Hallo Thomas,
„Materialismus oder Dialektik“ ist genau die richtige Fragestellung! Beides geht nicht.
1)Ich glaube, kein philosophisch ernst zu nehmender Marxist
hängt an den Marx’schen Schriften als seien sie die Offenbarung.
die meisten, die ich kenne, tun das doch. Nun kann es
natürlich sein, dass ich nicht die richtigen kenne, aber das
scheint mir ziemlich unwahrscheinlich. Und diejenigen, die
sich Marx kritisch nähern, haben in der Regel trotzdem einen
Bezug, von dem sie nicht lassen wollen, dessen kritische
Reflexion sie ablehnen.
Da kennst Du in der Tat die falschen Leute. Die Marxisten, die ich kenne, gehen von bestimmten politischen und philosophischen Grund-Einsichten dieser Theorie aus und verteidigen sie gegen andere; auch indem sie dabei Konzepte anderer Theoriegebäude heranziehen (In meinem Fall ist das vor allem der „Poststrukturalismus“)
Zum Diamat sage ich aus meiner Sicht, dass die Dialektik
richtig ist, der Materialismus aber (erkenntnistheoretisch,
nicht naturphilosophisch!) falsch.
In meinem Fall ist es andersrum: die Dialektik bleibt immer im Hegelianismus gefangen (wie Du selbst sagst); ich halte sie für eine spekulative Verdoppelung des Bestehenden, egal ob bei Hegel auf dem Kopf oder bei Marx auf den Füßen.
Und das was übrig bleibt,
ist letzten Endes ein Hegel mit sozialer Komponente. Das ist
ehrenwert, aber die soziale Kompenente kann eine
philosophische Fundierung nicht ersetzen - und wenn ich
methodisch mit Hegel hinkomme, dann brauche ich Marx nicht.
Ganz richtig. (wobei freilich die „soziale Komponente“ nicht ein Marx’scher Zusatz ist, sondern durch das „auf-die-Füße-stellen“ entsteht; sie ist genau diese „Fundierung“.) Ich aber komme mit Hegel nicht hin, darum brauche ich ihn auch bei Marx nicht!
Und wenn die materialistische Komponente falsch ist, dann ist
auch das berühmte Wort vom Auf-die-Füße-stellen unsinnig, denn
genau das ist die pädagogische Formulierung für die
materialistische Komponente.
Der Materialismus, den ich bei Marx sehe, ergibt sich nicht durch das „Füße-Stellen“, sondern besagt, dass die „Materie“ (welchen ontologischen Status diese hat ist eine zu umfangreiche Frage) sein eigenes Erkennen hervorbringt, dieses Erkennen aber immer auch (systematisches) Verkennen ist, nie gesichert sein kann; dieses Erkennen geschieht freilich nicht in der Weise, wie der alte Materialismus sich das vorgestellt hat
- „Marx“ ist aus meiner Sicht nicht die Ansammlung seiner
geschriebenen Zeilen, als vielmehr die „Autorfiktion“ einer
bestimmten philosophischen Semantik/Interpretationsbewegung.
Naja, das ist immer so, aber alle solche Richtungen beziehen
sich doch auf die Figur, die da am Anfang steht, in welcher
Form auch immer, nur eben nicht gänzlich ablehnend
Ja, ich glaube, es ist bei jedem Philosophen so; darum kann ja auch Whitehead (er war es doch, oder) sagen, die ganze Philosophie wäre Kommentar zu Platon und Aristoteles. Ich glaube, der Autor ist immer nur das nachträgliche Konstrukt der Interpretationsbewegung. „Nachträglich“ im Freudschen Sinne: ununterscheidbar zugleich Anstoßgeber, wie Produkt der Interpretation.
Worin
besteht denn diese Interpretationsbewegung, wenn nicht im
Dialektischen (dann reicht Hegel) oder im Sozialen (das ist
historisch und außerdem kein zentral philosophisches Thema).
Es gibt kein Thema, das der Philosophie äußerlich ist. Es ist doch gerade Marx’ Grundthese, dass die Entwicklung der Wissenschaften (und der Philosophie) der sozialen (ökonomischen) Entwicklung folgen. Hier muss man auch nicht unbedingt die Epiphänomen-Haltung einnehmen, also behaupten, die Bewegung der Ökonomie würde alles streng determinieren, wie dies die alten Stalinisten machten.
Jedenfalls erkenntnistheoretisch ist die Leistung Marxens oder
des Marxismus aus meiner Sicht gerade nicht.
Da müsstest Du Deine Sicht erklären. Aus meiner Sicht sehe ich, dass Marx in der Tat das überwindet, was bei Kant und Hegel als Erkenntnistheorie auftaucht, weil er das Subjekt der Erkenntnis, also die metaphysische („spekulative“) Basis der Erkenntnis, in Frage stellt. Darum ist aus meiner Sicht Marx der erste Post-metaphysiker (wenn z.B. der logische Empirismus ihm Metaphysik-durch-und-durch vorwirft, liegt das am anderen Metaphysikbegriff; ich glaube der Marx’sche ist viel überzeugender)
Die bei Althusser angestrebte „Wissenschaftlichkeit“ durch
Reinigung von Ideologie behauptet er zwar, beweist sie aber
nicht bzw. führt sie nicht durch. Das im Einzelnen darzulegen,
würde natürlich einer Exegese gleichkommen und ist hier nicht
zu leisten. Jedenfalls wäre ja Althusser in der Bringschuld
und nicht die, die den Nachweis bei ihm vermissen.
