Provokationen im KL Auschwitz

Hallo,

vergangene Woche habe ich das KL Auschwitz besucht, was ich nebenbei bemerkt empfehlen kann. Das KL ist in der Nähe von Krakau, sodaß man dies sehr gut miteinander verbinden kann. Krakau ist eine tolle Stadt !!!
Natürlich sollte man sich vor einem Besuch des KL`s im Vorfeld über das Thema Auschwitz/Holocaust informieren, dies aber nur am Rande.

Vorausschickend möchte ich eines deutlich sagen, selbstverständlich bin ich kein Holocaustleugner oder Nazi, auch habe ich keinen Vorbehalte gegen irgendwen aufgrund seiner Herkunft, Religion, Hautfarbe, sexuellen Vorlieben oder sonstiges !
Wie oben erwähnt, habe ich mich, nicht nur aufgrund dieser KL Besichtigung, mit dem Thema Holocaust, 3. Reich, oder auch mit der Entstehung Israels beschäftigt.
Ich schreibe dies so ausdrücklich, um dummen Antworten „Du bist ein Nazi“ oder
„wie kannst Du nur über die Israelis (Juden) urteilen“, aus dem Wege zu gehen.
Dies können wir uns „schenken“, dann bin ich hier im falschen Forum.

Nun zu meiner eigentlichen Frage:
In dem KL waren verschiedene Gruppen verschiedener Nationalitäten.
Es wurde in Gruppen in der jeweiligen Landessprache Führungen durchgeführt.
Die Stimmung die über dem Lager liegt möchte ich hier weniger beschreiben. Lediglich das es sich um eine Gedenkstätte handelt und eher jeder für sich selbst still seinen Gedanken nachgeht.
Das ist auch gut so, denn dieser Ort Bedarf der Ruhe, der Demut und der Trauer.
Schuldbewusstsein ist hier meiner Meinung nach fehl am Platze, aber auch das sollte jeder für sich selber wissen….

Nun waren dort auch israelische Besucher.
Wie oben beschrieben, sind alle Gruppen langsam und ruhig über das Gelände gegangen.
Bis auf die Israelis; diese waren erstens sehr laut und zweitens hatten sich viele von Ihnen in Ihre Landesfahnen gehüllt oder schwenkten diese durch die Luft.

Ich war sicher nicht der einzige, der sich hierdurch nicht nur gestört, sondern auch provoziert gefühlt hat.
Warum wird dies von den Israelis ( ich spreche absichtlich nicht von den Juden ) gemacht?
Sie werden die Wirkung dieser Aktionen auf die anderen Anwesenden wissen.
Wie würden sie sich fühlen, würde ich dort mit einer deutschen Fahne durch das Lager laufen.
Um auch hier einfachen Antworten zuvor zu kommen.
Das Deutschland in dem ich aufgewachsen bin, ist nicht Nazideutschland, unsere Fahne hat kein Hakenkreuz.
Oder wie fänden sie es, wenn dort eine Palästinafahne geschwenkt wurde.
In Auschwitz wurden ca. 450.000 ungarische Juden ermordet, eine ungarische Fahne habe ich dort nicht gesehen.

Ich denke, das ihnen die Provokation nicht nur bewusst, sondern diese auch so gewollt war.
Und nun frage ich halt warum ?

Die Frage ist vermutlich nicht direkt zu beantworten, aber vielleicht schreibt der eine oder andere hierzu seine Meinung und ich bekomme doch eine Erklärung dafür?

Hallo!

Ohne zu wissen, um was für eine Gruppe es sich handelt, ist schwer zu sagen, was die Motivation war. Wenn sich die Nachfahren der Holocaust-Opfer mit Auschwitz beschäftigen, verbinden sie damit natürlich auch andere Gefühle, als wenn es die Nachfahren der Holocaust-Täter tun.

Während ein Deutscher (je nach Gesinnung) dabei vielleicht Demut, Scham, Verdrängung, … empfindet, könnte ich mir vorstellen, dass ein Israeli vielleicht eher Trauer, Wut, Trotz, usw. fühlt.

Ob das eine Erklärung für Deine Beobachtung ist, weiß ich nicht. Ich empfände sie auch provokativ.

Ich sah auf den Gleisen von Birkenau einen Deutschen Jugendlichen mit einem weißen Kapuzenpulli, auf dem in großer, schwarzer Schrift das Wort „Deutschland“ auf der Brust stand. Das fand ich ziemlich provokativ.

Michael

Moin,

Bis auf die Israelis; diese waren erstens sehr laut und
zweitens hatten sich viele von Ihnen in Ihre Landesfahnen
gehüllt oder schwenkten diese durch die Luft.

Ich war sicher nicht der einzige, der sich hierdurch nicht nur
gestört, sondern auch provoziert gefühlt hat.
Warum wird dies von den Israelis ( ich spreche absichtlich
nicht von den Juden ) gemacht?
Sie werden die Wirkung dieser Aktionen auf die anderen
Anwesenden wissen.

Ich denke nicht, dass sie sich der Wirkung dieser Aktionen auf andere Anwesenden bewusst sind oder dass es sie überhaupt kümmert.

Hier zwei meiner Meinung nach sehr interessante Artikel zum Thema Umgang mit dem Holocaust:

http://www.bpb.de/geschichte/nationalsozialismus/dos…

www.dradio.de/download/47161/

Zitat aus dem letzteren: „Bei den Gedenkfeiern, die ich aus der Diaspora kannte, stand die Trauer um die Toten im Mittelpunkt. Das Totengebet wurde gesprochen, ein Rabbiner fand ein paar tröstende Worte. Der Tod dieser Menschen, wahllos und unbegreiflich, ließ nur Leere zurück. In Israel war der Gedenktag jeder religiösen Bedeutung entblößt und zu einem sinnspendenden nationalen Ritual stilisiert. Die Armee behandelte die Opfer wie tote Kameraden. Die Nation ehrte ihre Kämpfer. Hier standen nicht die Opfer, Zivilisten, im Vordergrund, sondern der Staat, der seinen Sinn und seine Aufgaben aus dem Holocaust herleitete.“

Wie würden sie sich fühlen, würde ich dort mit einer deutschen
Fahne durch das Lager laufen.

Warum solltest du das tun? Die Motivation der Israelis kann ich zumindest nachvollziehen.

In Auschwitz wurden ca. 450.000 ungarische Juden ermordet,
eine ungarische Fahne habe ich dort nicht gesehen.

