Mein lieber Irubis,
auch ich möchte ein paar Gedanken zu deinen Fragen beisteuern.
Die Zeitgemäßheit des Strafrechts allgemein zu beurteilen, ist schwierig. Das hängt ja letztlich vom Zeitgeist ab. Der Staat ist hier recht fortschrittlich, in der Bevölkerung aber herrschen teils Vorstellungen von Gerechtigkeit, die man definitiv als voraufklärerisch bezeichnen kann und muss. Viel wichtiger als die Frage, ob das Strafrecht zeitgemäß ist, finde ich persönlich jene, ob es gut ist. Das zu beantworten, setzt schon mal voraus, dass man sich über die Strafzwecke klar ist, und über die wird schon seit Jahrtausenden gestritten. Schon in der Antike gab es Menschen mit der Vorstellung von rein präventiven Zwecken der Strafen, aber das hat sich bis heute nicht durchgesetzt (auch im Strafgesetzbuch nicht ganz).
Ich ganz persönlich sehe das Strafrecht eigentlich nur durch präventive Gedanken gerechtfertigt, sowohl durch general- als auch spezialpräventive. Der eingeschränkten Wirkung der Vorbeugung bin ich mir dabei bewusst, ich glaube aber fest daran, dass das Strafrecht durchaus solche Zwecke erfüllen kann. Wenn es nach mir ginge, würde sich das Strafrecht in Theorie und Praxis noch viel stärker an solchen Gedanken orientieren. Die Einführung der nachträglichen Sicherungsverwahrung etwa ist etwas, das ich sehr begrüße; hingegen sind mir Vorstellungen davon, dass durch Bestrafung eine Art Gerechtigkeit hergestellt wird, eher fremd.
Was nun speziell die Frage der lebenslangen Freiheitsstrafe angeht:
Es gibt im Strafrecht, speziell bei den Tötungsdelikten, noch mehr, das einer Reform bedürfte. Nach dem Status quo verhält es sich ja so, dass die Rechtsprechung die einfachgesetzlichen Strafvorschriften verfassungskonform auszulegen sucht. Hier gibt es teils reichlich konstruiert wirkende Lösungen und auch viel Streit unter den Gelehrten. Das alles könnte man durch Gesetzesreformen ändern. Es geht hierbei etwa um Einschränkungen bei der Anwendung des Mord-Paragrafen, aber auch um das Verhältnis von Mord und Totschlag zueinander. Was Letzteres angeht, so muss man allerdings sagen, dass die Rechtsprechung, wenn sie nur wollte, zwanglos zu vernünftigeren Ergebnissen käme, wenn sie nur wollte; der BGH steht mit der Ansicht, Mord und Totschlag seien zwei voneinander unabhängige Grundtatbestände, ja ziemlich allein da.
Ich selbst befürworte Reformen, und das einzige Gegenargument, das ich kenne: Es gibt Wichtigeres, schließlich läuft’s doch auch so. Ganz von der Hand zu weisen ist das nicht, wenn es mich auch im Ergebnis nicht befriedigt. Würde man etwa als Strafandrohung für Mord 20 Jahre festschreiben, so wäre das Ergebnis allerdings anders, nicht aber zwingend besser als nach jetziger Rechtslage und Rechtsprechung. Derzeit wird der Mörder eben zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt, kann aber darauf hoffen, nach etwa 15 bis 20 Jahren entlassen zu werden und zwar auf Bewährung. Das gewährt sogar ein bisschen mehr Flexibilität als eine Verurteilung fix zu 20 Jahren, denn dann ist spätestens nach 20 Jahren eben Schluss. Freilich kann man das wiederum auch gut und richtig so finden (Rechtssicherheit). Aber: Letztlich könnte man ähnliche rechtliche Ergebnisse auch mit anderen Gesetzeswortlauten erzielen. Was du ja beklagst, ist die Abweichung von Gesetzeswortlaut und Ergebnis. Und auch, wenn ich das ebenfalls beklagenswert finde und korrekturbedürftig, meine ich schon, dass letztlich das isoliert betrachtete Ergebnis das Wichtigere ist.
Levay