Althusser unterscheidet in der Tat in den 60er Jahren science/ideologie. In den 70ern revidiert er dies, spricht wie Foucault von „savoir“. Ich glaube, dass die Althussersche Revision der Unterscheidung überstürzt war, bringe dabei aber eine „temporale“ Dimension in die Unterscheidung ein: zum richtigen Zeitpunkt (kairos) kann Ideologie wissenschaftlich sein; ich unterscheide also absolut nicht zwischen „bürgerlicher Ideologie“ und „marxistischer Wissenschaft“, etc. Auch Althusser hat das nie getan. Mit Althusser müsste man sich auf der Basis des Nachlasses aus den 90er Jahren komplett neu auseinandersetzen. Dies geschieht kaum, in Deutschland am ehesten noch im Kreis um Haugg in Berlin.
Was ich von Gramsci weiß, ist nicht viel. Was ich aber weiß,
macht ihn mir nicht gerade sympathisch. Da ist im Nachlass aus
den Jahren 1926-35 von „Schaffung einer herrschenden Klasse“
die Rede, da geht es um italienisches Nationalbewusstsein,
alles Begriffe, die ich eher bei den Faschisten vermuten
würde, als bei Kommunisten.
Gramsci war unter den Faschisten lange Zeit inhaftiert. Die Faschisten wollten „Rasse“, nicht „Klasse“; dieser Unterschied ist fundamental.
- Insbesondere Althusser (der mein Marx-Verständnis ganz
wesentlich prägt) zeigt deutlich, wie in allen Schriften Marx’
beträchtliche Reste von Positionen enthalten sind, die dieser
eigentlich ablegen wollte.
Die Frage ist, ob das was übrig bleibt, noch marxistisch
genannt werden kann bzw. überhaupt Philosophie, denn die
letzte Feuerbachthese ist ja eigentlich schon eine Art
Abschied.
In der Tat legt Althusser den „halben Marx“ ab, nämlich den aus den Frühschriften bis etwa 1845; damit entfernt er Hegel und Feuerbach aus Marx; so meint er das Genuine Marx’ herausgearbeitet zu haben. Wenn man so die Bände des Kapitals isoliert von den Problematiken der Frühschriften liest, überzeugt das durchaus. Ob das noch Marxismus ist, ist eine müßige Frage, seiner politischen Implikation nach ist es das jedenfalls durchaus.
Philosophie ist es sehr wohl, gerade weil Althusser Hegel aus Marx entfernt hat, schließlich hat dieser zuerst das Ende der Philosophie erklärt. Außerdem ist Althusser kein Dogmatiker.
„Der Hauptmangel alles bisherigen Materialismus (den
Feuerbachschen mit eingerechnet) ist, daß der Gegenstand, die
Wirklichkeit, Sinnlichkeit nur unter der Form des Objekts
oder der Anschauung gefasst wird; nicht aber als
sinnlich-menschliche Tätigkeit, Praxis, nicht subjektiv“
Das ist auch eine Art Abschied, eben von der Theorie - und
damit von der Philosophie. Praktische Philosophie ist die
Praxis theoretisch durchdacht.
Nur weil der Marxismus die Theorie in der Praxis verankert, hört er doch nicht auf zu theoretisieren. Die elfte Feuerbachthese ist doch nicht der Aufruf, das „Interpretieren“ bleiben zu lassen, sondern der, mit dem Glauben aufzuhören, man könne Interpretieren ohne zu Verändern; und dies im doppelten Sinn: das Verändern als Anstoß des Interpretierens und das Interpretieren immer auch als Verändern. Selbstverständlich hat für Marx die bisherige Philosophie die Welt „verändert“, was ja auch heißt: das Bestehende gestützt, dabei aber immer geglaubt, sie würde sie bloß interpretieren. Meines Erachtens ist die elfte FT keine „Handlungsaufforderung“, sondern ein „erkenntnistheoretischer“ Grundsatz, der mit der Dichotomie von Subjekt und Objekt bricht, zeigt, wie das Erkennen des Objekts im Objekt wirkt, also dem Objekt nicht von außen (vom Subjekt) zukommt.
Philosophische Praxis in dem
von dir genannten Sinne ist immer der Gefahr ausgesetzt,
zufällig und zeitabhängig zu werden. Dem versucht der
Marxismus zu entgehen, indem er von vornherein die
Zeitabhängigkeit postuliert, aber das ist natürlich methodisch
nicht zulässig.
Das ist sehr wohl zulässig, wenn die Zeit nicht als Kantische Anschauungsform gedacht wird, sondern als ein dem Erkenntnisobjekt immanentes, bzw. ein von ihm erzeugtes. Zeit ist so im Grunde genommen Teil des Objekts bzw. Objekt unter anderen.
Marx war Genussmensch, was ihn menschlich sympathisch macht.
Leider kann ich nicht einmal da zustimmen. Würde sich der Genußmensch lieber mitten ins Elend setzen, denn als „bürgerlicher“ Philosoph auf den bequemen Lehrstuhl?
Viele Grüße
franz