Das dürfte ein Problem auf allen Seiten sein, dass nämlich die Opfer des Holocaust weniger als Bürger ihres Landes, nämlich als Deutsche, Polen, Ungarn usw. gesehen werden, sondern in erster Linie als Juden, gerade so, als wäre das für die Menschen damals etwas völlig unvereinbares gewesen und man erstaunt ist, dass hier zum Teil Menschen umgebracht wurden, die während des erste Weltkriegs noch für Deutschland gekämpft hatten.

Rein gefühlsmäßig sind mir persönlich übrigens die Fahnen schwingenden jungen Israelis näher als die betroffen trauernden. Trauer und Betroffenheit sind zwar verständlich, haben aber noch niemandem das Leben gerettet. Ein „Dies soll nie wieder geschehen und wir werden uns mit allen Mitteln dagegen wehren, dass es wieder geschieht“ finde ich wesentlich zukunftsgewandter, auch wenn ich militärische Mittel dabei grundsätzlich ablehne.

Gruß
M.

Hallo,

ich kann mich der Meinung meinen beider Vorredner anschließen.

MMn. muss man BEIDE Prespektiven begreifen und dann ist das Fahnen schwenken nicht mehr so befremdlich (zumindest für mich).

Ich war noch nie in KL Auschwitz, aber schon im Dachau. Also ich weiß was du meinst wenn du von der „gedrückten Stimmung“ redest. Das war in Dachau auch allgegenwärtig.

Wenn ich dort jemand mit einer Flagge gesehen hätte, alle voran die israelitische, hätte ich mich nicht empört, glaube ich. Vllt. fände ich nicht gerade eine tolle Idee, sie dort zu schwingen, aber das wars auch. Ich würde es so sehen, wie folgt:

Alle Juden sollten vernichtet werden. All seine Gebetshäuser, dem Boden gleich gemacht. Judentum sollte etwas antikes, verrotetes und vor allem inexistentes sein. Und man hätte an die Juden so denken, als an eine minderwertige Gesellschaftsgruppe, die eben nicht mehr gibt. So der Gedankengut der Nazis. Also es hat, so meiner Meinung nach, etwas von Trotz, Ehrfurcht (den eigenen Vorfahren/Angehörigen gegenüber), Genugtuung, Stolz, Tapferkeit und Lebensmut sich in so einem ausdrucksstarken Symbol dieser Vernichtungswut die Fahne all diejenigen zu schwingen, die jetzt nicht mehr geben sollten.

Ich sähe das als ein Wort der Dankbarkeit der Toten gegenüber, dass sie diese Gedankengut und die daraus resultierende Taten bis auf den Tod bekämpft haben und so die Möglichkeit geschaffen haben, dass Judentum und Synagogen heute weit verbreitet sind.

Und vllt. empfände ich das auch als eine Art der Trotz zu zeigen, dass sie dann, fast mittellos wie sie auch waren (zumindest im rechtlichen Sinne) den Kampf gewonnen haben: Juden gibt es. Israel gibt es. Judentum ist weltweit bekannt und akzeptiert. Dagegen sind Nazis, bis auf ein paar Hunderte auf der ganzen Welt, inexistent. Und nicht nur das, sondern die Welt weiß von den Gräueltaten der Nazis und was denen, den Juden, angetan würde.

Das alles wäre für mich ein Grund ebenfalls eine israelitische Fahne in einem KL zu schwingen. In Anbetracht der Gefühlen anderen Besuchern(und der aktuelle Politik dieses Landes), würde ich das nicht tun. Denn nicht alle Ermordeten waren Juden: das gleiche war gedacht für (geistig) Kranken, Homosexuellen, Andersdenkenden, in Ungnade Gefallenen, Zintis, behinderte Menschen, Kommunisten,… und unter denen gab es auf jeden Fall auch viele Polen, Russen, Franzosen, Österreicher, einigen Spaniern aber auch Deutsche.

Das ist meine Meinung dazu.

Schöne Grüße,
Helena

Hallo,

ich war mal in Bergen-Belsen und in meinem Heimatort gibt es ein Schloss, das zeitweise als KZ bzw. Frauengefängnis benutzt wurde. Dieses habe ich sehr oft besucht und immer wieder diese drückende, ehrfürchtige Stimmung wahrgenommen. Von daher hätte ich so einen Aufmarsch auch als sehr unpassend empfunden. Aber ich denke erstens, dass sie einfach sagen wollten: „Ihr habt uns nicht klein gekriegt und jetzt sind wir die Sieger!“ und zweitens ist es vielleicht auch eine Frage der Mentalität. Während Europäer und wohl die meisten anderen Kulturen still und bedrückt sind angesichts von Elend, Tod, Trauer und Gewalt, tun andere Kulturen ihren Schmerz darüber anders kund. Das sieht man ja auch bei den völlig andersartigen Beerdigungsritualen, wo statt in schwarz gekleidet und still vor sich hinweinend alle bunt angezogen sind, singen und lachen. Ist vielleicht ein nicht ganz passender Vergleich, könnte aber ein ähnlicher Hintergrund sein.

Was mich noch interessieren würde: Wie hat denn das Personal auf diesen Auftritt reagiert? Und hat diese Gruppe offensichtlicht provoziert, indem sie dicht an den anderen Gruppen vorbei gelaufen sind oder sie angesprochen haben o. ä.? Oder waren sie nur mit sich selbst beschäftigt?

Gruß

Hallo,

Nun waren dort auch israelische Besucher.
Wie oben beschrieben, sind alle Gruppen langsam und ruhig über
das Gelände gegangen.
Bis auf die Israelis; diese waren erstens sehr laut und
zweitens hatten sich viele von Ihnen in Ihre Landesfahnen
gehüllt oder schwenkten diese durch die Luft.

Ich war sicher nicht der einzige, der sich hierdurch nicht nur
gestört, sondern auch provoziert gefühlt hat.

Anscheinend hat hier der begleitende Lehrer versagt, oder waren die schon erwachsen?

Wenn der Auftritt wirklich so unangemessen war, wie du ihn hier beschreibst, hätte eigentlich auch das Personal einschreiten müssen. Warum sollten sich Israelis in Auschwitz daneben benehmen dürfen?

Es wäre eine andere Sache, wenn es sich um Holocaust-Überlebende handeln würde. Die besuchen schon auch mal Auschwitz demonstrativ in Häftlingsuniform und mit Judenstern. Und die dürfen das. Aber junge Israelis? Mit welchem Recht?

Schöne Grüße

Petra

Hallo,

ich kann mich eigentlich dem größten Teil der Meinungen meiner
Vorredner anschliessen.

