Hallo Nescio,
Antworten habe ich keine, Ideen vielleicht ein paar:
- Die Freudsche Schule - wer könnte konkret damit gemeint
sein ?
Aus meiner Sicht meint Adorno damit keine konkreten Personen, sondern Programmatiken, Erkenntnisse, Aussagen, etc.
Ein Kernsatz der Adornoschen Überlegung scheint mir die zu sein: „Kritik des Überichs müßte Kritik der Gesellschaft sein, die es produziert; verstummt sie davor, so wird der herrschenden gesellschaftlichen Norm willfahrt“ (S. 270);
diese Gesellschaftskritik findet Adorno aus meiner Sicht noch am stärksten bei Freud, bei dessen initaler Bewegung, die Psychoanalyse nicht nur als Psychologie, als Psycho-Technik, zu verstehen, sondern als Gesellschafts- wie Erkenntnistheorie;
unterschiedliche Psychoanalytiker sind dieser Haltung unterschiedlich nahe, was es aus meiner Sicht dann durchaus sinnvoll macht, hier von der „Freudschen Schule“ zu sprechen.
- Adorno nennt nur einen Namen: Ferenczi - d.h. Freud ist
nicht
gemeint ?
Doch; ich glaube, Freud ist in erster Linie gemeint
Ferenczi führt er meines Erachtens deshalb an dieser Stelle ein, um dessen zitierte Überlegung: „… Nur diese Art Abbau des Über-Ichs überhaupt [was für Adorno eben auch heißt, die Kritik der gesellschaftlichen Normen, F.B.H.] kann eine radikale Heilung herbeiführen“ (S. 269);
um diese „radikale Heilung“ geht es Adorno zu allen Zeiten seines Überlegens in Bezug auf die Psychoanalyse;
eine nicht-radikale Heilung ist für ihn Anpassung an die Gesellschaft, also Anpassung an eine „kranke Gesellschaft“, damit gerade das Gegenteil einer radikalen Heilung, lediglich relative Heilung, was für Adorno heißt: Krankmachung.
Adorno zeigt aus meiner Sicht am Beispiel Ferenczis, wie die Psychoanalyse hinter ihrer eigenen Erkenntnis zurückbleibt, wenn dieser einerseits mit dem oben Zitierten „die Tür öffnet“, die er gleich danach wieder zuschlägt, wenn er schreibt: „Solange dieses Über-Ich in gemäßigter Weise dafür sorgt, daß man sich als gesitteter Bürger fühlt und als solcher handelt, ist es eine nützliche Einrichtung, an der nicht gerüttelt werden muß. Aber pathologische Übertreibungen der Über-Ich-Bildung…“ (S. 270);
damit kann Adorno natürlich nicht einverstanden sein. Meines Erachtens nimmt er in diesem Passus Ferenczi als bloßes, aber in der Ausprägung vielleicht extremstes, Beispiel wie die Psychoanalyse hinter ihren eigenen Erkenntnissen zurückbleibt, ihre Erkenntnisse (1. Ferenczi-Zitat) nicht dafür nutzt, die konformistische Anpassungs-Heilung-Haltung zu durchbrechen (2. Ferenczi-Zitat), im Gegenteil diese festschreibt.
- Wann waren jene heroischen Zeiten ? Nach der
Entfremdung
Ferenczis von Freud, also um 1930 ?
Wie ich dargelegt habe, würde ich weder „Schule“ auf konkrete Personen, noch „Zeiten“ auf konkrete Daten beziehen; dazu kommt, dass ich Adornos Bezug auf Ferenczi nicht an Ferenczis Haltung selbst festmachen würde; ich halte ihn an dieser Stelle der ND für eine Exemplifizierung;
wenn ich gezwungen wäre, hier Daten zu nennen, dann würde ich die Zeit nennen vor der breiten gesellschaftlichen Institutionalisierung der Psychoanalyse als Psychologie, als Heilungs-Anpassungs-Technik.
Bekanntlich lehnt Adorno jede Form von „Therapie“ ab, sieht in der Neurose den letzten Quell Widerstand g e g e n die Krankheit, gegen die kranke Gesellschaft; Therapie müsste für ihn also auf einer anderen Ebene ansetzen als auf der des Individuums;
Aus den angeführten Gründen würde ich also Deine beiden letzten Fragen so beantworten:
- Oder waren sie vorher, um 1908, als Ferenczi, der
Freud
gerade erst kennengelernt hatte, auf dem 1. Psa. Kongress
einen
Vortrag hielt, in dem er noch eine radikal-aufklärerische
Position im
Sinne des obigen Zitats vertrat ?
Jein, ich glaube tatsächlich, dass nach Adorno die Psychoanalyse mehr und mehr von ihrer „Heroizität“ abgefallen ist, dass aber Ferenczi daran nicht signifikant mehr Anteil hat als andere Psychoanalytiker.
- Adorno, der aber Ferenczis Text von 1908 nicht kannte,
kritisiert
Ferenczi, den einzigen (?) „heroischen“ Vertreter der
Freud-Schule,
anhand von späteren Zitaten für seine Halbherzigkeit. Gab es
also,
genau genommen, jene heroischen Zeiten der Freudschen Schule
gar
nicht ?
Dieses zweite „Jein“ brauche ich, glaube ich, nicht mehr zu erklären.
Hat hier jemand dazu Antworten oder Ideen ?
Wie gesagt, konnte ich nur ein paar Ideen bringen, weil ich in Anbetracht Deiner Fragestellungen schon gar nicht daran glauben kann, dass unsere beiden Adorno-Deutungen allzu kongruent sind.
Viele Grüße
franz