Die Urquellen und deren Gewichtung
Hallo Bona,
Quelle für diese und andere Episoden der Vita Thomae (wie die Geschichte mit dem Holzscheit, dem Brotkorb, dem Banquet beim König etc.) sind die Ystoria sancti Thome de Aquino de Guillaume de Tocco (1323), C. Le Brun-Gouanvic (ed.), Studies and Texts, 127: Pontifical Institute of Medieval Studies, Toronto, 1996 und das Liber de inquisitione super vita et conversatione et miraculis fratris Thomae de Aquino, M. H. Laurent(ed.), Fontes vitae S. Thomae Aquinatis notis historicis et criticis illustrati, 4: Revue Tomiste, Saint Maximin [Var], 1931) n. 85 p. 386-389.
Auszüge finden sich hier:
http://www.corpusthomisticum.org/lgtocc18.html
Man sollte hierbei nicht vergessen: Es handelt sich um eine Quelle (es gibt weitere, cf. http://www.corpusthomisticum.org/ilcatope.html ), die als eine Art Untersuchungsbericht für den Kanonisierungsprozess von Thomas von Aquin verfasst wurden und vor allem dazu dienten die Heiligkeit des Aquinaten herauszustreichen. In der Ystoria beispielsweise - wo ich nun kurz nachschauen konnte - werden gerade vor dieser Episode zwei Situationen einer mystischen Erfahrung unter Zeugen beschrieben (komplett mit Levitation und der Stimme Gottes).
Wie gesagt, es sind interessante Details, die allerdings auf Dokumenten beruhen, die a) ein klares Ziel verfolgen und b) auf Augenzeugenberichte von Mitbrüdern von Thomas zurückgehen, also auch wieder historisch nicht überprüfbar sind.
Kurt Flasch schreibt (allerdings auch wieder ohne Beleg, aber :immerhin mit der Formulierung „definitiv“) in „Das philosophische
enken im Mittelalter“ (Hervorhebung von mir):
„Der Kommentar … (wurde) in Neapel geschrieben, wo Thomas seit 1272 :ein neues Ordensstudium aufbaute und wo er am 6. Dezember 1273 :definitiv zu schreiben aufhörte, körperlich erschöpft und in einer :seelischen Depression, die anhielt bis zu seinem Tod am 7. März :1274.“
Nun, also, dass Flasch immer eine Note „definitiver“ schreibt, als belegbar ist, ist kein Geheimnis. Und ich schreibe das nicht nur, weil ich zu 80% anderer Meinung bin als Flasch.
DIe Historiographie ist nunmal keine exakte Wissenscahft und in der Sekundärliteratur werden schnell mal nicht-existente Manuscripte erfunden, uralte (nicht auffindbare) Dokumente als Belege bemüht und immer weiter zitiert oder Oppositionen konstruiert, für die es keine historischen Belege gibt. Die einzige Möglichkeit da durchzusteigen ist die philosophische Methode: alles anzweifeln, bis man es nicht selbst gefunden hat und immer die Frage nach der Schreibermotivation stellen. Und dann passiert Dir plötzlich, dass Du ein fehlendes Puzzlestück findest, welches das ganze Bild - das über 150 Jahre lang aufgebaut wurde - komplett auseinanderreisst… Welcome to my world.
Noch ein Wort zu Flasch: er hat die Bochumer Schule begründet. Solide Texteditionen, rein rationelle Betrachtung der philosophischen Thesen etc. Da ist es klar, dass er eine solche mystische Verklärung in den Quellen rausfiltert. Er war es ja auch, der die Umkehrszene bei Augustinus als „psychologische Rechtfertigung“ abschmetterte.
Es kommt immer auf die Gewichtung an, nicht wahr?
)
Liebe Grüsse
Y.-