Feindschaften & Feindbilder
Ja, Oliver, ich kenne Deine Feindschaft gegenüber der
Psychoanalyse. 
Zuerst ist dazu zu sagen, daß Du meine Kritik an der Habermasschen Auffassung der Psychoanalyse als Kritik an der Psychoanalyse mißverstanden hast. Bei meiner Kritik an Habermas und Ricoeur handelt es sich um eine Verteidigung Freudscher Positionen, weil ich nicht der Meinung bin, daß Freud sich selbst „szientistisch“ mißverstanden hat. Das läßt sich daran sehen, daß ich von der hermeneutischen Fehlinterpretation Freuds durch Habermas und Ricoeur sprach (siehe Posting-Titel).
Hinsichtlich Deiner Interpretation meines Standpunktes Feindschaft gegenüber der PA bin ich darüber unterrichtet, daß Du per Mail an Dritte wie jetzt auch hier dies so verbreitest. Das ist eine Interpretation, die Du aufrechterhalten magst, um die berechtigte Kritik, die an der Psychoanalyse geübt wird, nicht beachten zu müssen. Man mag ja an einer schlechten Theorie festhalten, aber man sollte sich dabei eingestehen, daß sie schlecht ist (Lakatos).
Ich gestehe Dir auch gern zu, von Deinen Feindbildern zu sprechen, die Du Dir im Laufe Deines Lebens geschaffen hast. Mit meiner Haltung zur PA hat das nichts zu tun, denn diese beruht nicht auf Feindschaft oder Feindbildern, sondern auf begründeten Argumentationen. Daher erklärt sich sowohl das Festhalten an ihr als auch die Frage, warum ich andere philosophische und andere psychologische Ansichten befürworte als Du.
Hermeneutische Interpretationen
Du schreibst, Du würdest Dich weniger auf Ricoeur, sondern vielmehr auf Habermas beziehen:
das mag Ricoeurs Meinung sein (ihn hatte ich in
Klammern gesetzt, kann ihn nicht so beurteilen). Ich beziehe
mich eher auf die Frankfurter Schule, also Adorno und
Habermas.
Ich bin sowohl auf Standpunkte Ricoeurs als auch Habermas´ eingegangen. Der Habermassche Standpunkt beinhaltet den Vorwurf an Freud, dieser habe sein eigenes Werk „szientistisch mißverstanden“. Unter anderem verwirft Habermas die Gültigkeit der „szientistischen“ Kausalitätsprinzipien für die Psychoanalyse zugunsten einer „Kausalität des Schicksals“. Diese wirke sich dahingehend aus, daß die Psychoanalyse - entgegen Freuds Ansicht - nicht deshalb erfolgreich ist, weil sie Kausalzusammenhänge bei der Entstehung und Aufrechterhaltung von Neurosen erkannt hat und zur Therapie einsetzt, sondern weil in der Analyse der Kausalzusammenhang aufgehoben wird. Weithin wird diese zentrale Behauptung Habermas´ von verschiedenen Kommentatoren als „peinlicher Denkfehler“, „absurd“, „Fehlinterpretation“, „völlig unbegründet“ usw. usf. bezeichnet. Grünbaum macht dies in Grundlagen u.a. daran deutlich, daß die Habermassche Interpretation, wenn sie richtig wäre, auch dazu eingesetzt werden könne, zu zeigen, daß die Wärmeausdehnung in der Physik aufgrund der Aufhebung eines physikalischen Gesetzes und nicht aufgrund des kausalen Zusammenhanges, der im Gesetz beschrieben wird, stattfindet.
Freuds nicht eingelöste therapeutische Versprechungen
Um von der Kritik an Habermas und Ricoeur auf die Kritik an Freud und der PA zu kommen, kommentiere ich Deine Anmerkung zu einem von mir zitierten Werk Freuds:
Wenn Du gerade diesen Aufsatz [„Die endliche und die unendliche
Analyse“] von Freud aufmerksam liest, dürfte Dir kaum entgehen, dass
Freud datin aufzeigt, dass es sich entsprechend „lohnt“, je länger
man sich der Analyse unterzieht. Jedenfals häufig genug trifft dies
zu - natürlich nicht bei jedem Menschen.
Freud sagt in diesem Spätwerk rückblickend auf seine Therapieerfahrung
- daß es der Psychoanalyse nicht immer gelinge, Neurosen zu heilen,
- daß selbst unter günstigen Bedingungen ein erneutes Auftreten der Neurose bei einem erfolgreich analysierten Patienten durch die Psychoanalyse nicht verhindert werden könne.
Seine früheren Versprechungen, daß es mit der psychoanalytischen Therapie gelänge, die Ursachen einer Neurose zu beseitigen, so daß diese Neurose in der Zukunft bei dem analysierten Patienten nicht wieder auftritt, zieht er damit zurück. Die frühere Freudsche Behauptung, seine Therapie würde kausal behandeln und deshalb keine Symptomverschiebungen nachsichziehen, ist also von Freud selbst vom Tisch genommen worden. Mehr und mehr rückte in der Diskussion um den Nutzen der PA die Argumentation in den Vordergrund, daß die PA mehr zur Persönlichkeitsentwicklung, weniger zur Störungsbehandlung beitrage. Ricoeur bläst in eben dieses Horn. Dieses Thema stand übrigens auf der Tagesordnung auf einem zentralen Psychoanalytikerkongreß dieses oder letztes Frühjahr - und in diesem Zusammenhang sehe ich die Opposition einiger Analytiker auf diesem Kongreß gegenüber der Evidence Based Medicine.
Grüße,
Oliver Walter