Philosophische Rückenschmerzen

Hallo Oliver,

Sein Falsifikationsprinzip
leistet meines Erachtens nicht das, was Popper ihm zuschrieb.
Falsifizierbarkeit ist zwar ein Kriterium, aber es ist nur
eines unter mehreren, um Wissenschaft von Nicht-Wissenschaft
zu trennen.

Zudem ist seine Wissenschaftstheorie viel zu streng. Man
sollte keine Theorien aufstellen und anschließend nur nach
Widerlegungen suchen. V.a. sollte man eine Theorie nicht
gleich aufgrund einer Widerlegung verwerfen und dann eine neue
konstruieren. Das ist nicht nur zu streng, sondern auch
unökonomisch.

Inwieweit zu streng. Die große Neuerung des Falsifikationismus ist es doch, deduktiv, statt induktiv vorzugehen, was heißt, dass ein Schluss vom Allgemeinen (a) auf das Besondere (b) zu erfolgen hat. Also: ein (hypothetischer) Satz a muss sich so an einer einzelnen Beobachtung b bewähren: a -> b; wenn a wahr ist, dann ist b wahr; das Falsifikationsprinzip nun: sollte b falsch sein (als eine Beobachtung gegen die Theorie sprechen) so ist der Schluss falsch und damit die Theorie falsifiziert.

Wie kannst Du nun behaupten, man „sollte“ die Theorie nicht gleich auf Grund einer Widerlegung verwerfen. Entweder man erkennt das Deduktionsprinzip des Falsifikationismus an und m u s s die Theorie verwerfen, oder man erkennt es nicht an, dann darf man die Theorie auch mit 10000 widerlegenden Beobachtungen im Namen des Falsifikationismus nicht verwerfen. Will man ein Theorie also nicht gleich bei der ersten widerlegenden Beobachtung verwerfen, bei einer Häufung aber schon, dann kann man am Deduktionsprinzip nicht festhalten, was aber heißt: kann am Falsifikationismus nicht festhalten, weil das Deduktionsprinzip dessen Herzstück ist. Dann kann aber auch gar nicht mehr gelten:

Falsifizierbarkeit ist zwar ein Kriterium…,

es sei denn, eine übergeordnete Theorie würde die Relation dieses Wahrheitskriteriums zu anderen Kriterien (welche sagst Du ja nicht) reflektieren und wäre damit aber erst mal selbst in der Beweispflicht.

  1. Kritik an der Psychoanalyse : Diese Kritik ist
    Bestandteil von Poppers wissenschaftstheoretischer Auffassung,
    weil er mit ihr sein Falsifizierbarkeitskriterium begründete.

Meines Erachtens exemplifiziert (nicht: begründet) er seine Auffassung am Beispiel der Psychoanalyse (und an dem des Marxismus). In unserem Zusammenhang also muss sich Popper, nicht die Psychoanalyse, verteidigen. Leider hat sich die Diskussion teilweise anders entwickelt (dafür kannst Du nichts, hast aber natürlich damit einen Anstoß gegeben; es ist also kein Vorwurf an Dich, sondern der Versuch, allgemein die Psychoanalyse in diesem Zusammenhang aus der Verteidigungsbank zu entlassen; Popper gehört im Moment darauf!)

Für Popper ist die Psychoanalyse keine Wissenschaft, weil ihre
Aussagen nicht falsifizierbar sind. Ich zweifle, ob die
Begründung Poppers zutreffend ist (aber nicht daran, daß sie
eine Pseudowissenschaft ist).

Grund: Viele psychoanalytischen Aussagen sind empirisch
untersucht worden. Dabei stellte sich heraus, daß die
empirischen Daten diese Aussagen nur wenig stützen.

Ist deshalb nicht das Thema dieses Threads. Es würde mich natürlich interessieren, mit welchen Kriterien Du diese Behauptung aufstellen kannst, aber das hat mit meinen persönlichen Interesse zu tun.