Ich sehe aber diese Lager als das was sie jetzt sind:
Mahn-und Gedenkstätten!

Der Sinn bei einem Besuch liegt m.M nach(wie schon die Bezeichnung es sagt)in dem mahnenden Gedenken aller Opfer.Dies sollte mit dem nötigen
Respekt der Opfer aller Nationen geschehen.

Wer sich mit dem weiteren Werdegang der Juden zum Ende des 2.Weltkrieges befasst wird feststellen,das selbst von den Ländern mit
den größten Opfern des Holocaust eine eher antisemitische Haltung
eingenommen wurde und eine Rückkehr in die Heimat unerwünscht war.

Juden,die trotzdem 1945 den Weg in ihre alten Heimatländer wagten,waren teilweise grossen Repressalien ausgesetzt und haben es nicht selten mit dem Leben bezahlt.

Ich bin in einer Generation aufgewachsen,die den Krieg nur vom Hörensagen kennt,bin mir der Schuld der Deutschen in diesem Krieg
voll bewusst und stehe auch dazu.

Meinen Kindern und Enkelkindern werde ich,aber immer über das grosse
Unrecht an den Juden vermitteln(und nicht nur in dieser Zeit)ohne das sie sich schuldig fühlen müssen.

In ein paar Jahren wird es keine Überlebenden der Kz´s mehr geben
und es wird dann dieser Generation der Deutschen wahrscheinlich
immer schwerer fallen,sich mit den Geschehnissen und der Verantwortung zu identifizieren.Dann wird man wahrscheinlich
solche Aktionen eher wie heute,als eine Provokation empfinden.

Zu diesem Thema sind viele Bücher geschrieben und Diskusionen
geführt worden.Jeder Deutsche sollte sich m.M. über die Fakten
informieren und sich ein Bild machen.

Nur so wird man sich über das Unrecht an den Opfern des Krieges erinnern und dazu gehörten(neben den Juden)zum grössten Teil das russischen Volk,Sinti und Roma und nicht zu vergessen die viele zivillen Opfer aller Völker.

Dazu zähle ich auch die der Deutschen und das Unrecht welches
an ihnen verübt wurde.

LG Bollfried

Hallo und Danke für die Antworten,

um das Bild dieser Gruppe noch mal zu verdeutlichen.
Ich denke es waren junge Israelis zuwischen 18-25 J, also eher keine Schulklassen.
Sie haben natürlich keine anderen Gruppen direkt provoziert, indem sie z. B. bei der deutschen Gruppe besonders laut gewesen wären. Nein, sie sind halt mit „viel „Tam-Tam“ über das Gelände marschiert und haben Ihre Fahne entsprechend gezeigt.
Das Personal hat hierauf gar nicht reagiert und auch unsere Dolmetscherin kannte dieses Verhalten offensichtlich.
D. h. dies ist kein Einzelfall gewesen, sondern ist offensichtlich „Tagesordnung“.

Vermutlich haben die meisten von Euch Recht und es soll durch dieses Verhalten der Stolz über den Sieg der Nazis & des Überlebens des Holocausts gedacht werden. Es mag auch wie beschrieben eine Mentalitätsfrage sein, wie man mit diesem Gedenken umgeht.

Aber ich glaube schon, dass sie sich hierbei etwas „gedacht“ haben, sie haben die Fahnen ja nun extra hierfür mitgebracht und dieses Verhalten war offensichtlich kein Einzelfall.
Und noch mal, es waren relativ junge Israelis, d. h. es muß ihnen jemand gesagt haben: „nehmt Fahnen mit & macht Tam-Tam“.

An einer Stelle des Stammlagers war z. B. ein Jude, der lautstark gebetet und der Toten gedacht hat. Dies scheint bei den Juden offensichtlich mit „vollem Körpereinsatz“ und sehr lautstark zu geschehen. Als wir dort vorbei kamen, habe ich mich hierüber ( und nicht nur ich) sehr erschrocken, es kam halt sehr unerwartet! Aber ich habe mich in keinster Weise provoziert gefühlt! Er hat für die Opfer gebetet und nicht für Außenstehende.
Bei den Jugendlichen hatte ich halt das Gefühl, das Getöse ist eher für die Umherstehenden!

Ich kann es nur aus meiner Perspektive schildern; ich habe mich provoziert gefühlt und dieses Verhalten an diesem Ort als unpassend empfunden.

Guten Morgen,

dann ist es wahrscheinlich entweder eine Art Trend unter ihnen oder der übliche Umgang mit diesem Thema. Beides ist jedoch irgendwie anstands- und respektlos, finde ich.

Gruß

1 Like

Hallo zusammen,

ich möchte an dieser Stelle noch auf einen Umstand hinweisen, der meiner Meinung nach die Situation etwas (er)klären mag.

Vielfach kam bei Überlebenden des Holocausts die Frage auf (auch gestellt von den nachgeborenen Generationen), warum es trotz des Horrors der systematischen Vernichtung der Juden im Europa der 30er und 40er Jahre keinen (bzw. kaum) bewaffneten Widerstand gegen die Nazis und deren Helfer gegeben hat. Daraus entstand schließlich in der Nachkriegszeit und mit der Gründung des Staates Israel das Ziel, nie wieder passiv und wehrlos einem Aggressor gegenüber zu stehen. Somit (aber nicht nur deswegen) ist der Holocaust bzw. die Shoah fester Bestandteil der (Gründungs-)Geschichte des Staates Israel und u.a. deswegen nicht vergleichbar mit anderen Opfergruppen der Nazis.

Wie auch ein „Scheitern“ (Ganz bewusst in Anführungsstrichen!) Teil einer nationalen Identitätenbildung sein kann zeigt der Vergleich mit den Serben und dem Amselfeld. (Mir ist bewusst, dass der Vergleich nur bedingt historisch zulässig ist, aber es geht m.M. in die selbe Richtung.)

Darüber hinaus muss man hier auch psychologisch argumentieren:

Die Juden - ob nun Überlebende oder nicht - können verständlicherweise über das Geschehene (nur) trauern, lösen sich damit aber nicht von ihrem passiven Opferstatus.

Ein offensiverer, lauterer und fahnenschwenkender Umgang mit der Geschichte formuliert hingegen die Botschaft: „Seht her, obwohl ihr versucht habt uns alle auzulöschen sind wir noch immer da; laut, ausgelassen und lebendig. Keiner wird uns das je wieder antun! Ihr seid verschwunden, wir aber sind noch da!“

Ich denke, das Verhalten ist somit sowohl ein patriotischer Akt als auch eine Strategie, um sich aus der passiven, hilflosen Opferrolle zu lösen.

