Lacan und der Tod des Dings
Hi Candide.
Ich erkenne im Hermeneutischen Zirkel keine Vorwärtsbewegung außer der, dass sich die Interpretation eines Textes fortschreitend immer mehr dem ursprünglichen Sinn eines Textes annähert. Dies geschieht logischerweise notwendig „retro-“, also „rückwärts“, von den Vorannahmen des hic et nunc hin zum ursprünglichen Sinn, S W
Das ist das Prinzip der Naturwissenschaften. Das aber im mentalen Bereich nicht voll zünden kann, da hier die Verhältnisse komplizierter sind, d.h. die Kontexte sind unendlich komplex, in synchronischer wie diachronischer Hinsicht. Das Unbewusste arbeitet mit einer Vielzahl irrationaler Mechanismen, die Einfluss auf den hermeneutischen Prozess (egal ob in Geisteswissenschaft oder Alltag) haben.
Der Herrensignifikant kann nur „durchsteppen“, wenn die Signifikantenkette schon vorhanden ist, er schiebt nicht von vorneherein die Signifikantenkette auf (to defer).
Das ist der eine Punkt. Ein anderer wäre, dass erst der syntaktische Kontext den Textelementen (Signifikanten) nachträglich ihren Sinn verleiht. D.h. erst wenn man einen Satz zu Ende liest, beginnt man den Sinn der Wörter zu begreifen.
Beispiel: „Eine endlose Schlange…“
Klingt phantastisch.
„…von Fahrzeugen blockierte den Highway.“
Aus dem weiteren Text könnte dann z.B. hervorgehen, dass es sich um Militärfahrzeuge auf einem Highway in Kalifornien handelt. Das erweitert wieder retroaktiv den Sinn der Wörter im obigen Satz. Aus dem weiteren Text erschließt sich dann z.B., dass die Szenerie fiktiv ist (oder real). Was wieder den Sinn retroaktiv determiniert.
Sätze werden also im Kontext von immer größeren Texteinheiten (Absätze, Kapitel, Bücher, Biografie des Autors, Zeitgeschichte) zunehmend verständlicher. Insofern ist „Nachträglichkeit“ nie abgeschlossen, wie eben der ganze Prozess des Sinnverstehens, siehe Gadamer.
Er führt die „Nachträglichkeit“ glaub ich 1953 mit seine Rede von Rom ein…
Der französische Ausdruck bei Lacan ist übrigens : „à posteriori“, gemäß Kants Ausdruck.
Natürlich war für Lacan eine vollkommene Bewusstwerdung des Subjekts (im Sinne von Habermas´ emanzipatorischer
Selbstreflexion) illusionär, da das Subjekt immer ein
Durchgestrichenes bleibt (kraft der Signifikanten).
Dieser Post-Strukturalismus stört mich ehrlich gesagt bei Lacan sehr: der (Nom du) Pere vertreibt dich unwiderruflich aus dem Paradies der jouissance in der frühen Mutter-Kind-Dyade …
Lacan ist nur Überbringer der schlechten Botschaft, nicht ihr Verursacher 
Seine Lehre besagt jedenfalls, dass Vater/Gesetz/Phallus/Sprache die harmonische Mutter-Kind-Dyade aufbricht und einen Keil zwischen das so erst wirklich entstehende Subjekt (Kind) und das fortan jenseits eines Abgrunds liegende Objekt (Mutter, Natur, Welt) treibt. So entsteht ein Subjekt, das dem Gesetz (den Signifikanten) unter-worfen (sub-ject) ist und das unter einem Mangel leidet, dessen Behebung es unablässig und ohne Hoffnung auf Erfüllung hinterher jagt (siehe objekt klein a).
Lacan sagte irgendwo in Anlehnung an Hegel: „Das Wort ist der Tod des Dings“, d.h. der die Welt symbolisierende Signifikant tritt an die Stelle der Vollkommenheit einer unio mystica, deren prärationale Variante die Mutter-Kind-Dyade ist.
Wie Wilber immer betont: das Prärationale muss durch das Rationale (hier die Sprache und das Gesetz) überwunden werden, damit das Transrationale (die unio mystica) erscheinen kann (wenn das Rationale temporär suspendiert ist).
Das ist genauso theo-ontologisches Denken wie das Habermas’sche Emanzipationsideal des zu-sich-Kommens.
Ja, zurück zu Habermas: er bezog sich in EuI auf die Psychoanalyse, weil sie für ihn ein Modell für kritisch-emanzipatorische Selbstreflexion ist. Ich finde diesen Grundgedanken gut. Marx hatte ja Entfremdung und falsches Bewusstsein auf gesellschaftliche Faktoren zurückgeführt, die den Menschen unbewusst determinieren. Das entspricht auf der Makroebene dem, was Freud im Mikrobereich des Subjekts entdeckte: dass Strukturen, wenn sie verdrängt werden – also unbewusst bleiben -, das Bewusstsein in entstellender Weise determinieren.
Es ging Habermas darum zu zeigen, dass Hermeneutik auch einen kritischen Impuls hat bzw. haben sollte, d.h. dass im Verstehen immer auch die transzendentalen Ansprüche der Rationalität wirksam sind bzw. sein sollten.
Gruß
Horst
PS. Bin erst Montag wieder online.