Anders formuliert: Prinzipiell sind die psychoanalytischen
Aussagen zwar falsifizierbar, aber die Analytiker ignorieren
die widersprechenden empirischen Befunde bzw. interpretieren
sie in ihrem Sinne um.

Das klingt viel zu sehr nach „die bösen Analytiker“. Ich stimme Dir vollkommen zu, dass viele empirische Befunde vielen psychoanalytischen Aussagen widersprechen. Aber: es ist doch absolut statthaft (und Praxis auch anderer Wissenschaften) diese „empirischen Befunde“ bzw. die ihnen unterliegenden Voraussetzung zu hinterfragen. Richtig ist natürlich (und ich glaube, Du meinst vor allem dies!), wenn diese Befunde „zirkulär“ hinterfragt werden, nach dem Motto: darin zeigt sich doch nur der Penisneid!, etc. Dies ist durchaus richtigerweise als Immunisierungsstrategie anzuprangern. Aber das ist eben nicht alles.

Viele Grüße
franz

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Hi,

Falsifizierbarkeit ist zwar ein Kriterium…,

es sei denn, eine übergeordnete Theorie würde die Relation
dieses Wahrheitskriteriums zu anderen Kriterien (welche sagst
Du ja nicht) reflektieren und wäre damit aber erst mal selbst
in der Beweispflicht.

Eine Deduktion ist kein dialektischer Schluß. Insofern hatten nämlich Popper wie auch Adorno nicht ganz unrecht.
Über vorausgehende Analyse gelangt man zu einem synthetischen - und damit positivistschem - Schluß, den es in der Realität zu überprüfen gilt. So kann gezielt an Randbereichen geforscht werden.
Dennoch bleibt die daraus folgende Hypothese oder Theorie falsifizierbar.

  1. Kritik an der Psychoanalyse : Diese Kritik ist
    Bestandteil von Poppers wissenschaftstheoretischer Auffassung,
    weil er mit ihr sein Falsifizierbarkeitskriterium begründete.

Meines Erachtens exemplifiziert (nicht: begründet) er
seine Auffassung am Beispiel der Psychoanalyse (und an dem des
Marxismus).

Achtung! Psychoanalyse ist keine Analyse der Psyche im Sinne mat. Dial.!
Sie ist tatsächlich hermeneutisch. Es ist wohl eher eine Frage der Entwicklung dieser „Neuwissenschaft“, inwieweit asie sich in den anderen manifestieren kann. Alle anderen Wissenschaften können auch nur soo angefangen haben, indem man an einer x-beliebigen Stelle beginnt, das big puzzle zu lösen.

Gruß
Frank

Nachtrag
Hallo Thomas,

Von welchem bahnbrechenden Ergebnis sprichst Du bitteschön???

Von der Positionierung gegen den Wiener Kreis.

Also doch von der Kritik des Verifikationismus bzw. dessen
Umbaus zum Falsifikationismus?

Ich kann überhaupt nichts Bahnbrechendes darin sehen. Wass
soll das sein. Meines Erachtens ist der Falsifikationismus nur
ein umgedrehter Verifikationismus.

Ohne die Antwort abzuwarten, möchte ich kurz die Begündung für diese kühne Behauptung nachreichen:

Popper sieht zu Recht beim Verifikationismus das „Induktionsproblem“, also das Problem, dass sich ein allgemeiner Satz (welcher auf Grund seines Allgemeinheitsanspruches sich auf eine unendliche Anzahl an Anwendungsfällen bezieht) nicht durch ein endliche Anzahl an Beobachtungen verifizieren lässt. Die Verifizierung ist so ein unabschließbarer Prozess, weil sie induktiv vorgeht.
Der Falsifikationismus dagegen geht deduktiv vor. Er stellt einen allgemeinen Satz hypothetisch auf und sucht nach dessen Falsifizierung. Der Forschungsprozess bringt damit eine unendliche Anzahl an möglichen allgemeinen Sätzen (Theorien) hervor, welche durch Falsifizierung verworfen werden müssen. Auch hier also ein unabschließbarer Prozess. Das Poppersche Argument, man würde sich an die Wahrheit annähern, ist falsch, weil eine unendliche Menge (an möglichen allgemeinen Sätzen) minus eine endliche Menge (an falsifizierten Sätzen) eine unendliche Menge ist. (Popper kann nicht zwingend nachweisen, weshalb der Wissenschaftsprozess nur eine endliche Anzahl an allgemeinen Sätzen hervorbringen könnte.)

