Das Problem des Kontexts
Hallo Guido,
auch wenn ich mit „hello world“ nicht immer einverstanden bin, muss ich ihm doch in einigen Dingen Recht geben.
Zum Einen, wie schlecht Noten sich eignen, um die tatsächliche Kompetenz eines Bewerbers einzustufen.
Und zum Anderen, wie ungeeignet das Bildungssystem ist, um Qualifikationen sinnvoll zu erfassen.
Ich nehme mich selbst als Beispiel:
Hatte ich in Deutschland im Gymnasium eher mittelprächtige Noten (Schnitt 2,5 oder so) war ich in den USA auf eine Eliteschule gegangen und hatte dort problemlos ein (umgerechnet in deutsche Noten) 0,8er Zeugnis.
Wer da die spezielle Schule nicht kennt, sortiert schnell hochkompetente Leute aus und holt sich statt dessen ganz schnell eine Nulpe, die zwar auswendig lernen, aber nicht selber denken kann.
An der Uni war es noch doller: Ich hatte selbst jahrelang den Nachwuchs ausgebildet, diejenigen, die bei mir gelernt haben, hatten meist weit überdurchschnittliche Noten - nur ich habe jede Prüfung erst im 2. Anlauf geschafft und das auch nur, weil die Profs mich kannten. Zitat: „Ich weiß, dass Du das nicht nur weißt, sondern auch kannst - warum sagst Du es nicht?“
Generell habe ich selbst tatsächlich mehr Probleme, qualifizierte 1,0er-Kandidaten zu finden als hochqualifizierte Kandidaten mit 2,0er oder noch schlechterem Abschluss.
Nur: Während die Note nicht das Maß aller Dinge sein kann, muss man schon ziemlich was leisten, um trotz schlechter Zensuren in die nähere Wahl zu kommen.
Irgend etwas, das beweist, dass man die schlechten Zensuren nicht wegen mangelnder intellektueller Kapazität kassiert, sondern wegen nachvollziehbaren wichtigeren Gründe billigend in Kauf genommen hat.
Man kann noch so talentiert sein - es bringt einem potenziellen Arbeitgeber nichts, wenn jemand sein Talent nicht nutzt.
Genau. Und „ich chatte online“ ist keine Nutzung von Talent. Das hat weder Hand noch Fuß. Der Personaler braucht irgendwas mit Substanz.
Wir können ja mal bei „Supertalent 2013“ anmelden, dann vor Dieter Bohlen stehen, omegle anmachen und sehen, was der zu dem „Talent chatten“ sagt - scnr.
Tipp: Nicht alle 100 werden überhaupt eingeladen, und die Eingeladenen haben ein Problem, wenn sie sich erklären, dass sie ja so viel besser sind, als die Schulnoten das hergeben.
In der Praxis haben viele das tatsächlich. Aber nicht alle.
Und die sind dann die Rosinen im Kuchen.
Nur, die würden ohnehin nicht eingeladen, wenn ihr Lebenslauf nicht voll wäre mit Dingen, die sie ohnehin schon kommentarlos auszeichnen.
Verstehe mich jetzt nicht falsch!
Ein brauchbar durchschnittliches Zeugnis vom Gymnasium ist kein Ausschlusskriterium. Die dauernde Betonung, man ist ein Logikass, dass ganz toll Englisch spricht, kann es aber sehr wohl werden, wenn die Noten das nicht widerspiegeln.
Ja, insbesondere wenn es so substanzlos ist.
So eine Aussage ist überhaupt kein Problem, wenn man beim Internationalen Hobby-Detektivwettbewerb über Jahre hinweg die goldene Trophäe heimgebracht hat, man sich schon eine Reihe von Publikationen in internationalen Fachzeitschriften der Mathematik anheften kann oder Ähnliches.
Aber dann muss man nicht auf „ich kann so toll Logik“ herumreiten, sondern kann sich bescheiden auf einen Passus im Lebenslauf beschränken, wo man die Früchte seiner Leistungen präsentiert.
Ich frage mich nur, wie man eine Leistung von 2 mal „befriedigend“ noch groß herunterspielen will - da ist weitaus weniger Platz zum Boden als zum Himmel.
Nicht erwähnen.
Mir persönlich waren meine Zeugnisse auch immer peinlich, sogar die guten.
Aber um es noch mal auf den Punkt zu bringen:
Noten ohne Kontext führen oft zu Fehlschlüssen.
Aber Aussagen über die eigene Kompetenz ohne Kontext sind schon ein Fehlschluss.
Wer „ich bin das Logik-Ass“ nicht mit knallharten, objektiven Fakten untermauern kann, ist keins.
Denn das gehört zur Logik dazu: Ohne objektive Fakten, kein Wahrheitsgehalt.
Gruß,
Michael