Dick sein
Hallo,
bei massivem Übergewicht ist es ab einem gewissen Punkt oft kaum noch möglich, Ursache und Wirkung zu unterscheiden. Aus welchem Grund auch immer Menschen dick geworden sind: Wenn eine Leibesfülle erreicht ist, die Bewegung und Aktivität sehr erschwert, wird das Dicksein an sich zum Problem.
Wenn jeder Schritt weh tut, wenn man selbst beim normalen Gehen kaum Luft bekommt und nur noch zeltartige Stoffe als Kleidung dienen, ist bei vielen Menschen der Zeitpunkt verpasst, an dem Bewegung ins Leben integriert werden kann. Die Anstrengung, die es abverlangt, unter derart erschwerten Bedingungen Sport zu treiben - und sei es auch nur, regelmäßig eine gewisse Strecke zu gehen - lässt viele Betroffene kapitulieren.
Hinzu kommt die Scham. Abgesehen davon, dass man als dicker Mensch kaum ordentliche Sportkleidung bekommt, löst allein der Anblick eines Dicken in Bewegung bei vielen Menschen zumindest Heiterkeit aus. Die mitleidigen bis abschätzigen Blicke, die ein Dicker allein durch seine Anwesenheit in bestimmten Lokalitäten - dazu zählen auch und besonders Sportstudios - auslöst, muss man ertragen können. Sie führen einem schmerzhaft vor Augen, was man sich selbst täglich vorwirft: Wie konnte man es zulassen, so fett geworden zu sein?
Doch nicht nur sportliche Bewegung ist tangiert, auch das normale soziale Leben. Wer nie vor dem Problem stand, in einen Kino-/Theatersessel nicht hineinzupassen oder zu riskieren, dass ein Kaffeehausstuhl unter einem zusammenbricht oder beim Aufstehen am Hinterteil festhängt, wer eine öffentliche Toilette nicht benutzen konnte, weil er aufgrund der Enge weder die Türe schließen noch sich umdrehen konnte, wird nur schwer nachvollziehen können, was Dicke daran hindert, ihre Freizeit sinnvoll zu gestalten. Kaum ein Normalgewichtiger kann sich vorstellen, dass es ab einem gewissen Übergewicht nicht mehr möglich ist, sich selbst den Hintern abzuwischen oder zu waschen.
Das alles hat eines zur Folge: Rückzug und soziale Isolation. Spätestens dann wird Essen zum Einzigen, was das Leben noch einigermaßen lebenswert macht. Die Gründe, warum man es bis hierhin gebracht hat, treten dabei meist in den Hintergrund. Das Dicksein selbst ist die Falle, aus der man nicht mehr rauskommt.
Keine Frage übrigens, dass bis zu diesem Zeitpunkt (und darüber hinaus) 1001 Diätversuche passiert sind, die mit zunehmender Verzweiflung angegangen wurden. Wenn aber 20 Kilo Gewichtsabnahme faktisch nicht zu sehen sind, holt einen die Frustration oft auch dann noch ein, wenn man sich bereits auf einem guten Weg befunden hat.
In einer solchen Situation kann eine OP das einzige Licht am Ende des Tunnels sein. Wenn es glückt, sich aus der Gefangenschaft des eigenen Körpers zu befreien, bringt das sehr oft auch eine insgesamt veränderte Sichtweise auf das Leben mit sich. Das Glück, sich wieder normal bewegen und unter Menschen begeben zu können, trägt meist weit genug, sich dieses „Geschenks“ auch bewusst zu sein. Ursprüngliche Denkweisen, die das Übergewicht ausgelöst haben mögen, sind dadurch nicht selten bedeutungslos geworden.
Nicht ganz außer Acht zu lassen ist auch hier das potentielle Problem der Suchtverlagerung. Wenn bestimmte Mechanismen verinnerlicht sind, kann es schon passieren, dass aus einem ehemals Fettleibigen vielleicht ein Laufsüchtiger wird oder eine andere Form des Suchtverhaltens sich ausbildet.
Dennoch ist eine solche OP ganz sicher keine „Ramschtisch-Aktion“, die man eben mal in Anspruch nimmt, weil man zu faul zum Arbeiten ist.
Schöne Grüße,
Jule