Nun behaupte ich, dass der Falsifikationismus nur die Umkehrung des Verifikationimus ist: Beim V. ist die Anzahl der notwendigen Beobachtungen unendlich, beim F. endlich (eins). Beim V. ist die Anzahl der (verifizierten) allgemeinen Sätze endlich (null), beim F. ist die Anzahl der (hypothetischen) allgemeinen Sätze unendlich. Die Problematik des V. ist also die Tatsache, dass die Anzahl möglicher verifizierender Beobachtungen immer endlich bleiben muss, womit der allgemeine Satz nie erreicht werden kann, während die des F. die Tatsache ist, dass die Anzahl der Verwerfungen von Sätzen immer endlich bleiben muss, damit die Zahl der möglichen allgemeinen Sätze niemals endlich werden kann. In beiden Fällen diesselbe Problematik: der Wissenschaftsprozess ist endlos, Annäherung an Wahrheit (wie Popper sie postuliert) unmöglich, weil: Verifikationismus=null verifizierte allgemeine Sätze und Falsifikationismus=unendlich viele mögliche allgemeine Sätze. Beide müssten letztlich zum Probabilismus greifen: der V., indem er die Unwahrscheinlichkeit postuliert, dass trotz so vieler Verifikationen der allgemeine Satz falsch sein könnte, und der F., indem er die Wahrscheinlichkeit postuliert, dass durch so viele Verwerfungen von allgemeinen Sätzen unser Bild von der Realität besser geworden wäre.

  1. Natürlich behaupte ich nicht eine genaue Umkehrung des V. zum F., sondern benutze das Wort eher spontan; dennoch bin ich der Meinung, dass der F. das Pferd des V. einfach von der anderen Seite einspannt.
  2. Nun ist die Ausgangsfrage, die Branden gestellt hatte, ob dies „bahnbrechend“ sei, damit nicht beantwortet, aber mir scheint doch die Ablehnung beider durch Kuhn, Lakatos, Feyerabend, etc. weitaus bahnbrechender zu sein. Popper wird meines Erachtens aus allen möglichen Gründen viel zu hoch gehandelt.

Viele Grüße
franz

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Hi Franz

Meines Erachtens exemplifiziert (nicht: begründet) er
seine Auffassung am Beispiel der Psychoanalyse (und an dem des
Marxismus). In unserem Zusammenhang also muss sich Popper,
nicht die Psychoanalyse, verteidigen.

Da ist was dran

Das klingt viel zu sehr nach „die bösen Analytiker“.

Ja, wir kennen ja mittlerweile Olivers Geschmack diesbezüglich :wink:
Gruß,
Branden

Hallo Franz

Ziel der Kontroverse [Positivismusstreit, FBH]
ist nicht ein Ja oder Nein zur Empirie, sondern die
Interpretation von Empirie selber" (aus: „Gesellschaftstheorie
und empirische Forschung“).
Mit deiner Zustimmung
akzeptierst Du, die Psychoanalyse von nun an als Wissenschaft
gelten zu lassen, was richtig ist, aber als
Nicht-Erfahrungs-Wissenschaft, was ich für unnötig halte.

So gesehen…

Erstens geht es zu weit, die Psychoanalyse als Ganzes der
Hermeneutik zuzuordnen. Mag sein, dass es hermeneutischen
Strömungen in der Psychoanalyse gibt, ihre Begründung durch
Freud und ihre -aus meiner Sicht eminent wichtige-
Neu-Begründung durch Lacan „arbeiten“ alles andere als
hermeneutisch. Mit deiner Zustimmung begibst Du Dich in die
Gefahr, die „Wissenschaftlichkeit“ der Psychoanalyse von der
der Hermeneutik abhängen zu lassen; und mir scheint,
„Hermeneutik“ soll genau dieser Typus von
Wissenschaft-ohne-Erfahrung sein, der oben gemeint ist.

