Wichtige Frage: Wo und wann soll der Ketzer fragen
Hallo marktwain,
wie meinen
kommt darauf an, wie Du den Schmusekurs meinst. Dass die andern ihre Meinung sagen dürfen, hat nur dann wirklich Gehalt und kommt auf den Prüfstand, wenn mir ihre Meinung nicht passt.
wenn z.B. das Leben meiner Liebsten bedroht ist
dann kannst Du Dich wehren, ohne an Humanismus einzubüssen. Ich würde aber etwa aus der Tatsache, dass jemand in der Sterbeethikdebatte den Tod von Patienten möglichst früh ansetzt, nicht unmittelbar schliessen, dass er mich umbringen will, wenn ich einst im Spitalbett liege; anderes Beispiel: Ich schliesse auch aus der Forderung, allen Männern Nachteile zuzufügen, nicht den Willen, sie mit Gewalt zu bekämpfen; ich schliesse nicht einmal aus einer rassistischen Theorie, dass jemand Rassen ausrotten will (selbst wenn in diesem Fall die Aufstachelung zu Gewalt oder Anstiftung zu Mord usw. relativ nahe liegt).
Wenn Du die Meinung bekämpfst, verfehlst Du den Gegner. Der Gegner will Gewalt anwenden, ob unter dem Schein des Christentums, dem Schein des Liberalismus, des Rassismus, der Demokratie, ja sogar des Pazifismus, oder der Gerechtigkeit. Der nächste Anschlag eines Ökoterroristen kann meine Frau genauso treffen wie ein verhungernder Wirtschaftsflüchtling, der sie beim Mundraub nebenbei erschiesst.
Nicht die Meinung ist zu bekämpfen, auch nicht von Neonazis, sondern ihr Auswuchs, und das sage ich nicht, weil Neonazis ungefährlich wären, sondern weil wir sonst die Gefahren vieler anderer unterschätzen. Ein losgelassener libertinischer Mob oder ein wohlmeinender fanatisch-religiöser Staat können ebenso das Individuum (und gewisse Gruppen) durch Gewalt unterdrücken und schädigen wie jede andere geistige Strömung.
Wenn Du persönlich von Neonazis besonders betroffen bist, legitimiert Dich das zum Kampf gegen sie. Niemand ist aber nirgends legitimiert, Meinungsäusserungen zu gegebener Zeit an gegebenem Ort (was genau festzulegen ist) zu unterbinden.
Vielleicht liegt hier das Problem letztlich begraben. Wenn einer seine Frage offen an die Autorität stellt, welche ihm Grenzen setzt, oder wenn er es akademisch tut, oder auch wenn er sie unter Gleichberechtigten diskutiert, ist das nicht dasselbe, wie wenn er sie als Argument für den Griff zu den Waffen verwendet oder seinerseits zur Unterdrückung von Meinungen benutzt.
Es besteht letztlich die Gefahr des Eigentors, denn wenn es Dir passieren sollte, dass Du (auch nur im Kleinsten) mit der fremden Meinung auch ein Quentchen Wahrheit unterdrückst, schaffst Du noch Märtyrer gegen Deine eigenen Interessen und gerätst in eine tragische Rolle. Willst Du das?
Die Inquisition stand jeweils vor der Frage, wann und wo ein Ketzer oder eine Ketzerin ihre Fragen legitim anbringen konnte und wo sie willentlich und wissentlich vom Glauben abfiel. Wer nicht einmal das berücksichtigt, fällt hinter die Inquisition zurück.
Es gab zur Inquisitionszeit wenigstens das Forum internum vor dem Beichtvater, wo allen Fragen ein Raum im Grundsatz offenstand. Wer von einer Frage gedrückt wurde, hatte sodann die Möglichkeit, sich über diese Frage zu bilden und sie wenigstens unter Gebildeten zu bereden. Schliesslich waren bei allen Delikten nicht nur Meinungen, sondern Handlungen unterdrückt. Wollen wir das wirklich aufgeben?
Gruss
Mike