerhalb der Frankfurter Schule abgewirtschaftet. Wer, wenn nicht Habermas, hätte sie aus diesem Schlamassel befreit? Er lokalisierte sie zunächst in den Erkenntnisinteressen, dann in den Kommunikationsprozessen.

Damit hatte die Vernunft einen intersubjektiven Status, der in Hegels Werk schon lange vorgegeben war – wenn auch nur als Zwischenstadium zwischen dem subjektiven und dem absoluten Geist.

Was bedeutete, dass die Frankfurter Schule entweder überwunden oder auf einen neuen Level geführt war – je nach Perspektive.

Rationalität in der Kommunikation – das ist allerdings etwas s e h r Praktisches. Nicht umsonst heißt H.´s Hauptwerk: „Theorie des kommunikativen Handelns“.
Sprechen bzw. Kommunizieren – das i s t Praxis. Und zwar genau die Praxis, die laut Habermas zur Emanzipation des Menschen führen kann. Auf dem Weg über möglichst herrschaftsfreie Diskurse und demokratische Prozesse.

Dass sich dem viel entgegenstellt, ist klar – z.B. die von Habermas thematisierte instrumentale Rationalität (wenn sie vorherrscht) und Formen der Unterdrückung, von denen es sich durch kritische Reflexion zu befreien gilt.

Gruß

Horst

Gemeinsamkeiten von Adorno und Habermas
Hi
Wesentlicher als die Unterschiede zwischen den beiden scheint mir das Gemeinsame. Für beide war die Psychoanalyse eminent wichtig, ja, sogar das einzige wirklich relevante Instrument, um an der bestehenden Gesellschaft anzusetzen. Die Psychoanalyse offenbart einiges über den „Kitt“, der die Gesellschaft zusammenhält. Die Frankfurter Schule hat Freuds Erkenntnisse soziologisch und philosophisch erweitert.
Gruß,
Branden

1 Like

‚Die Verdrängung der Psychoanalyse bei Habermas‘
… wäre ein schöner Buchtitel, mein lieber vanBranden.

Oder sollte man besser von „Verleugnung“ sprechen?

Wesentlicher als die Unterschiede zwischen den beiden scheint
mir das Gemeinsame. Für beide war die Psychoanalyse eminent
wichtig, ja, sogar das einzige wirklich relevante Instrument,
um an der bestehenden Gesellschaft anzusetzen.

Der Habermas von „Erkenntnis und Interesse“ 1968 hat freilich noch ganz klar auf das Emanzipationsversprechen der Psychoanalyse gesetzt.

Allerdings hatte er sie auch hier schon hermeneutisch zugerichtet (ganz anders als Adorno!). Der bekannteste Beleg dafür ist seine penetrante Rede von „Freuds szientistischem Selbstmissverständnis“, womit er quasi bereits den halben Freud aus der Psychoanalyse ausschließt.

Aber schon im Nachwort von 1972/75 von (ich erinnere mich nicht genau) zur Taschenbuchausgabe, wird die Psychoanalyse in dieser obigen Funktion des Bereitstellers einer kommunikativen Idealsituation bereits ersetzt durch Sprachtheorie - und in den späteren Werken geschieht dies a fortiori.

Auch hier zeigt sich m.E. diese von mir unten angesprochene Wende von einer subjektiven zu einer intersubjektiven Auffassung der Vernunft:
es ist nicht mehr der Sprecher (und dessen zerstörtes Sprachspiel) einer Kommunikationshandlung von Bedeutung, sondern nur noch die innere Logik der Kommunikationssitutation selbst.

_ ℂ Λ ℕ Ð I Ð € _

3 Like

weniger peinlich als in der Kirche!
Na gut, ganz wäre fad, lieber Nescio, darum nun doch noch einige Worte:

Sein Dictum von den „religiös Unmusikalischen“ gefällt mir aber ganz gut.

Ich weiss nicht, was du an diesem Diktum — das m.W. übrigens
von Max Weber stammt — gut findest. Dass es entlarvend ist?
Ich sehe darin jedenfalls eine weitere prägnante Äusserung
seines „Kniefalls“ (Horst) vor der Catholica / dem Christentum
bzw. seines „geistigen Bankrotts“ (ich) als Aufklärer: das
Eingeständnis, einen wichtigen Bereich des menschlichen
„Seins“ nicht wahrnehmen zu können. Dazu passt freilich, dass
er aufgrund dieses Mangels sich als nicht
gleichrangiger (Junior-)Partner des Papstes anbietet.