…magst Du allerdings Recht haben. Vielleicht bin ich wirklich zu defensiv. Das mag daran liegen, dass ich ein genaueres Gefühl innerhalb der konkreten Anwendungen von Psychoanalyse und Psychosomatik habe als wenn es so abstrakt wird.
Lieben Gruß,
Branden

Hallo Thomas

Von welchem bahnbrechenden Ergebnis sprichst Du bitteschön???

Von der Positionierung gegen den Wiener Kreis.

Ja, gut (wie die Sportler in Interviews zu sagen flegen), aber das als bahnbrechend zu bezeichnen, kommt mir heutzutage ein wenig so vor, als wenn Du den Papst als Revolutionär bezeichnest. Klar hat der Papst auch revolutionäre Mikro-Aktionen entwickelt als junger Mensch in Polen, aber ist das heute ein Thema? Genausowenig scheint mir Poppers ewige Leier (die er gerne sang), er sei ja nicht (mehr) so ein Positivist wie der Wiener Kreis ein müdes Lied zu sein. Als wenn einer sagt „Ich war mal auf ner Anti-Vietnam-Demo dabei.“ :wink:
Gruß,
Branden

Hallo Thomas,

nachdem das Niveau dieses Threads insbesondere durch dein
Posting spürbar angehoben worden ist, weil es beim Urteilen
über Popper eben nicht nur um Gefallen oder Missfallen geht,

die Firma dankt.

Auch für Popper ist das Falsifikationsprinzip nicht das
einzige Kriterium für Wissenschaft. Zwar ist es bei Popper wie
du richtig sagst das hauptsächliche Abgrenzungskriterium
zwischen Erfahrungswissenschaft und Metaphysik und richtet
sich in der Logik der Forschung vor allem gegen das
empiristische Sinnkriterium des Wiener Kreises.

Ich beziehe mich natürlich auf Poppers Anspruch, ein Abgrenzungskriterium geschaffen zu haben. Ich habe Zweifel daran,

a) ob es überhaupt ein scharfes Abgrenzungskriterium gibt,
b) daß das Falsifizierbarkeitskriterium dieses Abgrenzungskriterium ist,
c) daß es das einzige Kriterium ist, mit dem man beurteilen kann, ob Aussagen wissenschaftlich oder nicht sind.

Ich halte zwar die
Psychoanalyse nicht für eine Pseudowissenschaft, sondern für
eine andere Art Wissenschaft als die empirischen
Wissenschaften, aber da wirst du meiner Erfahrung nach nicht
mit dir reden lassen, fürchte ich.

Richtig. Ich teile Deinen Standpunkt nicht.

Wir hatten uns einmal darauf geeinigt, meine ich, dass die
Psychoanalyse hermeneutisch arbeitet.

Nein. Es ist der Standpunkt von Habermas und Co., die Psychoanalyse zu einem Prototyp hermeneutischer Wissenschaft umzuinterpretieren. Ich teile dieses Ansinnen nicht. Ich weiß aber von Dir, daß Du die Psychoanalyse als hermeneutische Wissenschaft siehst (auch wenn Du das neulich dementiert hast). Wovon ich damals sprach, ist, daß ich psychoanalytischen Theorien durchaus heuristischen Wert beimesse. Zugegeben: Das Wort klingt ähnlich, ist meinem Sprachgebrauch aber doch etwas anderes als hermeneutisch.

