Marcuse
Hallo Branden,
Ich glaube, da sind wir gar nicht weit voneinander entfernt.
Mich interessiert dieses Abstrakte daran im Grunde auch sehr
wenig (wie Du ja ohnehin weißt
) und ich halte mich mehr an
die konkrete Gesellschaftskritik der FS.
wir sind da nicht weit voneinander entfernt, wo es um Adorno geht. Deine Abneigung gegen „Abstraktes“ - wie du es nennst - hingegen halte ich für einen unnötigen und eigentlich auch recht gefährlichen Kunstgriff, der einem zwar das Leben (bzw. das Denken) erleichtern kann, allerdings nur um den Preis der Ungenauigkeit und im Grunde der Zufälligkeit. Denn worauf stützt sich den „konkrete Gesellschaftskritik“? Doch auf Ideale, und diese Ideale haben Gründe, warum sie Ideale sind. Und wenn man nicht in der Lage ist zu begründen, warum diese Ideale gute Ideale sind, dann ist da ein Rechtfertigungsproblem, dem man sich nur durch Konsens entziehen kann (zumindest zeitweise), das aber immer schwierig zu handhaben bleibt.
Marcuse ist mir eh lieber, der ist nicht so blutleer und immer
schön konkret.
Ich würde Marcuse auch Adorno vorziehen, aber das heißt ja nicht, dass Marcuse unproblematisch ist (höchstens weniger problematisch als Adorno *g*). Der Naturalismus, den Marcuse mitschleppt und den Habermas zu Recht an ihm kritisiert hat, ist im Grunde genommen ein Ausläufer der bei Adorno schon beschriebenen Problematik. Man kann die Vernunft nicht umgehen, indem man sie in etwas anderes einbettet, denn dadurch wird die Vernunft notwendig unvernünftig. Man muss die Vernunft reflexiv begründen. Dass das schwierig ist, weiß ich auch, aber es lässt sich eben nicht wegdiskutieren.
Die psychoanalytische Kritik an Marcuse dürfte dir ja bekannt sein. Ich gehe darauf auch nicht näher ein, weil es ein intern-psychologisches bzw. intern-psychoanalytisches Problem ist, das philosophisch nicht viel hergibt. Aber in Verbindung mit dieser Kritik steht auch die Frage, ob man wirklich alles politisieren muss. Es ist natürlich richtig, dass es Irrationales an der Rationalität gibt, aber diese Irrationalität trifft nur die Ausübung der Rationalität, nicht aber sie selbst. Allenfalls könnte man sagen, dass die Ratio an diesen Stellen an eine Grenze ihres Vermögens komme, die systemimmanent wäre, aber das scheint mir aufgrund der reflexiven Struktur nicht angemessen zu sein.
Habernmas lebt immer noch
und hat ja gerade wieder einiges gesagt respektive geschrieben
zur Situation HEUTE (z.B. "Der gespaltene Westen, „Glauben und
Wissen“ usw.), was mir zwar arg kopfert (theoretisch-moralisch)
vorkommt beom angestrengten Lesen, aber jedenfalls zeitpolitisch
relevant ist und konkrete Bezüge hat.
Du vermisst also an der Philosophie den Gegenwartsbezug? Das wundert mich sehr, denn das trifft allenfalls für die akademische Philosophie und eigentlich auch nur für Teile von ihr zu. Und die Aktualisierung gehört auch nicht zu den vorrangigen Aufgaben der akademischen Philosophie. Von einem theoretischen Physiker würdest du ja auch nicht verlangen, dass er dir deinen Herd anschließt, weil dafür Elektriker da sind. Aber ohne die Arbeit der theoretischen Physiker könnten wir hier nicht kommunizieren, weil es keine PCs gäbe, und ich bin mir nicht sicher, ob jeder theoretische Physiker die Hardware seines Computers versteht. Genauso ist es mit der Philosophie, die Theoretiker sind nicht unbedingt die besten Didaktiker und umgekehrt. Während aber die Theoretiker ohne Didaktiker gut vor sich hin leben könnten, hätten die Didaktiker ohne die Theoretiker einen schlechten Stand.
Um zu Marcuse zurückzukommen: Ohne Hegel, Husserl und Heidegger ist Marcuse nicht denkbar. Er verlegt ja lediglich die von ihm selbst zu Recht angeprangerte Eindimensionalität in den konkreten Menschen und überlässt den abstrakten Teil der Soziologie. Das ist im Grunde genommen genauso einseitig. Als eigene Leistung scheint mir das unbestreitbar, aber ich meine nicht, dass man da stehenbleiben darf.
Herzliche Grüße
Thomas Miller