Du bist angehende Psychologin? Um gleich mit der Tür ins Haus zu fallen: Ich würde dir dringend empfehlen, dich mal einer intensiven Selbstüberprüfung zu unterziehen, was Motivation für den Job, insbesondere aber auch Verantwortung und Grenzen angeht, Grenzen in Bezug auf den Job an sich und auf den eigenen Wissenstand. Wissensstand bezieht sich einerseits auf die eigene fachliche Kompetenz und andererseits auf den Wissenstand, den man von einem Sachverhalt hat.
Dabei immer vor Augen halten: Man kann mit seinem Wissen viel nützen, man kann aber auch echten Schaden anrichten!
Reduzieren wir doch mal auf die Fakten:
„Bekannt“ ist dir der Junge nicht. Persönlich hast du offenbar keinerlei Berührungspunkte. Hast du überhaupt schon mal mit ihm gesprochen? Länger? Intensiver? Häufiger?
Er ist, um es vorsichtig auszudrücken, SEHR behütet
aufgewachsen, schläft meines Wissens nach immer noch im
elterlichen Bett
Und das weisst du woher? Dorftratsch?!
und hat bis vor ein, zwei Jahren das Haus
nicht ohne elterliche Begleitung zum Spielen mit Kumpels oder
ähnlichem verlassen dürfen.
Auch das weißt du woher? Und wenn es so wäre, wäre das zwar ein Indikator dafür, dass jemand sehr behütet aufwächst, aber noch keine soziale Auffälligkeit! Das fällt so zunächst unter die Kategorie Lebenswandel, der dich rein gar nichts anzugehen hat.
Ich persönlich fand ihn schon immer sozial auffällig, er hat
wenig oder keine Freunde, redet mit niemandem ungezwungen oder
gar normal , scheint da immer sehr gehemmt zu sein.
Wie „unnormal“ redet er denn? Und woher weisst du das?
Kann es nicht einfach sein, dass da jemand auch etwas schüchtern ist? Wie wäre es damit, Wahrnehmungen zunächst mal unvoreingemommen zu machen? Deine Beschreibung klingt nicht danach.
Ich habe
auch den Eindruck, dass er durchaus merkbar
entwicklungsverzügert ist, könnte das aber nicht an
irgendwelchen konkreten Fakten festmachen.
Das ist dann schon die Stufe härteren Tobaks: Du attestierst auf Basis von Nichts eine merkbare Entwicklungsverzögerung?
In letzter Zeit sind mir 3 Begebenheiten zu Ohren gekommen ,
die mir ein ungutes Gefühl geben:
Einschub: Deine Quelle ist also Klatsch und Tratsch.
Zum einen redet er wohl sehr auffällig oft über den
(keineswegs demnächst wahrscheinlichen) Tod seiner Großmutter,
die für ihn eine sehr enge Bezugsperson ist.
Dir ist bekannt, dass die Auseinandersetzung mit dem Tod zur völlig normalen Entwicklung eines Kindes gehört und sich in verschiedenen Phasen unterschiedlich zeigt?
Deine bis hierhin schon immens ausgeprägte Voreingenommenheit verbietet es dir offenbar, andere Interpretationen in Betracht zu ziehen, die erklären könnten, warum die Auseinandersetzung vielleicht intensiver ausfällt (wenn sie es überhaupt tut! - wir bewegen uns immerhin auf dem Informationsstand einer Else-Kling-Connection)
Hier kommt bspw. nicht nur in Betracht, dass Oma tatsächlich krank ist, es reicht, dass der Junge auf irgendeine Weise mit Tod einer engen Bezugsperson konfrontiert wurde. Das kann Bekanntenkreis sein, kann aber auch Film oder Buch sein.
Auf die Frage, was los
sei, erzählte er, mein Bruder und meine Cousens haben ihn
gemeinsam verprügelt. Beide Eltern reagierten prompt, stellten
die Kinder ernsthaft zur Rede etc. Diese waren völlig
überrascht, und es stellte sich heraus, dass (erwiesener
Maßen)
Zwischenfrage: Wer hat erwiesen?
überhaupt nichts war, nichtmal ein böses Wort oder
anderes. (Klar, der Umgangston unter Jungs dieses Alters ist
nicht immer der feinste… aber jedenfalls scheint es keinen
anlass für derartiges Verhalten gegeben zu haben.)
Es war überhaupt nichts (lass mich raten, „Nichts“ ist von „deinen“ Jungs und deinen Tratschquellen definiert worden, der Junge spinnt ja eh…) - aber der Umgangston ist nicht der Feinste - das räumst du immerhin ein. Eine Situation, die zunächst völlig normal für das Alter der Jungs ist, nichts, was überzubewerten ist. Das Einzige, was völlig überzogen ist, ist deine Interpretation!
Bewertungspotenzial der ersten beiden Situationen = NULL!
Dritte Begebenheit: der besagte Junge steht auf dem Parkplatz
und streckt - völlig ohne Anlass oder irgendeinen erkennbaren
Beweggrund - unserem Nachbarn die Zunge raus.
EHRLICH?! Ein frühpubertierender Junge streckt einem Erwachsenen die Zunge raus? Das ist ein Fall für die Erziehungsanstalt! Aber SOFORT!
Dieser ist ein
bisschen poltrig, aber durchaus gutmütig. Er kam jedenfalls
aus seinem Auto raus, schimpfte mit dem Jungen („Das kannst du
gleich sein lassen, sowas brauche ich mir nicht bieten zu
lassen“ sowas in der Art halt - laut, aber keineswegs
drohend).