Es ist also entscheidend, ob man der
Hermeneutik Wissenschaftscharakter beimisst oder nicht. Wenn
man rein empirisch orientiert ist,

Wenn man die PA als empirische Wissenschaft beurteilt, fällt sie m.E. durch. Als hermeneutische Wissenschaft kann ich sie nicht beurteilen, weil ich die Kriterien nicht kenne. Aber das macht nichts. Ricoeur soll sie ja auch nicht gekannt haben. :wink: Außerdem ist es fraglich, ob die PA überhaupt eine hermeneutische Wissenschaft ist. Und: Die Konzeption der PA als hermeneutische Wissenschaft scheint auf ziemlich wackligen Füßen zu stehen.

folgerichtig, der Psychoanalyse die
Wissenschaftlichkeit abzuerkennen. Ob das aber zwingend ist,
halte ich nach wie vor für fraglich.

Ich würde hier noch weiter differenzieren. Manche psychoanalytischen Theorien halte ich für wertvoll und sie haben auch empirische Unterstützung erfahren, z.B. die Bindungstheorie von Ainsworth. Deshalb verwende ich diese Theorie auch. All in all fällt die PA aber durch.

Die Frage ist, ob die empirischen Befunde überhaupt verwendbar
sind bzw. ob sie nicht am Wesentlichen der Psychoanalyse
vorbeigehen.

Das ist für mich keine Frage, denn ich bin kein Befürworter der Uminterpretation der PA in eine hermeneutische Wissenschaft. Ich sehe z.B. gar nicht, welchen Wert diese andere Interpretation hat.

Aber es ist die Frage, ob man ihm
anlasten kann, wenn er sich in diesen Punkten vielleicht irrt.
Ich finde, es ist genug, wenn man ein bahnbrechendes
Ergebnis vorweisen kann. Man muss nicht überall erfolgreich
sein, um bedeutend oder auch nur gemocht zu werden. :smile:

Ich habe kein Problem mit Popper im allgemeinen. Er bedeutet mir weder besonders viel, noch besonders wenig.

Grüße,

Oliver Walter

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Hallo Branden,

…magst Du allerdings Recht haben. Vielleicht bin ich
wirklich zu defensiv. Das mag daran liegen, dass ich ein
genaueres Gefühl innerhalb der konkreten Anwendungen von
Psychoanalyse und Psychosomatik habe als wenn es so abstrakt
wird.

versteh mich bitte nicht so, dass ich Dich irgendwie belehren wollte. Ich wollte mit diesem Beitrag lediglich verhindern, dass in einem Thread zu Popper plötzlich der Psychoanalyse ans Leder gegangen wird. Rechne es meiner Angst zu, ein mir so lieb gewordenes Objekt wie die Psychoanalyse zu verlieren, nur weil die Leute immer nur ans poppe®n denken, um die akademische Karriere zu sichern.

Viele Grüße
franz

Lieber Franz

Das Poppersche
Argument, man würde sich an die Wahrheit annähern, ist falsch,
weil eine unendliche Menge (an möglichen allgemeinen Sätzen)
minus eine endliche Menge (an falsifizierten Sätzen) eine
unendliche Menge ist.

Popper wird
meines Erachtens aus allen möglichen Gründen viel zu hoch
gehandelt.

Insgesamt eine hochintelligente Analyse, Franz! Meine Hochachtung und ein Sternchen!
Gruß,
Branden

Hallo Jacobias,

ich meine beides:

a)es gäbe auch Wissenschaft obwohl diese nicht falsifizierbar
sei,

Ich denke, daß Theorien hypothetische Konstrukte enthalten können, die nicht falsifizierbar sind. Z.B. Neutrinos. Die Aussage „Es gibt Neutrinos“ ist nicht falsifizierbar. Oder „Verdrängung“: Die Aussage „Es gibt Verdrängung“ ist nicht falsifizierbar. Aber beides muß auch nicht gegeben sein, damit Theorien über Neutrinos oder Verdrängung wissenschaftlich sind.

b)obwohl etwas unter dem Kriterium der Falsifizierbarkeit
Wissenschaft ist, gibt es weitere Kriterien, die diese als
Wissenschaft ausschließen können.