Richtig, Max Weber.
Auch richtig deine Analyse zum „Mangel“.

Das mit dem Verhältnis Kirche-Habermas sehe ich aber vorsichtig anders.

Die Kernformel von Habermas’ soziologischer Theorie/Zeitdiagnose ist wohl unstrittig die „Kolonialisierung der Lebenswelt durch die Systeme“, und es ist klar, dass es ihm um Dekolonialisierung geht.

Nun die Frage: Begreift er die Kirche als „System“ (dann wäre es in der Tat ein unverständlicher Kniefall) oder begreift er sie als einen der Orte, an denen (wie verzerrt und zwanghaft auch immer), sagen wir mal, die Andacht einer Widersetzung gegen die Penetration durch die Systemlogiken stattfindet?

Das ist (eine Kehre zur Ausgangsfrage des Threads) m.E. von Adorno gar nicht so weit weg: Da wo die Aufklärung vollauf zum Mythos wurde (ganz fraglos wurde sie das in der Systemlogik der modernen Gesellschaft), da liegt es durchaus nahe, wiederum im Mythos Aufklärung zu suchen, ohne deshalb gleich dem Mythos das Wort reden zu wollen.
Dass er dialektisch denkt, und dass er Ambivalenzen aushalten kann, das immerhin kann man ihm schon zubilligen, finde ich.

_ ℂ Λ ℕ Ð I Ð € _

Hi Horst,

Mir wird immer noch nicht klar, welche wirklich substantiellen
Dinge dir bei Habermas nicht gefallen.

obwohl ich immer versuche so schlicht und allgemein verständlich
als möglich zu artikulieren?

Du kritisierst seine
Annäherung an die Kirche (die verzeihbare Schwäche eines alten
Mannes, sage ich),

Nein, das haben andere getan und ich hab das vielleicht
aufgenommen, als praktische Erklärung.

bemängelst eine „Wende“ nach dem
Zusammenbruch des Realsozialismus (damit meinst du wohl ein
Abwenden seinerseits vom Marxismus, was ja so falsch nun
wirklich nicht ist) und weist darauf hin, dass du Praktiker
bist (aber wer ist das nicht, wenn er keine theoretischen
Bücher schreibt?).

Praktiker: Damit meine ich ganz schlicht, dass für
mich praktisch relevante Werke Priorität haben.
Ich frage mich ernsthaft ob diese „Diskussionen“
hier Sinn machen, wo man mehr damit beschäftigt ist,
Missverständnisse aus dem Weg zu räumen, als in medias
res zu gehen.

Ausgerechnet Hegel als Argument gegen Habermas

Wieder so ein Ding! Es ist lediglich ein einfaches
Zitat und nicht Hegel vs Habermas.

Ich denke wir belassen es dabei.

Gruß
ST

1 Like

die Andacht einer Widersetzung
gegen die Penetration durch die Systemlogiken stattfindet?

Und die nun ihrerseits frei von Systemlogik und
Penetrationstendenzen wäre???

Gruß
ST

Ja, vielleicht

die Andacht einer Widersetzung
gegen die Penetration durch die Systemlogiken stattfindet?

Und die nun ihrerseits frei von Systemlogik und
Penetrationstendenzen wäre???

-)

Wenn er so naiv wäre, ja dann…

Du sprichst in Rätseln, mein Lieber!

-)

Wenn er so naiv wäre, ja dann…

Es ist keine Frage der Naivität, sondern eine Frage dessen, dass Habermas’ Systemtheorie von ihrem Grundaufbau her einen Ort jenseits der Systemlogik freibehält, nämlich den Bereich kommunikativen Handelns.

Aus einer Luhmannschen Perspektive/Begrifflichkeit (du führst ihn oben ja ein), wäre das obige natürlich naiv gedacht, aber Habermas ist nun mal nicht Luhmann, die beiden Theorieansätze sind doch beträchtlich unterschiedlich.

Auf dem Boden der Habermas’schen Theorie/Begrifflichkeit wäre die Frage, ob Kirche mehr ist als Macht und Geld (bekanntlich nach Habermas die beiden Steuerungsmedien der Systemintegration), also „instrumentelles Handeln“ bzw. „System“.
Solches Fragen hat mit Naivität nichts zu tun.