Der Nachbar hat eine polternde Art und hat mit dem Jungen geschimpft. Und das ist nicht drohend? Auch hier braucht man nicht zu raten, wer definiert hat, ob der Junge sich bedroht gefühlt hat oder nicht.
Der Junge verkrümelt sich, eine halbe Stunde später
steht er vor dem Garten dieses Nachbarn, heult, schreit und
erklärt, dieser habe ihn verprügelt.
Na und? Eine vielleicht etwas überzogene, hysterische Reaktion eines jungpubertierenden, der so mal Druck ablässt. Das ist - wenn auch nichts, was man pädagogisch unterstützen sollte - aber völlig normal.
Bis hierhin ergibt sich für mich eher folgendes Bild: Der Junge reagiert hier in fast allen Situationen in einem Bereich, der völlig als normal zu bewerten ist. Wer hier nicht normal reagiert, bist du!
Noch eine kurze Anmerkung: die älteren Geschwister, zwischen
25 und 30, sind mir beide bekannt und soweit man das von außen
burteilen kann völlig normal.
Ich habe halt den Eindruck oder die Befürchtung, dass da mehr
als nur „Sonderbarkeit“ dahinter steckt, und dass er einem
Psychologen zumindest mal vorgestellt werden sollte.
Dieser Rückschluss ist anmaßend. Für eine solche Position fehlen dir jegliche substanziellen Anhaltspunkte!
Durch die
Tatsache, dass meine Familie nun durch die eine Begebenheit
mit meinem Bruder quasi persona non grata ist, scheint es mir
aktuell schwierig, mit den Eltern, die das unter Umständen
nicht sehen (wollen) oder unterschätzen, mal zu reden.
Lassen wir mal bis dahin noch im Raum, dass eine Motivation wirklich Wohlwollen und Hilfe sein könnte (woran ich erhebliche Zweifel habe!): Du gehst jetzt bereits - obwohl deine Informationslage mehr als dürftig ist und du keinerlei direkte Infos hast - davon aus, dass du mit deiner Einschätzung richtig liegst! Feststehende Ausgangsbasis ist:
- Es besteht ein schwerwiegendes Problem
- sollten die Eltern das nicht so sehen, heißt das automatisch, dass sie dies entweder unterschätzen oder sich gar verweigern
Die Familie hat also bereits jetzt schon verloren.
man das tun? (Im Zweifelsfall könnte meine Mutter, die einen
freundschaftlichen Draht zu den Eltern zumindest mal hatte,
das versuchen) Oder einfach abwarten? (Wenn eine ernsthafte
psychische Erkrankung zugrunde läge, würde es doch ohnehin
irgendwann „krachen“, und der Besuch eines Psychologen oder
Psychiaters würde unumgänglich.)
Ich frage mich halt auch, ob von dem Jungen eine Gefahr (für
sich selbst oder andere) ausgehen könnte. So als Laie
(Psychologiestudent ohne wirkliche diagnostische Erfahrung)
geht meine Vermutung in die Richtung einer schizotypischen
Störung, dafür wäre das ja eher nicht so typisch, trotzdem
stelle ich mir die Frage nach Gefahr. Meine „Diagnose“ ist ja
sicher unvollständig, vielleicht auch völlig falsch.
Und ab hier kann es dann einem nur noch die Sprache verschlagen und es einem ernsthaft Angst und Bang um den Jungen werden.
Dass in der Ausbildung befindenden Jungspunden schon mal die Pferde durchgehen, ist normal. Dass gerade angehende Psychologen, in dem Augenblick, wo sie der menschlichen Psyche theoretisch ins Hinterstübchen gucken, nur noch Psychopathen um sich herum sehen, auch. Das ist auch alles nicht schädlich, solange sich das auf der Ebene von „Fachsimpeleien“ unter Gleichgesinnten in der Mensa abspielt.
Wenn hier aber eine solche Jungspundin eingebunden ist in ein offenbar blühendes dörfliches Tratschwesen und anfängt, dieses besondere „Bedürfnis nach Selbstentfaltung“ eben dort auf dem Rücken von jemanden auszuleben, bei dem das ernsten Schaden anrichten und der (und dessen Familie) sich kaum gegen so etwas wehren können, dann wird es richtig gefährlich.
Unter fachlichem Blickwinkel machst du dich nur lächerlich, auf Basis deiner Kenntnislage mit einer "schizotypischen Störung"zu kommen, das fällt einzig auf dich zurück. Solltest du aber auf die Idee kommen, solche Äußerungen auch innerhalb dieses fruchtbaren Kommunikationsnetzwerkes fallen zu lassen und damit dem Tratschklub „professionelles Futter“ liefern - dann wäre zu hoffen, dass die Familie des Jungen einen guten Anwalt hat. M.E. bekommt so etwas dann schon eine juristische Dimension. Deren Durchsetzung allerdings schwierig ist, weil die Stigmatisierung in dem Bereich enorm ist. Auch das passt zum Thema, dass man sich bewusst sein sollte, was man für einen Schaden anrichten kann.
Dir persönlich kann ich nur den wirklich ernst gemeinten Rat, dich in Bezug auf meinen ersten Absatz mal mit jemand Profunden ins Gespräch zu begeben. Das ist eigentlich ein Musterfall dafür, dass das, was man in der Therapeutenausbildung als Selbsterfahrung macht, eigentlich schon im normalen Psychologiestudium seinen Raum haben müsste…