Symbolfigur Enke
Hi Kassandra.
Gerade hat die Trauerfeier für Robert Enke angefangen und
angesichts dieses Medienspektakels frage ich mich - woher
kommt dieses übertriebene Trauern, das sich im Moment in
unserer Gesellschaft zeigt?
Ich möchte hier gegen den Strom der bisherigen Meinungen schwimmen und versuchen, den eigentlichen Sinn des „Spektakels“ herauszufiltern. Den aktuellen Enke-Kult zu kritisieren, ist offensichtlich so selbstverständlich und weitverbreitet, dass diese kritische Einigkeit selbst schon verdächtig ist - mir jedenfalls.
Die Faktoren, die das Spektakel motivieren, sind so vielschichtig, dass es oberflächlich wäre, würde man nur den Aspekt des Medienrummels und der damit verbundenen Geschäftemacherei in den Vordergrund stellen. Mindestens genauso wichtig ist der symbolische Stellvertreter-Aspekt, auf den auch „tumiart“ unten schon hinwies. Dieser Aspekt nämlich spielt hier die Hauptrolle - denke ich -, und für diese Rolle ist bzw. war Robert Enke absolut ideal geeignet.
Fußball ist Showbusiness, und deswegen gehört Enke in die Kategorie der Showstars, nicht anders als Musiker oder Schauspieler usw. Das darf man hier nicht vergessen. Enke war nicht „nur“ Sportler, er war - als Sportler - ein Showstar. Showstars aber führen in hohem Maße ein symbolisches Dasein, indem sie Projektionsflächen darstellen, in denen die anonyme Masse ihre eigenen Wünsche, Phantasien und Konflikte wiedererkennen können.
Diese symbolische Effekt macht mindestens die Hälfte des Reizes aus, den der Fußball heute im öffentlichen Bewusstsein hat. Liefen nur anonyme Gestalten auf dem Spielfeld herum, wäre die Fußballbegeisterung längst nicht so überschäumend, wie sie nun einmal ist. Erst die persönlichen Details machen die Spieler zu identifikatonsfähigen „Helden“, d.h. zu Menschen, die unter Einsatz ihrer Gesundheit ein bestimmtes (von einer Identifikationsgruppe = Fans gewünschtes) Ziel zu erreichen versuchen.
In ihren Konflikten kann sich jeder wiedererkennen, d.h. Konflikten mit dem Chef (Trainer), mit den Kollegen (andere Spieler), mit beruflichen Situationen (Stammplatz, Transfers usw.) und eigenen Leistungsschwankungen („Formkrisen“).
Die Fußball-Show-Welt ist also eine virtuelle Bühne des „wahren“ Lebens, reduziert auf das Wesentliche (= Stilisierung). Zugleich ist sie absolut real (Spieler verdienen viel Geld und können sich ernsthaft verletzen).
Enkes Tod hat ein Loch in diese Idealität gerissen, denn er ist eigentlich unverständlich und ein großes Rätsel. Der Mann hatte eine tolle Frau, ein adoptiertes geliebtes Kind, viel Geld und großen Erfolg. Aber er war psychisch krank. So krank, dass er all jenes aufgab und auch nicht bedachte, mit seiner Aktion den Zugführer zu traumatisieren, der - wie es heißt - möglicherweise dauerhaft darunter leiden wird.
Enkes Fall zeigt deutlich den Abgrund hinter der Glitzerfassade des Showbiz Fußball. Damit symbolisiert er nichts anderes als den Abgrund, an dessen Rande wir alle - gleich ob anonym oder prominent - stehen.
Das Spektakel um Enke ist Ausdruck eines Versuchs, diesen Schock - mit dem viele sich symbolisch identifizieren - zu verarbeiten. Das Phänomen der Depression - das Enke in den Tod trieb - ist weitverbreitet und kann jetzt mit erhöhter Intensität diskutiert werden. Und das ist ein positiver Effekt.
Der Fall wird im öffentlichen Bewusstsein etwas auslösen, nämlich eine erhöhte Sensibilität für das Doppelbödige im Menschen, in uns selbst und in den anderen. Wer am Sonntag im DSF den „Doppelpass“ gesehen hat, weiß, wie feinfühlig und intelligent auch in den Medien mit diesem Fall umgegangen werden kann. Die Sendung - unter Leitung von Jörg Wontorra - war ein Highlight in Sachen „Synthese von Medienspektakel und sachlicher Analyse“.
Dass - wie ich oben sagte - Enke für diese symbolische Rolle ideal geeignet war, liegt vor allem an seiner relativen Unbekanntheit (so eignet er sich besser zur Identifikation als ein echter Star).
Übrigens waren sich die Experten im „Doppelpass“ darüber einig, dass Enke nicht in den Tod gegangen wäre, wäre er für das nächste Länderspiel nominiert worden. Damit bleibt die oberflächliche Kausalität bei Löw hängen, was man dem aber nicht vorwerfen kann, da keiner - auch nicht enge Freunde - das hätten vorhersehen können.
Ich sehe das Ganze also dialektisch. Vordergründig mag es heuchlerisch und geschäftemacherisch aussehen, der mittel- und langfristige Effekt aber könnte durchaus positiv sein.
Gruß
Horst