Hallo Petra,
der Widerspruch, den Du da empfindest, ist eigentlich keiner. Deine Irritation rührt schlicht daher, dass Du Exodus 20:13 bzw. Deuteronomium 5:17 falsch interpretierst, nämlich als Formulierung einer Ethik, die menschliches Leben grundsätzlich achtet. Es liegt hier jedoch keine Ethik vor, die sich an der goldenen Regel (vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Goldene_Regel) orientiert, sondern eine utilitaristische Ethik, deren Gültigkeitsbereich auf das eigene Volk begrenzt ist.
Der Widerspruch, der sich aus Deiner Grundannahme ergibt, lässt sich im Fall des erschlagenen Aufsehers, der zur Flucht nach Midian führte, noch notdürftig wegerklären - dies ist hier ja auch schon versucht worden. Schlechterdings unmöglich wird dies freilich, wenn man die Geschichten um Moses als Ganzes betrachtet. Da stößt man dann darauf, dass Mose nach dem ‚Empfang‘ des Dekalogs die innere Opposition der von ihm geführten Gruppe in einer blutigen Säuberung beseitigt (Exodus 32:25-29, ich hatte die Stelle weiter unten schon zitiert); man stößt darauf, dass Moses seine Horden zu einer Kriegführung anhält, die ihm nach heutigen Maßstäben eine Verurteilung als Kriegsverbrecher wegen Genozids einbringen würde - so, wenn er verlangt, die Frauen und Kinder der Besiegten seien nicht zu versklaven, sondern (mit Ausnahme der Jungfrauen, ein besonders widerliches Detail) zu liquidieren (Numeri 31:7-18). Von der Todesstrafe, die für alle möglichen ‚Verbrechen‘ (z.B. Homosexualität oder Verletzung der Sabbatruhe) gefordert wird, ganz zu schweigen - Zitate erspare ich mir, sie sind problemlos zu finden.
Die Verfasser der Geschichten um Mose haben da ganz offensichtlich ebenso wenig einen Widerspruch empfunden wie die Redakteure der Torah. Bei dem ‚Tötungsverbot‘ handelt es sich nämlich nicht um eine allgemeingültige, ethische Norm, sondern um eine soziale, ‚strafrechtliche‘. An diesem Gebot ist absolut nichts Besonderes oder Revolutionäres, es ist Ausdruck eines (relativ frühen) Standes der Rechtsentwicklung, den jede sich formierende Gesellschaft durchläuft. Innerhalb der Gesellschaft darf der Einzelne nicht aus eigenem Antrieb und nach eigenem Gutdünken töten (morden), da dies den inneren Frieden und die (vor allem gegenüber konkurrierenden Gesellschaften wichtige) Solidarität der Gemeinschaft empfindlich und nachhaltig stört. Die Tötung ist stattdessen an einen sozialen Konsens gebunden - wie auch immer der zustande kommt bzw. im Nachhinein rechtfertigend konstruiert wird. Gelegentlich wird dieses Verbot des Tötens aus privatem Antrieb heraus auch auf Angehörige anderer Gesellschaften/politischer Verbände ausgedehnt, da solches Handeln zu Vergeltungsmaßnahmen gegen die gesamte Gemeinschaft führen kann. Diese Entwicklungsstufe liegt hier noch in ziemlicher Ferne.
Unbestritten ist natürlich, dass das Tötungsverbot im Verlauf der Entwicklung allmählich in weiterem Sinne verstanden wurde - als eine Norm, die Achtung vor dem Leben fordert. Diese Auffassung ist freilich im Kontext der Enstehung dieser Norm anachronistisch; sie führt zwangsläufig zu Iritationen wie der Deinen.
Freundliche Grüße,
Ralf