_ ℂ Λ ℕ Ð I Ð € _

Ist Philosophie denn etwas anderes als Rätsellösen

Auf dem Boden der Habermas’schen
Theorie/Begrifflichkeit wäre die Frage, ob Kirche mehr ist als
Macht und Geld (bekanntlich nach Habermas die beiden
Steuerungsmedien der Systemintegration), also „instrumentelles
Handeln“ bzw. „System“.
Solches Fragen hat mit Naivität nichts zu tun.

Genau das ist der neuralgische Punkt, an dem auch
Luhmanns Kritik ansetzt! Die Frage nach der praktischen
Relevanz!
Kann man denn einem autopoietischen System (Luhmann),
aus dem Kontext einer theoretischen, selbstreferenziellen
Sicht, in pragmatischer Weise begegnen?
Eine Begegnung ist immer interaktiv und ob die Kirche
nun ihrerseits dem Habermaschen Terminus gerecht wird,
wird er sich doch wohl überlegt haben?
Oder siehst du ihn bereits bester Bichselscher Gesellschaft?

http://www.yolanthe.de/stories/bichsel01.htm

Mitunter plagt mich der arge Verdacht, dass gewissen
Philosophen jeder common sense abhanden gekommen ist.
Was ich besonders irritierend finde, wenn sich grad diese
der praktischen Vernunft widmen.

Aber möglicher Weise haben wir unterschiedliche
Vorstellungen des Naivitätsbegriffs?

Im übrigen, das komplizierteste Rätsel ist das einfachste,
weil es Misstrauen weckt.

Gruß
ST

Hi Candide

Der Habermas von „Erkenntnis und Interesse“ 1968 hat freilich
noch ganz klar auf das Emanzipationsversprechen der
Psychoanalyse gesetzt.

Ja, darauf bezog ich mich im Wesentlichen. Bei den späteren Veröffentlichungen von Habermas scheint sie seinem Interesse (und seiner Erkenntnis) in der Tat zu entschwinden… :wink:

Allerdings hatte er sie auch hier schon hermeneutisch
zugerichtet (ganz anders als Adorno!). Der bekannteste Beleg
dafür ist seine penetrante Rede von „Freuds szientistischem
Selbstmissverständnis“, womit er quasi bereits den halben
Freud aus der Psychoanalyse ausschließt.

Leider (?) hat Adorno auch solche kryptischen Sätze losgelassen wie „Freud hatte recht, wo er unrecht hatte.“
Es grüßt dich
Branden

Hermeneutik vs. Szientismus
Hi Candide.

Allerdings hatte er sie auch hier schon hermeneutisch zugerichtet …

Klingt ja fast wie hingerichtet…

Der bekannteste Beleg dafür ist seine penetrante Rede von „Freuds szientistischem Selbstmissverständnis“, womit er quasi bereits den halben Freud aus der Psychoanalyse ausschließt.

Da bleibt noch genug Freud übrig, denn er war ein Titan.

Er verstand die Psychoanalyse als Naturwissenschaft - „was denn sonst?“ -, ein Thema, das ja gerade auch Baustelle im Psychobrett ist. Ich denke, Habermas liegt mit seiner Skepsis aber richtig. Es geht im menschlichen Seelenleben doch immer um Symbolisches, das interpretiert werden muss. Das ist kein Feld, auf dem strenge Kausalität herrscht. Was dem einen seine Eule ist, ist dem andern seine Nachtigall (oder so ähnlich). Zudem kommt ein wesentlich „emanzipatorischer“ (also kritischer) Aspekt bei der Analyse ins Spiel, der naturwissenschaftlich nicht greifbar ist. Die Kriterien für Emanzipation sind vielfältig und ständig im Fluss, und ihre Auswahl ist immer subjektiv. Bekanntlich hielt Freud spirituelle Neigungen für Symptome einer Regression. Ist das wissenschaftlich? Nein, nur reduktionistisch.

Die meisten Psychoanalytiker sind Reduktionisten. Man sollte ihre Wissenschaft daher nicht zur „exakten“ Wissenschaft hochstilisieren, wie es z.B. Freud tat. Der hermeneutische Ansatz (in der Metatheorie) erscheint mir sinnvoller, weil offener.

Gruß Horst

Hermeneutik vs. Szientismus oder beides
Lieber Horst!

Der hermeneutische
Ansatz (in der Metatheorie) erscheint mir sinnvoller, weil
offener.