Grüße!
TAndrija

Hallo,

Tandrija hat den meiner Ansicht nach wichtigsten Punkt hervorragend dargelegt. „Hier sollten wir vernichtet werden, aber wir sind noch da und haben jetzt sogar einen Staat!“

Und als Ergänzung mag gesagt sein, dass Israelis (natürlich nicht immer, nicht überall und nicht alle) es gerne laut und kontrovers haben. Mein Großvater kannte noch die Redensart: Hier geht es zu wie in der Judenschul’ (=Synagoge). Und im israelischen Kabinett sagen Minister ungeniert Dinge über ihren Premierminister, für die Frau Merkel den Betreffenden hochkant aus dem Ministerium befördern würde, vom Parteiausschluss gar nicht zu reden. Laut, kontrovers, offensiv, aber nicht böse gemeint, sind Eigenschaften, die man in israelischen Kreisen oft antrifft. Ich denke, Helmfried hätte die israelische Gruppe problemlos ansprechen können, sie hätte gerne mit ihm diskutiert.

Gruß
Hardey

Hallo Helmfried,

vergangene Woche habe ich das KL Auschwitz besucht, was ich
nebenbei bemerkt empfehlen kann.

Vermutlich hast Du eine Gruppe, die am „March of the Living“ teilgenommen hat, erlebt. Das wird jedes Jahr organisiert:
http://www.juedische-allgemeine.de/article/view/id/2778

Das KL ist in der Nähe von
Krakau, sodaß man dies sehr gut miteinander verbinden kann.
Krakau ist eine tolle Stadt !!!

Und wenn Krakau eine nicht so tolle Stadt wäre, dann könnte man den KZ-Besuch ausfallen lassen, denn dann würde man durch die tolle Stadt nicht so stark für den KZ-Horror entschädigt wie wenn das KZ irgendwo in der Pampas liegt?

Hast Du zwar nicht gesagt, könnte man aber so in Deine Ausführungen reinlesen. Und ich finde Du liest ganz schön viel in das hinein, was Du an der anderen Gruppe wahrgenommen hast.

Ich könnte auch gleich noch weiter machen: Für Konzentrationslager ist KZ die gängige Abkürzung. Bedeutet nun die von Dir verwendete Abkürzung, daß Du die Lager verharmlosen willst?
Ganz schön spekulativ, aber ich denke, Du verstehst worauf ich hinaus will.

Natürlich sollte man sich vor einem Besuch des KL`s im Vorfeld
über das Thema Auschwitz/Holocaust informieren, dies aber nur
am Rande.

Und Du meinst das haben die „Israelis“ nicht gemacht, weil sie der von Dir erwarteten Form des Gedenkrituals nicht nachkommen? Wer in Israel lebt, kommt gar nicht um diese Auseinandersetzung herum.

Dabei braucht man beileibe nicht alles gut finden, was und wie es gemacht wird. Ich persönlich mag diese Form der organisierten und inszenierten Gedenkrituale wie den „March of the Living“ nicht. Aber ich muss daran auch nicht teilnehmen.
Abgesehen davon leben die Mehrzahl der israelischen Jugendlichen in Familien, deren Vorfahren in KZs umgebracht wurden.

Im Mai 2011 lebten in Israel noch 208 000 Holocaust-Überlebende. Auch wenn man in Rechnung stellt, daß aus Altersgründen eine gewisse Zahl in den letzten 12 Monaten gestorben ist, so dürfte die Zahl immer noch 6stellig sein - und das bei einem jüdischen Bevölkerungsanteil von etwa 4 810 000

Vorausschickend möchte ich eines deutlich sagen,
selbstverständlich bin ich kein Holocaustleugner oder Nazi,
auch habe ich keinen Vorbehalte gegen irgendwen aufgrund
seiner Herkunft, Religion, Hautfarbe, sexuellen Vorlieben oder
sonstiges !
Wie oben erwähnt, habe ich mich, nicht nur aufgrund dieser KL
Besichtigung, mit dem Thema Holocaust, 3. Reich, oder auch mit
der Entstehung Israels beschäftigt.
Ich schreibe dies so ausdrücklich, um dummen Antworten „Du
bist ein Nazi“ oder
„wie kannst Du nur über die Israelis (Juden) urteilen“, aus
dem Wege zu gehen.
Dies können wir uns „schenken“, dann bin ich hier im falschen
Forum.

Nun zu meiner eigentlichen Frage:
In dem KL waren verschiedene Gruppen verschiedener
Nationalitäten.
Es wurde in Gruppen in der jeweiligen Landessprache Führungen
durchgeführt.

Die Stimmung die über dem Lager liegt möchte ich hier weniger
beschreiben. Lediglich das es sich um eine Gedenkstätte
handelt und eher jeder für sich selbst still seinen Gedanken
nachgeht.

Dann empfehle ich Dir einen Besuch des Holocaust-Denkmals in Berlin:
Stelenhopping und Picknick auf den Stelen gehören in der warmen Jahreszeit zum Standardprogramm. Von Stelen-Anpinkeln und weiteren Unsäglichkeiten reden wir jetzt lieber nicht.

Das ist auch gut so, denn dieser Ort Bedarf der Ruhe, der
Demut und der Trauer.

Die Perspektive der israelischen Jugendlichen ist da vermutlich eine andere als Deine. Da 3 Millionen der ermordeten Juden aus Polen waren, dürfte für eine beträchtliche Zahl der Teilnehmenden diese Fahrt die erste Begegnung mit dem Land, in dem ihre familiären Wurzeln sind, sein. Und von ihren Großeltern bzw. in der Schule haben sie sicherlich einiges über die Geschichte des Landes gehört.

Schuldbewusstsein ist hier meiner Meinung nach fehl am Platze,

für Israelis sowieso - und abgesehen davon meiner Meinung nach auch für junge nicht-jüdische Deutsche

aber auch das sollte jeder für sich selber wissen….

Nun waren dort auch israelische Besucher.
Wie oben beschrieben, sind alle Gruppen langsam und ruhig über
das Gelände gegangen.

Ich vermute mal, daß die Besuchergruppen, die außer den Israelis da waren, aus Deutschland oder anderen von den Nazis besetzten Ländern kamen, in denen es ja auch eine große Zahl an Kolaborateuren gab. Sonst hätte dieser Massenmord nicht so perfekt industrialisiert ablaufen können.

Bis auf die Israelis; diese waren erstens sehr laut und
zweitens hatten sich viele von Ihnen in Ihre Landesfahnen
gehüllt oder schwenkten diese durch die Luft.