Ja. Das Sparsamkeitskriterium zum Beispiel. Wenn man etwas erklärt und dafür statt weniger Annahmen sehr viele oder außergewöhnliche macht, spricht dies gegen die Wissenschaftlichkeit der Theorie. Nehmen wir Uri Gellers Uhrenreparatur. Die Annahme, daß Psi-Kräfte am Werk sind, hat wohl kaum den gleichen Status wie die Annahme, daß das Schütteln oder Aufziehen (!) der Uhren die Ursache dafür ist, daß die Uhren wieder funktionieren.

Zudem ist seine Wissenschaftstheorie viel zu streng. Man
sollte keine Theorien aufstellen und anschließend nur nach
Widerlegungen suchen.

Warum nicht ? Es geht doch darum rauszukriegen, ob die Theorie
der Wirklichkeit standhält.

Deshalb sollte man beides tun: Belege für die Theorie sammeln und sie der Gefahr von Widerlegungen aussetzen.

V.a. sollte man eine Theorie nicht
gleich aufgrund einer Widerlegung verwerfen und dann eine neue
konstruieren. Das ist nicht nur zu streng, sondern auch
unökonomisch.

Es genügt doch eine Änderung der Theorie.

Damit muß man vorsichtig sein. Post hoc-Anpassungen von Theorien, womöglich mit Zusatzannahmen, können leicht in Richtung Immunisierung gehen.

Was soll man denn machen mit einer Theorie die der Wirklichkeit
widerspricht ?

Nicht benutzen. Beispiele: Traumtheorie Freuds. Klassische psychoanalytische Entwicklungslehre.

Grüße,

Oliver Walter

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Hallo Branden,

Zudem ist seine Wissenschaftstheorie viel zu streng. […]

Hier bin ich mit Dir einer Meinung!

schön. :smile:

Im zweiten Teil -wie Du Dir denken kannst - nicht.

Ja, das dachte ich mir.

Gruß,

Oliver Walter

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Hallo Franz,

ich antworte aus zeitlichen Gründen nur auf Deinen ersten Einwand:

Die große Neuerung des Falsifikationismus
ist es doch, deduktiv, statt induktiv vorzugehen, was heißt,
dass ein Schluss vom Allgemeinen (a) auf das Besondere (b) zu
erfolgen hat.

Kein Dissens.

Also: ein (hypothetischer) Satz a muss sich so
an einer einzelnen Beobachtung b bewähren: a -> b; wenn a
wahr ist, dann ist b wahr; das Falsifikationsprinzip nun:
sollte b falsch sein (als eine Beobachtung gegen die Theorie
sprechen) so ist der Schluss falsch und damit die Theorie
falsifiziert.

  1. Wenn a ein unbeobachtbares hypothetisches Konstrukt ist wie in vielen Theorien: Woher weiß man, daß a galt, wenn b nicht galt?
  2. Eine Theorie wird nie im luftleeren Raum geprüft. Immer existieren Rahmenbedingungen. Wenn a gilt, aber nicht b folgt, kann die Theorie falsch sein oder die Annahmen über die Rahmenbedingungen (-> Quine-Duhem-Argument: http://de.wikipedia.org/wiki/Duhem-Quine-These).
    [Das ist ein Beispiel, worin ich Quine zustimme.]
  3. Theorien sind meistens nicht so einfach wie: a -> b. Sie enthalten oft viele solcher Aussagen. Wenn eine Aussage nicht zutrifft, was ist mit den anderen? Soll man dann die ganze Theorie aufgeben? Oder modifiziert man sie nicht besser? Z.B. durch Einschränkung des Geltungsbereichs.
  4. Theorien, besonders psychologische, enthalten meistens keine deterministischen, sondern probabilistische Aussagen. Wenn a, folgt also nicht immer b.

Grüße,

Oliver Walter

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Hermeneutik
Hallo Oliver,

ich möchte gerne eigentlich auf alle Dinge eingehen, kann das aber im Moment aus Zeitgründen nicht, weil ich ja auch Franz antworten muss (und nicht nur hier). Daher lass mich nur eine Sache richtig stellen, die ich einfach so nicht stehen lassen kann.

Ich weiß
aber von Dir, daß Du die Psychoanalyse als hermeneutische
Wissenschaft siehst (auch wenn Du das neulich dementiert hast).

