Hi zusammen.
Welche Rolle spielt die Mystik in der Geschichte der Philosophie? In unseren Tagen gilt dieser Begriff bei vielen als nebulös und fragwürdig und einer ernsthaften philosophischen Erwägung für unwürdig. Könnte es aber sein, dass das Mystische nicht nur ein historisch nachweisbarer Geburtshelfer der Philosophie war, sondern sie über Jahrhunderte, ja Jahrtausende hinweg mit Einsichten befruchtete, die bis heute ihre Relevanz nicht verloren haben?
Der Begriff „Mystik“ leitet sich vom griechischen Verb „myein“ (sich schließen, zusammengehen) her, was sich auf das Schließen der Augen bezieht und auf ein Geheimnis hindeutet, das mit „irdischen“ Augen nicht erkannt werden kann. Dieser Erkenntnismodus überschreitet - so behaupten die Vertreter der Mystik - den Horizont der alltäglichen Wahrnehmung und führt den „Erkennenden“ nicht nur zu einer Wirklichkeit „hinter“ der vertrauten Wirklichkeit, sondern lässt ihn mit dieser (in den Augen der Mystiker) absoluten und einzig wahren Wirklichkeit (Jakob Böhme sprach vom „Un-“ und „Urgrund“) in Eins zusammengehen. Diese Einswerdung von Ich und Urgrund ist die „unio mystica“, die mystische Vereinigung.
Der amerikanische Philosoph Stace („Mysticism and Philosophy“, 1960) nennt sechs wesentliche Elemente der mystischen Erfahrung:
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Das Transzendieren der Subjekt-Objekt-Relation. Ich und Objektwelt gehen ineinander über. Meister Eckhart formulierte das im Mittelalter so: „Alles ist Eines und Eines ist Alles“.
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Das Transzendieren von Raum und Zeit. Statt der Wahrnehmung vergänglicher Momente kommt es zu der Gewissheit einer zeitlosen, „ewigen“ Gegenwart. Auch das vertraute dreidimensionale Raumgefühl verändert sich zugunsten einer Wahrnehmung der Unbegrenztheit von Raum jenseits einengender Dimensionalität.
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Die diese Erfahrung begleitende Stimmung wird als „Seligkeit“, „höchste Freude“, „Liebe“, „Frieden“ usw. charakterisiert, wobei die empfundene Intensität alles aus dem Alltag Vertraute bei weitem übertrifft.
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Das Gefühl von Ehrfurcht und Staunen.
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Ein extrem klares Empfinden von Gewissheit, dass das Erlebte nicht auf Täuschung beruht, sondern absolut wirklich und wahr ist. Verglichen mit dieser Klarheit wirkt das alltägliche Bewusstsein wie Versunkenheit in einen Traum.
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Die Erfahrung ist nachträglich sprachlich nicht adäquat vermittelbar, da das Sprachliche auf Dualismen gründet, die in der mystischen Erfahrung nicht existieren.
Einer der frühesten griechischen Philosophen, Parmenides (um 500 v.u.Z.), gilt als Mystiker und zugleich als der vielleicht wichtigste Begründer der abendländischen Philosophie (denn er beeinflusste Platon ganz wesentlich). Er lehrte das Wirkliche als über allen Wandel erhaben - "aletheia“, das Sein, das nicht geschaffen ist und nicht vergeht. Die „doxa“ ist dagegen die Wahrnehmung der Welt aus der Sicht eines Ich, welches die Scheinwelt des Vergänglichen als die wahre Welt nimmt.
Peter Kingsley schreibt in seinem Buch „Die Traumfahrt des Parmenides“ (2000) dem Philosophen schamanistische Fähigkeiten zu und setzt dies in Beziehung zur asiatischen Tradition: "Was man in Griechenland bald überdeckte und ´rationalisierte´, wurde in Indien erhalten und weiterentwickelt. Was im Westen ein Aspekt des Mysteriums, der Einweihung war, wurde im Osten klassifiziert und formalisiert. Und dort hatte der Zustand, den die Griechen erschauten und erlebten, … die Bezeichnung ´samadhi´“ (104).