Nun - Israelis sind von ihrer Mentalität her lauter als Mitteleuropäer. Und Israelis ist sehr wohl bewußt, daß viele ermordet wurden, weil kein Land sie aufnahm. Deshalb hat der Staat Israel für sie und Juden überhaupt eine herausgehobene Bedeutung - und deshalb gehen Israelis auch drei Jahre zum Militär.

Ich war sicher nicht der einzige, der sich hierdurch nicht nur
gestört, sondern auch provoziert gefühlt hat.

Das mag sein. Aber was genau provoziert Dich, wenn die Enkelgeneration der Überlebenden sehr deutlich wahrnehmbar für alle zeigt, daß sie am Leben sind und den Staat, der ihnen das ermöglicht, schätzen. Es ist ähnlich wie bei einem Fußballspiel: Die Gewinner ziehen Fahnen schwenkend durch das Stadion und durch die Stadt - und jeder versteht was gemeint ist: Wir leben, weil unsere Großeltern überlebt haben und nicht ermordet worden sind.

Und gleichzeitig weiß man auch, wie viele nicht überlebt haben. Hier ein Text, der vor ein paar Jahren an einem liberalen Rabbinerseminar in Israel entstanden ist und in vielen liberalen Synagogen in aller Welt zum Jom haSchoah (dem israelischen Holocaust-Gedenktag) gelesen wird. Ich habe ihn ins Deutsche übersetzt:

_"Um sie alle weine ich, und um die Millionen, die in Ghettos zusammengepfercht wurden und in Vernichtungslagern; um die, die in Wäldern umherirrten und die auf Dachböden oder in Erdbunkern versteckt waren; die Zuflucht fanden im Schoß einer anderen Religion oder ihren G-tt verloren haben; um die, die für medizinische Experimente den Händen wilder Bestien, die sich Ärzte oder Wissenschaftler nannten, ausgeliefert waren; um die, die vor Hunger und Durst umkamen; die erstickten in Güterzügen oder in Gaskammern, lebendig begraben oder eingeäschert; um die, die hinaus gebracht wurden um vor aller Augen aufgehängt zu werden, und für die, die starben zur Heiligung Seines Namens und dem Namen des Volkes Israel, die sich weigerten sich zu unterwerfen und bis zum Tode kämpften; um die, die ihre Wohnungen, ihre Würde und ihre Hoffnung verloren; und für die, die am Leben gelassen, den Schrecken von neuem erleben; Tag für Tag und Augenblick für Augenblick.

Um sie alle weine ich: Um Kinder, die niemals lernten „Mama“ zu sagen, um die Jungen und Mädchen, denen die Jugend gestohlen wurde, die verdorrten bevor sie erblühen konnten; um junge Männer und Frauen, die niemals unter die Chuppah treten konnten; um die Alten, denen ein erfülltes Alter verweigert wurde, um die Orchester und die Musik, und um all die Schönheit der Welt, deren Regenbogenfarben verloren gingen, und durch braun, grau und schwarz ausgetauscht wurden. Um sie alle weine ich.

Ich rang so hart vor dem undurchdringlichen Vorhang, vor dem erbarmenden und gnädigen Einen, von großer Güte und Wahrheit. Wie flehte und bettelte ich um zu verstehen. War all das dort oben bekannt? War das der Beschluß des Einen voller Erbarmen? Das war die Belohnung eines solchen Volkes? Aber kein Laut und keine Antwort war, nur eine Stille, die einen zur Verzweiflung bringt.

Der Höchste blieb verborgen, G-tt wohnt im Schatten des Schweigens. Unergründlich, verborgen, furchteinflößend sind die Ereignisse; niemand versteht sie und auch nicht der Widerhall der Stimmend vom Himmel.

Megillat haSchoah, hrsg. Vom Schechter Institut, Jerusalem 2003; aus Kap 5, Verse 9-22,_

Warum wird dies von den Israelis ( ich spreche absichtlich
nicht von den Juden ) gemacht?

Du kannst ruhig von Juden sprechen. Es sind auch Juden aus anderen Ländern dabei, und es sind nur selten Israelis dabei, die nicht jüdisch sind.

Sie werden die Wirkung dieser Aktionen auf die anderen
Anwesenden wissen.

Das wird ihnen vergleichsweise egal sein.

Wie würden sie sich fühlen, würde ich dort mit einer deutschen
Fahne durch das Lager laufe.

Wenn zwei das Gleiche tun, dann ist es nicht das Gleiche - was hoffentlich aus meinen restlichen Ausführungen deutlich wurde.

Um auch hier einfachen Antworten zuvor zu kommen.
Das Deutschland in dem ich aufgewachsen bin, ist nicht
Nazideutschland, unsere Fahne hat kein Hakenkreuz.
Oder wie fänden sie es, wenn dort eine Palästinafahne
geschwenkt wurde.

Ich kann den Bezug nicht sehen - auch wenn in bestimmten Kreisen immer wieder gern unterstellt wird, daß das, was die „Juden mit den Palästinensern machen genauso ist, wie das, was die Nazis mit den Juden gemacht haben“. Da würden wir ein ganz neues Fass aufmachen und müßten über Entlastungsstrategien reden.

In Auschwitz wurden ca. 450.000 ungarische Juden ermordet,
eine ungarische Fahne habe ich dort nicht gesehen.

Der Großteil der ungarischen Juden war liberal und ziemlich assimiliert - ähnlich wie die Juden in Deutschland. Genutzt hat es ihnen nichts. Der Deportation sind sie deswegen nicht entgangen. Und die Deportationen haben doch deswegen funktioniert, weil Juden eben ausgegrenzt wurden und nicht mehr dazu gehörten. Eine ungarische Fahne würde Zugehörigkeit symbolisieren, die es nicht (mehr) gab.

Ich denke, das ihnen die Provokation nicht nur bewusst,
sondern diese auch so gewollt war.

Ich denke nicht, daß es als Provokation gedacht ist, sondern daß es aufgrund ihres anderen Zugangs eben eine andere Form des Umgangs ist.

Übrigens hat vor einiger Zeit ein Überlebender mit seinen Angehörigen Auschwitz besucht. Er hat dort getanzt und seine Tochter hat das gefilmt und ins Internet gestellt. Das ist auch in der jüdischen Presse weltweit diskutiert worden.

Und nun frage ich halt warum ?

Die Frage ist vermutlich nicht direkt zu beantworten, aber
vielleicht schreibt der eine oder andere hierzu seine Meinung
und ich bekomme doch eine Erklärung dafür?

Und - hat`s geklappt?