Ich habe dementiert, dass ich Hermeneutiker bin, nicht, dass die Psychoanalyse aus meiner Sicht hermeneutisch arbeitet. Das ist ein wesentlicher Unterschied, auf dem ich bestehen möchte, wenn du erlaubst.

Herzliche Grüße

Thomas Miller

Hallo Thomas,

Ich habe dementiert, dass ich Hermeneutiker bin, nicht, dass
die Psychoanalyse aus meiner Sicht hermeneutisch arbeitet. Das
ist ein wesentlicher Unterschied, auf dem ich bestehen möchte,
wenn du erlaubst.

gern. Denn Du bestätigst jetzt meine damaligen Worte, da ich mich genau so, wie Du es jetzt schreibst, neulich geäußert habe.

„Ich kenne den hermeneutischen Standpunkt, dem Du Dich angeschlossen hast.“
[aus: http://www.wer-weiss-was.de/cgi-bin/forum/showarchiv…]

in Bezug auf die Psychoanalyse, um die es damals ging.

Grüße,

Oliver Walter

1 Like

Hallo Oliver,

möchte Deine Zeit nicht allzu sehr in Anspruch nehmen.
Zu allen vier Punkten stimme ich Dir natürlich zu; Kann ich dich also so verstehen, dass Dein Satz:

V.a. sollte man eine Theorie nicht gleich aufgrund einer Widerlegung :verwerfen und dann eine neue konstruieren.

eben ausschließlich auf „Theorien“, nicht auf Einzelsätze gemünzt war? Dann besteht dazu kein Dissens.

Viele Grüße
franz

Hallo,

hier wurde schon so ziemlich alles genannt was Karl Popper gschrieben/gedacht/gesagt hat. Doch der Punkt, der mir gerade „Rückenschmerzen“ bereitet wurde nur indirekt angesprochen!
Der Punkt mit der Falsifizierung geht in die richtige Richtung, bzw ist das Resultat aus folgender Aussage:

Es gibt eine Wahrheit (das setzt er meines erachtens immer voraus), doch wir sind nicht in der Lage sie jemals (!) zu erkennen. Bzw. wenn wir sie erkannt haben sollten, jeder kann ja mal Glück haben, werden wir das nicht erkennen.

Diese Aussage bereitet mir eigentlich nicht nur Rückenschmerzen sondern Schmerzen in totaler Hinsicht. Seine Argumentation hierzu ist schlüssig und das Ergebnis ist nüchtern und traurig:

Wir wissen, dass wir nichts wissen.
(wußte Sokrates ja auch shcon…)

In meinen Augen ist es genau das, was Popper aus macht. Er schlägt allen ins Gesicht. Wir wissen nicht, wir raten…

Hallo,

ich habe für die Falzifikation bei Popper gelesen und stelle an der Uni immer wieder fest, dass manche großen Kritiker von Popper ihn wohl nicht gelesen haben. Dabei ist Popper-schlecht-machen der small talk klassiker für pseudo-intellektuelle auf der Uni.
Gerade die Falzifikation fand ich (ohne ein großer Experte zu sein) logisch und nachvollziehbar. Die Schlüsse auf die Wissenschaftsentwicklung fand ich allerdings etwas fragwürdig.

Doch hätte ich eine Frage zu deinem Posting:
Braucht es die „eine Wahrheit“ dazu? Wie kannst du davon ausgehen, dass es nur eine Wahrheit, oder überhaupt eine gibt?
Warum kann man eine Theorie nicht von jedem Wahrheitsanspruch befreit als eine Verallgemeinerung der Wahrnehmung ansehen? Nichts anders ist sie schließlich, oder? Oder anders gesagt, nur weil jeder es wahrnehmen kann (intersubjektive Überprüfung) muss es doch längst nicht wahr sein.