Ich gehe jetzt nur darauf ein, weil ich ja vom „halben Freud“ sprach.
Am Konzept der „Nachträglichkeit“ (als Lacan-Fan müsste dir das ja sehr gefallen, weil es ja eigentlich dessen Baby ist) wird vielleicht klar, was ich meine. Es wird notwendig etwas umfangreich werden.

Eine Anekdote zur Übersetzung Freuds ins Englische („Standard Edition“):
Strachey wollte angeblich „nachträglich“ erst als „retroactively“ übersetzen, Jones setzte dann die Übersetzung „deffered action“ durch.

Retroaktion heißt: Szene I (also die chronologisch frühere Szene; Freud benennt sinnigerweise eigentlich I als II und II als I, also nicht verwirren lassen, falls dir der Text mal über den Weg läuft) erhält ihre Bedeutung erst durch nachträgliche Sinn-Zuschreibung, Auslegung, Resignifikation.
Dies geschieht in Szene II.
Das ist Hermeneutik, der Zeitpfeil geht ‚rückwärts‘.

Deffered action heißt: in Szene I wird etwas aufgeschoben für Szene II, ist aber in I bereits enthalten, so dass Szene I Szene II determiniert. Das ist Szientismus, der Zeitpfeil geht ‚vorwärts‘.

am Fall des „Wolfsmanns“ erklärt:
hermeneutische Deutung: Szene II, der Traum von den Wölfen, resignifiziert Szene I, die Urszene (Beobachtung des elterlichen Koitus), verleiht also der Urszene erst ihren Sinngehalt. II versteht I.

szientistische Deutung: die Urszene im Alter von 1,5 Jahren, also Szene I, beinhaltet schon all das, was sich dann aber erst in Szene II, im Wolfstraum mit 4 Jahren, ausdrücken kann, aber eben schon in der Urszene enthalten ist, was heißt: I determiniert bzw. erklärt II.

Nun kann man aber gerade die Wolfsmann-Geschichte nicht nur hermeneutisch lesen, weil man dann halt nicht mehr Freud lesen würde, sondern beispielsweise Jung.
In der Tat haben die beiden gerade in dieser Frage ja eine bittere Kontroverse geführt, wobei Jung eben die „hermeneutische“ Position einnahm, das vielleicht bekannte Konzept des „Zurückphantasierens“, Freud aber nicht einfach eine „szientistische Position“, sondern eine Position, die zwischen beiden hin- und herschwankte.

Das trifft m.E. auf Freud auch insgesamt zu, darum finde ich eben einen „hermeneutisierten“ Freud à la Habermas nur noch einen halben, und damit gar keinen Freud mehr.
Das hat für mich erst mal noch nichts mit allgemeinen Erwägungen zu tun, wie reduktionistisch denn nun die Psychoanalytiker wären, sondern ich brauche diesen „ganzen“ Freud um ihn überhaupt einigermaßen konsistent lesen zu können (was bei ihm eh schwierig ist, weil es nichts gibt, was er gesagt hat, ohne irgendwo anders das Gegenteil gesagt zu haben).

_ ℂ Λ ℕ Ð I Ð € _

1 Like

Auf dem Boden der Habermas’schen
Theorie/Begrifflichkeit wäre die Frage, ob Kirche mehr ist als
Macht und Geld (bekanntlich nach Habermas die beiden
Steuerungsmedien der Systemintegration), also „instrumentelles
Handeln“ bzw. „System“.
Solches Fragen hat mit Naivität nichts zu tun.

Genau das ist der neuralgische Punkt, an dem auch
Luhmanns Kritik ansetzt! Die Frage nach der praktischen
Relevanz!
Kann man denn einem autopoietischen System (Luhmann),
aus dem Kontext einer theoretischen, selbstreferenziellen
Sicht, in pragmatischer Weise begegnen?

Da kann ich nicht einmal mitreden, doch, halt, das gerade noch: Nein, nach Luhmann kann man es natürlich nicht, allerdings gibt es halt nun mal bei Luhmann auch keine System/Lebenswelt-Grenze.

Überhaupt glaube ich nicht, dass Habermas das System als autopoetisches System versteht, ich sehe ihn hier viel näher an Parsons als an Luhmann.

Findet denn überhaupt noch eine Luhmann-Habermas-Kontroverse statt nach Luhmanns autopoietischer Wende 1982?

_ ℂ Λ ℕ Ð I Ð € _