Viele Grüße

Iris

Hallo Hardey,

Genau das:

Tandrija hat den meiner Ansicht nach wichtigsten Punkt
hervorragend dargelegt. „Hier sollten wir vernichtet werden,
aber wir sind noch da und haben jetzt sogar einen Staat!“

habe ich mit meinem Antwort auch gesagt. Ich zitiere mich selbst:

„Und vllt. empfände ich das auch als eine Art der Trotz zu zeigen, dass sie dann, fast mittellos wie sie auch waren (zumindest im rechtlichen Sinne) den Kampf gewonnen haben: Juden gibt es. Israel gibt es. Judentum ist weltweit bekannt und akzeptiert. Dagegen sind Nazis, bis auf ein paar Hunderte auf der ganzen Welt, inexistent. Und nicht nur das, sondern die Welt weiß von den Gräueltaten der Nazis und was denen, den Juden, angetan würde.“

Ich denke, Helmfried
hätte die israelische Gruppe problemlos ansprechen können, sie
hätte gerne mit ihm diskutiert.

Da sind wir uns absolut einig.
Einer der interessantesten Gesprächen, die ich in den letzten Jahren überhaupt geführt habe, war mit einer israeli, die in Weißrussland geboren und aufgewachsen ist. Ihre Familie ist von der Shoa nach Israel geflohen, als sie selbst ein Kind war. Da muste sie erst mühevoll jiddish lernen. Und nun ist sie selbst Prof. an eine israelitische Uni, und zwar für die Geschichte der Entstehung ihrer neuen Heimat. Es war so interessant und lehrreich!!!

Schöne Grüße,
Helena

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Ich könnte auch gleich noch weiter machen: Für
Konzentrationslager ist KZ die gängige Abkürzung. Bedeutet nun
die von Dir verwendete Abkürzung, daß Du die Lager
verharmlosen willst?

>>. Die Abkürzung KL ist schon länger üblich. Die Lager sollen ein Mahnmal sein, damit sich sowas nie mehr wiederholt.

Hallo,

Das mag sein. Aber was genau provoziert Dich, wenn die
Enkelgeneration der Überlebenden sehr deutlich wahrnehmbar für
alle zeigt, daß sie am Leben sind und den Staat, der ihnen das
ermöglicht, schätzen.

Da besteht offensichtlich ein Konflikt in den Vorstellungen und dem Bedürfnis die eigene Betroffenheit zum Ausdruck zu bringen.
Ich kann es durchaus nachvollziehen, dass es provozierend wirkt, wenn Leute in lauter Feierlaune auftreten, wo andere sich in stiller Trauer versenken wollen.

Es ist ähnlich wie bei einem
Fußballspiel: Die Gewinner ziehen Fahnen schwenkend durch das
Stadion und durch die Stadt - und jeder versteht was gemeint
ist: Wir leben, weil unsere Großeltern überlebt haben und
nicht ermordet worden sind.

Den Vergleich kann ich kaum nachvollziehen. Wenn ich johlende Fußballfans sehe, dann verstehe ich da was ganz anderes.
Um das aber mal aufzunehemen.

Fußballspiel: Die Gewinner ziehen Fahnen schwenkend durch das
Stadion und durch die Stadt …

und dann auch noch über den Friedhof, wo gerade ein alter Star des Vereines beerdigt wird. Sie reihen sich singend und johlend und auf das Wohl des jüngst verstorbenen anstoßend in die Trauergemeinde ein …
Jeder versteht was gemeint ist …

Wie löstest du diesen (den im KZ) Konflikt (außer durch recht harsche Belehrungen)?

Gruß
Werner

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Hallo,

„Seht her, obwohl ihr versucht habt uns alle auzulöschen
sind wir noch immer da; laut, ausgelassen und lebendig.
Keiner wird uns das je wieder antun! Ihr seid verschwunden,
wir aber sind noch da!“

Psychologisch nachvollziehbar, genau wie m. E. das Empfinden einer Provokation des Fragestellers, denn dieses „Ihr“ ist ja gar nicht da, den Ruf hören hier Leute, die sich dann fragen „und warum sagst du mir das?“

Gruß
Werner

1 Like

Hallo Iris,
zunächst einmal herzlichen Dank für Deine Anmerkungen, die ich weitgehend nachvollziehen kann. Trotzdem denke ich, Du gehst mit Helmfried deutlich zu hart ins Gericht. Es ist ihm nicht so recht gelungen, den Finger nun genau auf das zu legen, was er da als ‚provokativ‘ empfand - sicherlich auch, weil ihm die Hintergrundinformation mit dem „March of the Living“ fehlte, die Du nun dankenswerterweise gegeben hast.

Auch, wenn ich persönlich mich nicht direkt provoziert gefühlt hätte - aber das Unbehagen von Helmfried kann ich nachempfinden. Zunächst - es gibt offensichtlich einen unterschiedlichen Umgang von Juden und Nichtjuden mit NS-Mahn- und Gedenkstätten - bei allen Vorbehalten gegen solche Pauschalisierungen. Unbestreitbar wurde bei der Opfergruppe der Juden die irrationale Barbarei des Nationalsozialismus am deutlichsten, vor allem natürlich durch die unfassbare Dimension der Opferzahlen. Dass dem rassistischen Vernichtungswahn auch Sinti und Roma zum Opfer fielen, sollte man dabei natürlich nicht vergessen. Auch nicht die Erb- und psychisch Kranken, die geistig Behinderten. Und man sollte auch die nicht vergessen, bei denen nicht rassistische Wahnvorstellungen das Motiv für Verfolgung und Mord waren: die Homosexuellen, die Kommunisten - oder einfach anständige Menschen, die nicht schweigend zusehen wollten.

Man kann hier durchaus die provozierende Frage stellen: Wem ‚gehört‘ Auschwitz? Natürlich in erster Linie den überlebenden Opfern - daran kann kein Zweifel bestehen. Wie sieht es nun mit den Opfergruppen aus? Dass ein junger Jude sich der Opfergruppe zurechnet, ist völlig legitim - aber ist es nicht auch legitim, wenn Sozialisten, Demokraten, Antifaschisten … sich der Opfergruppe zurechnen - anders gesagt: sich den Opfern des Nationalsozialismus als potentielle Mitopfer (und nicht nur deswegen) solidarisch verbunden fühlen?

Naürlich ist mir bewusst, dass es hier durchaus Anlass zu Differenzierung gibt. Bei einer Wiederkehr der faschistischen Gewaltherrschaft gäbe für die ‚politische‘ Opfergruppe (zumindest für viele von ihnen) wieder die Option, durch opportunistische Anpassung zu überleben - eine Option, die den aus Rassismus und ‚eugenischen‘ Gründen Verfolgten nie offen stand.