Kannst du mir weiterhelfen? Was habe ich übersehen?

viele Grüße,
Hannes

Hallo Oliver,

Ich habe dementiert, dass ich Hermeneutiker bin, nicht, dass
die Psychoanalyse aus meiner Sicht hermeneutisch arbeitet. Das
ist ein wesentlicher Unterschied, auf dem ich bestehen möchte,
wenn du erlaubst.

gern. Denn Du bestätigst jetzt meine damaligen Worte, da ich
mich genau so, wie Du es jetzt schreibst, neulich geäußert habe.
„Ich kenne den hermeneutischen Standpunkt, dem Du Dich
angeschlossen hast.“

ich wundere mich, dass du jetzt die Eigenart annimmst, die sonst Psychoanalytiker besitzen, nämlich doppeldeutige Aussagen als eindeutige zu kennzeichnen … :smile: - aber ich denke, wir können das so stehen lassen.

Herzliche Grüße

Thomas Miller

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Hallo Franz,

leider auch nur kurz:

Dass du sagst, dass Popper Unrecht hat mit der Behauptung der Wahrheitsannäherung, meine ich auch, allerdings würde ich meinen, dass es ehrlicher ist zu sagen, dass man etwas nicht weiß.

Nun behaupte ich, dass der Falsifikationismus nur die
Umkehrung des Verifikationimus ist: Beim V. ist die Anzahl der
notwendigen Beobachtungen unendlich, beim F. endlich (eins).

Das verstehe ich nicht, denn natürlich ist sie beim F. auch unendlich, bezogen auf die Beobachtungen.

aber mir scheint doch die Ablehnung beider durch Kuhn, Lakatos,
Feyerabend, etc. weitaus bahnbrechender zu sein. Popper wird
meines Erachtens aus allen möglichen Gründen viel zu hoch
gehandelt.

Dieser Meinung pflichte ich gerne bei. Mir sind die genannten drei auch wichtiger als Popper selbst, aber die wären eben ohne Popper undenkbar. Dass Popper zu hoch gehandelt wird, würde ich auch sagen. Aber dasselbe gilt für Carnap, Quine etc.

Zur Beantwortung der Wissenschaftsfrage unten komme ich möglicherweise nicht mehr, aber vielleicht ist Feyerabend schon ein gewisser Hinweis auf meine Position, die zwar kein Anarchismus ist (wie er fälschlicherweise auch Feyerabend unterstellt wird), wohl aber eine möglichst breite Basis für den Wissenschaftsbegriff, der damit natürlich seinen Stachel verliert. Andererseits meine ich, dass man - auch wenn man nicht sagen kann, was richtig ist - sagen kann, was mit Sicherheit falsch (also nicht-wissenschaftlich im allgemein verwendeten Sinn ist). Dazu gehört vor allem der axiomatische Ansatz, der sich für unfehlbar erklärt - und genau das ist die Crux bei Marx (eigentlich bei Engels, aber ich denke, du weißt, was ich meine).

Oder?

Herzliche Grüße

Thomas Miller

Hallo Tychi,

warum auch seine Kritik an Platon mangelhaft sei.

leider auch nur kurz, aber vielleicht reicht es ja:

Poppers Kritik an Platon wäre richtig, wenn man Popper so verstehen müsste, wie es Popper tut. Das aber ist nicht richtig. Neben zahlreichen philologischen Ungenauigkeiten bei Popper (ich weiß im Moment nicht genau, wo die verzeichnet sind, ich meine aber, bei White oder Reeve) ist es vor allem die Tatsache, dass Popper Platon den Totalitarismusvorwurf aufpfropft. Platon hat seine Politeia nicht als zu realisierende Utopie verstanden, sondern als formale Explikation des Gerechtigkeitsbegriffes und als Kritik an dem, was man heute liberalen Freiheitsbegriff nennen würde. Freiheit ist immer eingebettet in Notwendigkeiten, was aber nicht bedeuten, dass die Notwendigkeiten die Freiheit erdrücken, sondern dass die Einsicht in diese Notwendigkeiten die Freiheit (als subjektive Freiheit) erst ermöglichen.

Entschuldige bitte die Kürze.

Herzliche Grüße

Thomas Miller