Moin, moin Christian,
Du unterliegst, fürchte ich, in mindestens zweifacher Hinsicht einer - ja, wie soll ich es nennen? - Wahrnehmungsstörung, einem Trugschluß.
Erstens: Du nimmst das Judentum nur durch die Brille des Neuen Testaments wahr. Du setzt voraus, daß, was im NT steht, die historische wahrheit ist (Dazu komme ich unter zweitens). Weiterhin setzt Du voraus, daß, was im NT steht, das gesamte Spektrum des jüdischen Lebens zur Zeit Jesu abdeckt. Beide Voraussetzungen sind - ich drücke es jetzt mal freundlich aus: fragwürdig. Unfreundlich gesagt: sie sind falsch.
Zweitens: Daß es die gruppe der synoptischen Evangelien (Matthäus, Markus, Lukas) gibt, ist Dir klar. Das schreibe ich auch nur für die anderen. Matthäus und Lukas haben von Markus abgeschrieben (unfreundlich ausgedrückt), sind also bei den Nachrichten, die sie mit Markus gemeinsam haben, nicht glaubwürdiger als dieser.
Es ist immer wieder als Beispiel die Verschiedenheit von Zeugenaussagen zum gleichen Ereignis oder Hergang angeführt worden als Erklärung für die Verschiedenheit der Evangelien. Das ist natürlich Unsinn. Denn die Evangelisten haben ihre Evangelien nie - nie und nimmer nicht! - als historische Berichte konzipiert und geschrieben, sondern als Erbauungs- und Trostschriften für ihre jeweils eigene Gemeinde und (das wird bei Johannes ganz besonders deutlich, aber auch bei den Synoptikern kann man das nachweisen) als Streitschrift gegen andere, gegnerische, meist jüdische Gruppen. das bedeutet: auch die Berichte über die angeblichen Sabbatverletzungen Jesu sind „interessengeleitet“ (So nannten wir das damals 1968ff, und so nennt man es noch heute). Sie haben innerhalb des Evangeliums eine Funktion.
Drittens: Elimelech und Judith haben eine sehr viel tiefere und gründlichere Kenntnis des Talmuds als ich. Und wenn die beiden Dir sagen, daß Jesus gegenüber der Lehre der Rabbinen jener Zeit wirklich nichts Neues gebracht hat (bzw. daß dasNeue auf einer Postkarte Platz hat), dann darfst Du ihnen das glauben.
Nur ein Beispiel: es ist einfach nicht wahr, daß man am Sabbat nicht heilen oder andere lebenserhaltende Dinge tun durfte. Allerdings mußte ein Leben in Gefahr sein.
Ich könnte jetzt die Geschichte von der verdorrten Hand nehmen, die Jesus am Sabbat heilte. Du wirst zugeben, daß er das ebensogut auch am Tag nach dem Sabbat hätte tun können. Es bestand ja keine Lebensgefahr. Die könnte ich jetzt exegesieren und ihre Stellung und ihre Funktion im Evangelium erhellen. Dann aber säße ich morgen früh noch am PC, und das möchte ich denn doch nicht.
Alles in allem: Du ackerst auf zu schmaler Furche!
Gruß - Rolf
