Wissenschaft des Geistes und der Phänomene
Moin,
Nenn mir doch bitte ein Experiment.
Geh zu einem Neurologen und lass deine Hirnaktivität aufzeichnen, wenn du an etwas wie Liebe und Mitgefühl denkst. Dann setz dich in eine Höhle, meditiere entsprechend buddhistischer Anleitung 12 Stunden am Tag über Liebe und Mitgefühl. Das machst du ca. 12 Jahre lang. Danach gehest du wieder zum Neurologen und lässt wieder aufzeichnen, was in deinem Hirn passiert, wenn du über Liebe und Mitgefühl meditierst.
Was heißt wissenschaftliches Niveau, wenn Wissenschaft in
diesem Zusammenhang gar nicht unser westliches Verständnis von
Wissenschaft bedeutet?
Erkenntnisse, die Buddhisten beispielsweise über die Funktionsweise des Geistes etc. gewonnen haben, wurden vielfach im Westen belächelt, weil sie als „subjektiv“ galten. Nachdem westliche Wissenschaftler aber in der Lage sind, bestimmte Ergebnisse (siehe oben der Versuch mit der Meditation) nachzumessen, hat sich hier eine sehr fruchtbare Zusammenarbeit entwickelt.
Die Naturwissenschaften, die vielleicht im alten Indien noch kultiviert wurden, sind in tibetischen Klöstern nicht weiterentwickelt worden, weil man darin vermutlich keinen Sinn sah. Die naturwissenschaftliche Herangehensweise an die Erforschung der Phänomene wurde hier aber beibehalten. Der Dalai-Lama drückt es folgendermaßen aus:
Nach und nach endtecket idh durch die Gespräche, die ich mit anderen über die Wissenschaft führte - insbesondere mit ihren professionellen Vertretern - gewisse Ähnlichkeiten in der Art und Weise des Forschens zwischen dieser Disziplin und dem buddhistischen Denken. Diese Ähnlichkeiten finde ich auch heute noch bemerkenswert. Der wissenschaftliche Ansatz, so wie ich ihn verstehe, führt von der Beobachtung bestimmter Phänome der materiellen Welt zu einer theoretischen Verallgemeinerung, die Vorhersagen erlaubt, wie diese Phänome sich verhalten, wenn sie in einer bestimmten Weise beeinflusst werden. Danach werden die Vorhersagen im Experiment überprüft. Die so gewonnenen Ergebniss gehen in die allgemeine wissenschaftliche Erikenntnis ein, sobald ein Experiment korrekt durchgeführt und wiederholbar ist. Falls das Experiment einer vorherrschenden Theorie widerspricht, ist es die Theroie, die revidiert werden muss - denn die empirische Beobachtung der Phänomene ist letztendlich vorrangig. Tatsächlich bewegt sich die Wissenschaft also von der empirischen Erfahrung über einen konzeptionellen Gedankenprozes, in dem das rationale Denken eine wichtige Rolle spielt, hin zu weiteren empirischen Erfahrungen, die das auf der Vernunft gegründete Verständnis bestätigen. Immer wieder begeistern mich die Parallelen zwischen dieser Form der empirischen Untersuchung und jenen, die mit aus meiner buddhistisch-philosophischen Ausbildung und kontemplativen Praxis vertraut sind.".
(Dalai Lama: Die Welt in einem einzigen Atom, s. 29f).
Diese wissenschaftliche Ansatz an die Erforschung des Geistes und anderer Phänome mag eine besondere Eigenschaft des tibetischen Buddhismus sein (aus anderen buddhistischen Traditionen ist mir derartiges nicht bekannt) aber beruht auf buddhistischen Grundsätzen. Der Buddha forderte die Menschen auf, die Phänomene so zu sehen, wie sie sind, was, wie du dir sicher denken kannst, eine Vielfalt an Fragestellungen, auch philosophischer Art, aufwirft.
Diesbezüglich ist der buddhistische Ansatz dem traditionell wissenschaftlichen Ansatz im Westen sogar überlegen, denn der buddhistische Ansatz ist sich sehr bewusst, dass ein Instrument nur das misst, was es messen kann (und sonst gar nichts), und dies auch nur in einem bestimmten Moment. Das scheint der technik-gläubig Westen manchmal zu vergessen, wenn er zum Beispiel annimmt, dass die Dinge auch so sind, wie sie uns erscheinen.
Meinst du damit antike astronomische
Beobachtungen?
Nein.
Ich meine zum Beispiel Beobachtungen wie die, das bislang noch kein Phänomen gefunden wurde, das beständig, teilelos und unabhängig ist. Oder die Tatsache, dass man bestimmte Ursachen und Umstände braucht, um ein bestimmtes Phänomen zu erzeugen. Ersteres ist zum Beispiel bei der Fragestellung inderessant, ob es ein beständiges, teileloses und unabhängiges „Ich“ geben kann. Letzeres würe bei der Fragestellung interessant, ob man aus „Nichts“ etwas Materielles wie unseren Planeten „erschaffen“ kann usw.
Und inwiefern sind die „Ergebnisse“ bombenfest?
Seit man den Buddhisten mit irgend welchen Messtechniken oder den Ergebnissen z.B. der Quantenphysik auf den Pelz rückt, ist bislang noch kaum eine buddhistische Erkenntnis widerlegt worden (ich wüsste keine), statt dessen findet man eher Belege für das, was Buddhisten immer schon wussten (Beispiele: Plastizität des Gerhins auch bei Erwachsenen). Während einige Erkenntnisse der Neurobiologie und Physik (Quantenphysik etc.) bislang „gültige“ Ergebnisse im Westen immer wieder revolutionieren, kommen diese Erkenntnisse für Buddhisten nicht wirklich überraschend.
Würdest du unsere westliche Naturwissenschaft als christliche
Wissenschaft bezeichnen?
Nein. Hier im Westen hat es irgendwann eine Spaltung zwischen Naturwissenschaft, Philosophie und Religion gegeben, was teilweise auch zu großen Problemen führt, wenn man hier im Westen zum Beispiel relativ ratlos vor der Frage steht, was an Wissenschaft in welcher Form ethisch vertretbar ist und was nicht oder wie man mit den Erkenntnissen der Quantenphysik umgeht, wenn die Philosophie einen im Stich lässt.
Denn nur, weil ein Wissenschaftler in
einem bestimmten religiösen Umfeld aufwächst oder einer
Religion angehört, bedeutet dies ja nicht, dass die
Wissenschaft, die er betreibt, dieser Religion zuzuordnen sei
oder dass ihre Ergebnisse Einfluss auf die Religion hätten.
Das ist richtig. Dies ist aber im Buddhismus der tibetischen Tradition anders, da diese Spaltung hier nie stattgefunden hat.
Gruß
Marion