Liebe Experten!
Ich hatte gestern mit einer Freundin, ihres Zeichens angehende Fachphilosophin, einen Disput, den ich sogleich darstellen möchte. Mir geht es allerdings weniger um die Frage, wer nun „Recht“ hat. Was mich eher interessiert, ist, ob es namhafte Philosophen oder Fachphilosophen gab oder gibt, welche die Ansicht meiner Freundin vertreten. Angeblich herrsche an der hiesigen Universität über ihre Ansichten sogar so etwas wie ein allgemeiner Konsens. Vorab möchte ich mich entschuldigen: Ich bin von Haus aus Jurist und mit den Fachtermini der Philosophie nicht vertraut.
Diskutiert wurde und erläutert sei alles an einem Beispiel: Die Polizei nimmt einen Verbrecher fest und sperrt ihn ein. Diese Freiheitsberaubung sei, so sagt meine Freundin, Unrecht, weil etwas, das Unrecht sei, nicht zu Recht werden könne, und Freiheitsberaubung sei nun einmal Unrecht.
Für einen Juristen klingt das zunächst einmal sehr befremdlich, denn der Jurist unterscheidet zwischen Tatbestandsmäßigkeit und Rechtswidrigkeit, wobei ein Tatbestand aber nur das definiert, was typischerweise, also im Normalfall Unrecht (eigentlich: rechtswidrig) ist. Dabei geht es letztlich nur um die Frage, wie ein Gesetz systematisch aufgebaut wird. Rein theoretisch könnte man alle Rechtfertigungsgründe ja in jedem Tatbestand explizit erwähnen, so dass das, was heute rechtfertigend ist, schon den Tatbestand ausschließt; stattdessen werden sie im Gesetz an unterschiedlicher Stelle behandelt. Weiteres Beispiel: Es ist regelmäßig verboten, einen anderen zu töten, es kann aber auch durch Notwehr gedeckt und dann rechtmäßig sein.
Wohlgemerkt kennt auch der Jurist das, was meine Freundin meinte, dass nämlich eine Tat als rechtswidrig („Unrecht“) gilt, aber gleichwohl straflos bleibt. Ein 12-Jähriger, der einen anderen ermordet, kann dafür mangels Schuldfähigkeit (genauer: Strafunmündigkeit) nicht bestraft werden. Das macht seine Tat aber nicht rechtmäßig (also nicht zu „Recht“), sondern der 12-Jährige wird nach juristischer Terminologie lediglich entschuldigt.
Jene Freundin nun meint, dass doch jedenfalls im philosophischen Sinne nichts, was einmal Unrecht sei, zu Recht werden könne. Darauf angesprochen, was denn gelte, wenn es sich bei dem Festgenommenen um einen gefährlichen Massenmörder handele, so dass es doch eher Unrecht sei, die Gesellschaft nicht vor ihm zu schützen (plakative Beispiele fördern meiner Meinung nach das Verständnis am besten), erwiderte jene angehende Fachphilosophin dann: In diesem Falle habe der Staat nur die Wahl zwischen zwei Unrechtsvarianten. Das hat mich nicht überzeugt, allerdings gibt es im Bereich der juristischen Entschuldigung gleiche Gedanken: Das Brett des Karneades wird von Juristen als eine Situation der Entschuldigung anerkannt.
Danach gefragt, warum denn das Bedürfnis bestehe, die Festnahme des Massenmörders, von dem weiter Gefahr ausgehe, als Unrecht zu qualifizieren, wenn es doch die einzige sachgerechte Alternative sei, ihn einzusperren (wohlgemerkt: als mildestes Mittel, die Gesellschaft vor ihm zu schützen), entgegnete jene Freundin: Es sei nötig, damit der Staat bzw. sein Amtsträger sich jederzeit vor Augen führe, dass er Unrecht, also etwas eigentlich Falsches tue; er solle sich dessen bewusst sein, damit er nur im unverzichtbaren Maße in die Freiheitsrechte des Mörders, der ja ein Bürger ist, eingreife. Auch das hat mich nicht überzeugt. Zum einen, weil die Logik für mich ergebnisorientiert ist. „Ich will, dass der Amtsträger von Unrecht ausgeht, also sei es Unrecht.“ Zum anderen aber, weil sich der Amtsträger nach meiner Ansicht ja durchaus nicht zurücklehnen und blindlings walten kann. Während er sich nach der Logik meiner Freundin fragen muss: „Welches Unrecht wiegt nun schwerer?“, muss er sich bei mir fragen: „Ist diese konkrete Handlung, die ich nun tu, also die Festnahme, eigentlich noch Recht, so dass ich sie tun darf, oder ist sie bereits Unrecht, so dass ich sie unterlassen muss?“ Gewiss werden sich die Ergebnisse nicht oder nur unwesentlich unterscheiden. Denn im Rechtsstaat, der sich stets und überall an der Verhältnismäßigkeit zu orientieren hat, kann ebenfalls nur das kleinere Übel, also der schwächere Eingriff, zulässig sein. Genauer gesagt: Verhältnismäßig ist staatliches Handeln nur, wenn es einen legitimen Zweck verfolgt, zur Erreichung dieses Zwecks geeignet und erforderlich und im engeren Sinne angemessen ist. Ich frage mich dann aber schon, warum der als verhältnismäßig unterstellte Eingriff in das Freiheitsrecht gleichwohl als Unrecht qualifiziert werden sollte, sei es auch „nur“ im philosophischen Sinne. Weder sehe ich eine Logik, die dies zwingend gebietet, noch sehe ich irgendeinen Gewinn.
Ich interessiere mich wie gesagt in erster Linie für die Frage, ob dieses konsequenten Unrechtsgedanken in der Philosophie wirklich von Relevanz sind. Wenn allerdings jemanden einen entscheidenden Denkanstoß in die eine oder andere Richtung geben kann, vor allem unter Hinweis auf wichtige (Fach-)Philosophen, werde ich das mit Freude lesen und nachzuvollziehen versuchen.
Schöne Grüße von
Levay
PS. Die Differenzierung Recht und Unrecht verführt sicher dazu, auf die Frage nach Rechtspositivismus, Naturrecht und Radbruch einzugehen. Darum geht es mir aber nicht.