Trotzdem - ist es nicht nachvollziehbar, dass Nichtjuden Auschwitz nicht ausschließlich als Mahnmal gegen einen mörderischen Rassismus begreifen, sondern auch als Mahnmal gegen Diktatur, gegen Militarismus und nationalen Chauvinismus?

Den „Triumph des jüdischen Lebens über den Vernichtungswahn der Nazis“ (Zitat ‚Jüdische Allgemeine‘) zu feiern - ja, auch junge Juden (und btw auch Nichtjuden) haben unbestritten alles Recht dazu. Auch das Recht, in Auschwitz Freudentänze aufzuführen. Wenn ich allerdings lese:

Prinzipiell stellt das Programm einen engen Bezug zwischen der Schoa und der Gründung und Verteidigung Israels her. So wurde der diesjährige Marsch von Gabi Ashkenazi, dem Generalstabschef der israelischen Armee, angeführt.

  • dann löst das schon ein deutliches Unbehagen bei mir aus. Und ich denke, auch wenn dieser Hintergrund Helmfried nicht bekannt war, so liegt doch genau hier der Grund seines Unbehagens mit dem geschilderten Auftreten der Gruppe in Auschwitz. Es geht hier, so denke ich, gar nicht um stille Trauer und Gedenken einerseits versus lautstarkes Feiern des Überlebens jüdischer Kultur angesichts der angedrohten und in Gang gesetzten Ausrottung. Es geht vielmehr um Bezüge zur aktuellen Politik des Staates Israel.

Um noch etwas deutlicher zu werden - es geht um Instrumentalisierung. Der ‚March of the Living‘ ist eine politische Demonstration - und da wird nicht nur Auschwitz für die aktuelle Außen- und Innenpolitik Israels instrumentalisiert. Es ist sicher nicht nur verständlich sondern auch unvermeidlich, dass Auschwitz als nationales Trauma die Politik Israels mitbestimmt und motiviert. Aber - fahnenschwenkende Jugendliche, die einen wehrhaften Staat feiern, sind mir schon immer ein Greuel gewesen. Und wenn eine solche Demonstration auch noch vom höchsten Militär des so gefeierten Staates „angeführt“ wird und in Auschwitz stattfindet, dann regt sich bei mir schon leichter Brechreiz. Eine „Auseinandersetzung mit jüdischer Geschichte und Tradition“, wie die ‚Jüdische Allgemeine‘ schreibt, ist das in meinen Augen nicht mehr.

Wie schon angedeutet - für mich als Nichtjuden ist Auschwitz nicht nur ein Mahnmal gegen Rassismus, sondern auch gegen Chauvinismus und Militarismus. Und nicht zuletzt auch gegen die politische und ideologische Indoktrination - die ‚Verführung‘ - von Kindern und Jugendlichen, ihre Instrumentalisierung. Insofern ist für mich persönlich das erfreulichste an dem Bericht in der ‚Jüdischen Allgemeinen‘, dass aus Deutschland selbst nur 40 Jugendliche an dieser Aktion teilgenommen haben.

Wobei Auschwitz zweifellos mehr Besuche gerade von jungen Menschen zu wünschen ist. Nicht um eine Nation und ihre Wehrhaftigkeit zu feiern - sondern um sich selbst ein abgewogenes und begründetes Urteil zu bilden. Nicht zuletzt auch über ideologische und politische Verführbarkeit und wohin sie im Extremfall führen kann. Und da sind Ansätze wie etwa die Stiftung ‚Erinnern Ermöglichen‘ nach meinem Empfinden doch die sinnvolleren.

Freundliche Grüße,
Ralf

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Hallo Ralf,

zunächst einmal herzlichen Dank für Deine Anmerkungen, die ich
weitgehend nachvollziehen kann. Trotzdem denke ich, Du gehst
mit Helmfried deutlich zu hart ins Gericht.

Darum ging es mir nun überhaupt nicht - tut mir leid, wenn das so rüberkam.

Es ist ihm nicht
so recht gelungen, den Finger nun genau auf das zu legen, was
er da als ‚provokativ‘ empfand - sicherlich auch, weil ihm die
Hintergrundinformation mit dem „March of the Living“ fehlte,
die Du nun dankenswerterweise gegeben hast.

Genau deshalb habe ich nachgefragt, was genau ihn am Verhalten der Israelis gestört hat.

Auch, wenn ich persönlich mich nicht direkt provoziert gefühlt
hätte - aber das Unbehagen von Helmfried kann ich
nachempfinden.

Ja, ein gewisses Unbehagen kann ich nachvollziehen. Sich provoziert fühlen läuft bei mir allerdings auf einer anderen Ebene.
Ich habe durchaus auch ein gewisses Unbehagen im Hinblick auf das Konzept des „March of the Living“. Ich habe bei meinem Ursprungsbeitrag vergessen zu schreiben, daß die Jugendlichen vor sie nach Auschwitz kommen erst mal in Polen unterwegs sind. Dort sind sie permanent mit dem konfrontiert, was es nicht mehr gibt, weil es vernichtet worden ist. Da sind jüdische Friedhöfe, um die sich niemand mehr kümmert. Da sind ehemalige Synagogen, die nun eine Autowerkstatt oder ein Stall sind … Auschwitz ist sozusagen der Endpunkt und aus jüdischer Sicht der größte jüdische Friedhof ohne Grabsteine, auch wenn irgendwo mehr oder weniger mitläuft, daß es auch nicht-jüdische Opfer gab.

Zunächst - es gibt offensichtlich einen
unterschiedlichen Umgang von Juden und Nichtjuden mit NS-Mahn-
und Gedenkstätten - bei allen Vorbehalten gegen solche
Pauschalisierungen. Unbestreitbar wurde bei der Opfergruppe
der Juden die irrationale Barbarei des Nationalsozialismus am
deutlichsten, vor allem natürlich durch die unfassbare
Dimension der Opferzahlen. Dass dem rassistischen
Vernichtungswahn auch Sinti und Roma zum Opfer fielen, sollte
man dabei natürlich nicht vergessen.