2000 Jahre lang, bis ins 3. Jhd. n.u.Z., boten die Eleusinischen Mysterien im antiken Griechenland vielen Tausend Eingeweihten - darunter nicht wenige auch römische Namen von geschichtlicher Bedeutung - die Gelegenheit, eine mystische Erfahrung zu machen, die ihr ganzes geistiges Leben veränderte. Platon, Aristoteles, Sophokles, Cicero, Hadrian und Marc Aurel gehörten dazu. Dabei wurde den Teilnehmern von Priestern ein Trank verabreicht, der eine Zubereitung des Pilzes "Claviceps purpurea“ war, wie von den Forschern Wasson, Hoffmann und Ruck nachgewiesen wurde. Das ist in der Fachwelt allgemein anerkannt, wie z.B. auch vom Jakob-Böhme-Herausgeber Gerhard Wehr, der das in einem Schreiben an mich im September 1993 ausdrücklich bestätigte.
Platon wurde also einerseits über die Lehre des mutmaßlich schamanistischen Philosophen Parmenides und andererseits über die Mysterienerfahrung in Eleusis in der Konzeption seiner eigenen Lehre beeinflusst. In den Worten des selbst mystisch beeinflussten modernen Philosophen Whitehead (Mitarbeiter von Russell) ist die Philosophiegeschichte nichts anderes als eine Reihe von „Fußnoten zu Platons Lehre“. Soll heißen, dass einzig im Für und Wider zu Platons Theorie das Gebäude der abendländischen Philosophie errichtet wurde.
Plotins bis in den Deutschen Idealismus hineinwirkender Neuplatonismus (3. Jhd. n.u.Z.) war geprägt von Platons Lehre, asiatischen Systemen (die Plotin bei einer Reise studierte) und Plotins eigenen mystischen Erfahrungen (sein Biograf Porphyrios berichtet von 4 einschlägigen Erlebnissen des ägyptischen Philosophen).
Der deutsche Mystiker Jakob Böhme entwarf im 17. Jhd. eine mystische, wenn auch zeitbedingt durch christliche Terminologie gefärbte Lehre, die auf spätere Philosophen wie Leibniz, Schelling und Hegel einen bedeutenden Einfluss ausübte (Hegel nannte ihn „den ersten deutschen Philosophen“). Er schildert eine seiner persönlichen Erfahrungen mit dem Mystischen so:
„Mit einem großen Sturme … brach der Geist durch … bis in die innerste Geburt der Gottheit und wurde allda von Liebe umfangen. … Was aber für ein Triumphieren in dem Geiste gewesen sei, kann ich nicht schreiben noch reden, es läßt sich auch mit nichts vergleichen … In diesem Lichte hat mein Geist alsbald durch alles gesehen und an allen Kreaturen, am Kraut und Gras Gott erkannt, wer er, wie er und was sein Wille war“.
Leibniz, ein nüchterner und sehr klarer Kopf (das letzte Universalgenie der Geschiche), versuchte in seiner Lehre, das „innere Licht“ der Mystik Böhmes mit der philosophischen Rationalität im Zeitalter der Aufklärung zu vereinen. Später waren es Schelling und Hegel, die Einflüsse des böhmischen Schusters in ihre gewaltigen idealistischen Systeme aufnahmen.
Ich denke, das mag ausreichen als Hinweis darauf, dass es einen Zusammenhang zwischen Mystik und Philosophie gibt.
Die Frage bleibt, wie er zu w e r t e n ist.
Konkreter:
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Ist der mystische Ansatz eine archaische Verirrung ins Irrationale oder führt er das Erkennen über das „Rationale“ hinaus zum „Urgrund“ des Seins?
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Gibt es auch heute noch nennenswerte philosophische Ansätze, die das mystische Erbe in irgendeiner Weise fortführen?
Gruß
Horst