Servus Mike,
paar Splitterchen hierzu nicht vom Experten, sondern vom Universaldilettanten, dem ein bissel mehr Müssen vielleicht nützlich gewesen wäre:
Wie kann es sein, dass der
Mensch seine Neugier und seinen Wissensdurst klug für
Erfindung und Entwicklung einsetzen kann, wenn er dieses
Wissen oder Lernen als Müssen aufgefasst hat?
Das geht, glaube ich, dann, wenn man sieht, daß der nicht verzehrte Erdbeerkuchen von heute derjenige ist, der morgen zur Verfügung steht. Wenn ich mir meine Schuljahrgänge dazu so ansehe: Ein herausragender Chemiker hat ungefähr in der sechsten seine Eltern davon überzeugt, daß sein Labörchen zu Hause besser unterm Dach als im Keller untergebracht ist, weil dort im Zweifelsfall halt die Ziegel davonfliegen, aber nicht der Rest vom Haus. Er ist immer bloß seiner Neugier nachgegangen, die Schule war Pflichtübung.
So ähnlich gings einem Flugzeugbauer & Patentanwalt, bei dem die Schule nicht bloß Pflichtübung war, sondern überaus lästige Pflichtübung. Aber auf dem Modellflugplatz gings ihm gut.
Der frappierende Gegensatz dazu ist ein heutiger Physikprof aus preussisch-protestantischem Elternhaus, dessen Leben als Jugendlicher fast ausschließlich aus Contenance bestand: Die Erdbeerkuchen von morgen bestanden eigentlich bloß als Abstrakta, sie standen definitiv nicht zur Verfügung. Für diesen war die Beschäftigung mit Physik etwas ähnliches wie für andere die Beschäftigung mit Literatur oder Musik: Eine Innenwelt, die relativ gut abgeschirmt gegen elterliche Einmischung war und eine goßartige innere Emigration erlaubte.
Mit diesen Episödchen lassen sich verschiedene Beleuchtungen finden zu der
Frage des Pädagogikschülers: Wie lange braucht die
Zwölfjährige, bis sie ihre Tränen in brauchbare Fähigkeiten
umgewandelt hat?
Das ist keine Frage der Zeit, glaube ich. Ich könnte mir vorstellen, daß hier trotz der heute generell gepredigten Eigenverantwortung des isolierten Marathonläufers im Konkurrenzkäfig der Pädagoge gefragt ist. Das ist im Fall des Gymnasiallehrers wohl derjenige, der sich und andere für sein Fach begeistert. Eine Erinnerung, die mir geblieben ist, war der Moment, wo in den allerersten Vorübungen zur Analysis sich ohne quälende Rumrechnerei y = x² als graphisches Gebilde von im Wortsinn unendlicher Schönheit herausstellte, das die Möglichkeit gab, weiß auf eine schwarze Wand gemalt die einzigartige Stelle im Universum zu zeigen, wo dieses unendliche Gebilde an seinem Scheitelpunkt fassbar wird, und sein Betrachter - das ist ziemlich wichtig mit 13 Jahren - an einem ganz unverwechselbaren Punkt im Universum sitzt.
Als mein Bruder (damals Reallehrer) den Busfahrplan von Aalen als Darstellungsform für ein Weg-Zeit-Diagramm vorstellte, waren viele seiner Schüler in der Lage, nicht bloß endlich selber einen Fahrplan zu lesen, sondern diese Alltagstechnik auch ihren Eltern beizubringen, die vorher eher auf gut Glück an die Haltestelle gegangen waren.
Der Lehrer, dem zu der Frage „Wofür braucht man das?“ (kommt in der Mathe besonders oft vor) nichts einfällt, ist, glaube ich, mit seiner Wissenschaft nicht arg weit gediehen. Daß wir im ersten Semester mit der kleinsten-Quadrate-Schätzung à la Gauß-Markov annähernd überfordert waren, obwohl die meisten von uns mit Vektorenrechnung zu tun gehabt hatten, lag nicht bloß an unserer Faulheit, sondern auch an der Eitelkeit der Lehrer, die uns die Antwort auf die Frage „wofür braucht man das“ stur und strikt zu verweigern pflegten.
Es gab da den Bio-Lehrer, der von der Biochemie erzählte, die im Hirn abläuft, der mit der Geschwindigkeit und den Gesten eines Bühnenmagiers an eine peu à peu aufgebaute Strukturformel an der Tafel mal eben noch irgendeinen Rest dranesterte, sich zu uns umdrehte und meinte: „Sehen Sie, und hier ist jetzt die Strukturformel für LSD! - Keine Sorge, das können Sie sowieso nicht nachkochen. Und wenn Sies tun wollen: Denken Sie daran, daß keine Halluzination besser ist als das Material, das Sie ihr geben. Erleben Sie vorher was, dann wird das viel interessanter!“ Der gleiche Mann hat übrigens (außerhalb seines Pensums und für uns zur freiwilligen Teilnahme) hervorragende Ersthelferkurse gegeben.
Am Rande: Wenn man die Zeit, die man heute à la mode damit verbringt, alle möglichen Schmutzkübel über dem Lebenswerk von Alexander S. Neill auszukippen, mit dessen Lektüre zubringen mag, kommt man darin auf interessante Illustrationen zum altbekannten Thema der „Einsicht in die Notwendigkeit“.
Frage des Mitmenschen: Und wie kann es sein, dass es Leute
gibt, die Wissenschaft als Kampf gegen den Glauben einsetzen
müssen? Und wie kann es Leute geben, die den Glauben deswegen
bekämpfen, weil er nicht Wissen ist?
Das mag damit zu tun haben, wie der Glaube auftritt: Wenn er als intelligenz- und damit lebensfeindlich, ergo als Bedrohung erlebt wird, wird es verständlich sein, daß man ihn bekämpfen will. Und dafür sind die Mittel der Aufklärung probat. Wenn er sich anders geriert, gibts außer einer mechanischen Gewohnheit, bestimmte Zielscheiben immer neu unter Beschuss zu nehmen, nicht so viele Motive dafür. Es sei denn, man nimmt an, daß dieses Auftreten bloß eine vorübergehende, diplomatisch motivierte Maskierung sei.
Schöne Grüße
MM