Inwieweit das bei israelischen Jugendlichen präsent ist, kann ich nicht einschätzen. Bei mitteleuropäischen Juden ist das sicher präsent, schon allein aufgrund der Tatsache, daß es für überlebende Sinti und Roma und deren Kinder keine adäquaten Hilfsmöglichkeiten gab. Deshalb haben in den jüdischen Gemeinden in Deutschland, die Sozialabteilungen mit professionellen Sozialarbeiterinnen haben, auch oft überlebende Sinti und Roma Hilfe gesucht und bekommen. In den Second-Generation-Gruppen, die von jüdischer Seite organisiert wurden, waren immer auch Nachkommen von Sinti und Roma willkommen.

Auch nicht die Erb- und
psychisch Kranken, die geistig Behinderten. Und man sollte
auch die nicht vergessen, bei denen nicht rassistische
Wahnvorstellungen das Motiv für Verfolgung und Mord waren: die
Homosexuellen, die Kommunisten - oder einfach anständige
Menschen, die nicht schweigend zusehen wollten.

Man kann hier durchaus die provozierende Frage stellen: Wem
‚gehört‘ Auschwitz? Natürlich in erster Linie den überlebenden
Opfern - daran kann kein Zweifel bestehen. Wie sieht es nun
mit den Opfergruppen aus? Dass ein junger Jude sich der
Opfergruppe zurechnet, ist völlig legitim - aber ist es nicht
auch legitim, wenn Sozialisten, Demokraten, Antifaschisten …
sich der Opfergruppe zurechnen - anders gesagt: sich den
Opfern des Nationalsozialismus als potentielle Mitopfer (und
nicht nur deswegen) solidarisch verbunden fühlen?

Vollkommen einverstanden

Naürlich ist mir bewusst, dass es hier durchaus Anlass zu
Differenzierung gibt. Bei einer Wiederkehr der faschistischen
Gewaltherrschaft gäbe für die ‚politische‘ Opfergruppe
(zumindest für viele von ihnen) wieder die Option, durch
opportunistische Anpassung zu überleben - eine Option, die den
aus Rassismus und ‚eugenischen‘ Gründen Verfolgten nie offen
stand.

Trotzdem - ist es nicht nachvollziehbar, dass Nichtjuden
Auschwitz nicht ausschließlich als Mahnmal gegen einen
mörderischen Rassismus begreifen, sondern auch als Mahnmal
gegen Diktatur, gegen Militarismus und nationalen Chau
vinismus?

Den "Triumph des jüdischen Lebens über den Vernichtungswahn
der Nazis
" (Zitat ‚Jüdische Allgemeine‘) zu feiern - ja, auch
junge Juden (und btw auch Nichtjuden) haben unbestritten alles
Recht dazu. Auch das Recht, in Auschwitz Freudentänze
aufzuführen. Wenn ich allerdings lese:

"Prinzipiell stellt das Programm einen engen Bezug zwischen
der Schoa und der Gründung und Verteidigung Israels her. So
wurde der diesjährige Marsch von Gabi Ashkenazi, dem
Generalstabschef der israelischen Armee, angeführt.
"

  • dann löst das schon ein deutliches Unbehagen bei mir aus.

Bei mir auch, denn es zeigt, wie leicht Gedenken auch funktionalisiert und damit für bestimmte Eigeninteressen potentiell mißbraucht werden kann.

Und ich denke, auch wenn dieser Hintergrund Helmfried nicht
bekannt war, so liegt doch genau hier der Grund seines
Unbehagens mit dem geschilderten Auftreten der Gruppe in
Auschwitz. Es geht hier, so denke ich, gar nicht um stille
Trauer und Gedenken einerseits versus lautstarkes Feiern des
Überlebens jüdischer Kultur angesichts der angedrohten und in
Gang gesetzten Ausrottung. Es geht vielmehr um Bezüge zur
aktuellen Politik des Staates Israel.

Da bin ich mir nicht sicher, ob Helmfrieds Unbehagen damit verbunden ist, denn für Außenstehende ist das Gedenk-Konzept, das mit dem March of the Living verbunden ist, nicht unbedingt erkennbar.

Um noch etwas deutlicher zu werden - es geht um
Instrumentalisierung. Der ‚March of the Living‘ ist eine
politische Demonstration - und da wird nicht nur Auschwitz für
die aktuelle Außen- und Innenpolitik Israels
instrumentalisiert. Es ist sicher nicht nur verständlich
sondern auch unvermeidlich, dass Auschwitz als nationales
Trauma die Politik Israels mitbestimmt und motiviert.

Trotzdem ist einiges, was da passiert aus meiner Sicht sehr grenzwertig.

Aber -
fahnenschwenkende Jugendliche, die einen wehrhaften Staat
feiern, sind mir schon immer ein Greuel gewesen. Und wenn eine
solche Demonstration auch noch vom höchsten Militär des so
gefeierten Staates „angeführt“ wird und in Auschwitz
stattfindet, dann regt sich bei mir schon leichter Brechreiz.
Eine "Auseinandersetzung mit jüdischer Geschichte und
Tradition
", wie die ‚Jüdische Allgemeine‘ schreibt, ist das in
meinen Augen nicht mehr.

Glücklicherweise ist die Auseinandersetzung in der Erziehung / Schulrealität in Israel bteiter angelegt und aufgestellt.

Wie schon angedeutet - für mich als Nichtjuden ist Auschwitz
nicht nur ein Mahnmal gegen Rassismus, sondern auch gegen
Chauvinismus und Militarismus. Und nicht zuletzt auch gegen
die politische und ideologische Indoktrination - die
‚Verführung‘ - von Kindern und Jugendlichen, ihre
Instrumentalisierung. Insofern ist für mich persönlich das
erfreulichste an dem Bericht in der ‚Jüdischen Allgemeinen‘,
dass aus Deutschland selbst nur 40 Jugendliche an dieser
Aktion teilgenommen haben.

Wobei Auschwitz zweifellos mehr Besuche gerade von jungen
Menschen zu wünschen ist. Nicht um eine Nation und ihre
Wehrhaftigkeit zu feiern - sondern um sich selbst ein
abgewogenes und begründetes Urteil zu bilden. Nicht zuletzt
auch über ideologische und politische Verführbarkeit und wohin
sie im Extremfall führen kann.

Das sehe ich genauso.

Und da sind Ansätze wie etwa
die Stiftung ‚Erinnern Ermöglichen‘ nach meinem Empfinden doch
die sinnvolleren.

Viele Grüße

Iris

Für Konzentrationslager ist KZ die gängige Abkürzung.

Damit hast Du prinzipiell recht, die Abkürzung KL wurde von den NS-Behörden verwendet.

Gruß
Fronk

Hallo Helena,

da hast Du Recht. Ich muss gestehen, dass ich nicht alle Antworten ganz gelesen habe! :confused:

Grüße!
TAndrija