Hi,
Hi zurück,
ein Freund von mir, den ich noch nicht so lange kenne, wirkt
auf mich häufiger unsicher (dementsprechend, dass sein
Selbstwertgefühl stabiler sein könnte).
Dh. erstmal nur, Du schätzt ihn höher ein als er sich selbst einzuschätzen scheint.
Zum Beispiel habe ich
bereits einige male mitbekommen, dass er sich von Situationen
in seinem Alltag (z.B. Straßenverkehr) oder von Aussagen
seiner Mitmenschen persönlich angegriffen fühlt, obwohl das
objektiv gesehen wirklich Humbug ist.
„Objektiv“ von Dir nur gesehen oder auch von anderen?
Auch weiß ich von ihm, dass er in seiner Kindheit geschlagen
wurde.
Menschen mögen Verletzungen auf psychischer und körperlicher Ebene unterschiedlich erleben. Inwiefern und inwieweit er hier was verdrängt, lässt sich nicht einfach einschätzen, wobei ich es doch sehr mutmaße. Geburtsschmerzen sind teils auch schnell vergessen. Sicherlich ist hier der Hintergrund ein anderer, da bei der körperlichen Züchtigung zu den körperlichen Schmerzen die Strafe kommt.
Die Frage ist, inwiefern „Strafe“, die nur als Straßmaßnahme angewendet wird, tatsächlich hilft? Wieviele Menschen sitzen im Gefängnis ihre „Strafe“ ab und haben aus ihrer Tat / ihrer Taten nichts gelernt und machen vielfach nach Entlassung wie gehabt weiter.
Dass ein Mensch alters- bzw. wenigstens gemäß seiner Reifeentwicklung Verantwortung für sein Tun übernehmen sollte, steht außer Frage. Doch Strafen von sogenannten Erziehungsberechtigten auf körperlicher Ebene halte ich für fatal.
So ging ich (als „alte Analytikerin“
) davon aus, dass er
keine allzu schöne Kindheit hatte.
Als „Bestätigung“ diente mir noch die Theorie, dass Wut und
Zorn -und so erlebe ich ihn öfters- ihren Ursprung in
mangelnder kindlicher Zuneigung finden.
Gestern nun sagt jener, inzwischen über 50 J., im Gespräch,
dass er eine glückliche Kindheit gehabt habe. Ein vehementes
Widersprechen liegt mir auf der Zunge, kann mich gerade noch
zusammenreißen und fragen, was denn ausschlaggebend dafür war,
dass er seine Kindheit als glücklich bezeichne.
Die folgende Aufzählung umfasste -in meinen Augen-
Äußerlichkeiten. Er erzählte mir von der Vorbereitung aufs
Leben, sowohl beruflich als auch die Widrig- und
Schändlichkeiten des Lebens betreffend.
Auf mein Nachfragen hin meinte er, dass er eine gute
emotionale Stabilität mitbekommen habe.
Die emotionale Stabilität scheinst Du ja nicht immer bei ihm zu sehen. Konfrontierst Du ihn in entsprechenden Situationen, in denen Du ihn als unsicher erlebst? Wobei es auch die Frage ist, will er da überhaupt hinsehen und sich mit sich auseinander setzen?!
Wer als Kind nicht die Erlaubnis hatte negative Gefühle äußern zu dürfen, sei es Enttäuschung, Wut und Ärger, auch auf die Eltern, wird da teils sicherlich allein Schwierigkeiten haben dran zu kommen. Hätte z.B. Kritik an Prügeln in der Kindheit noch weitere oder gar härtere Strafen bedeuten können, man ist ja abhängig als Kind, kann diese Angst vor Strafe bishin vorm Verlassenwerden im Erwachsenenalter immer noch wüten, auch wenn es dafür gar keine realistische Grundlage mehr geben mag.
Auf meinen Einwand, dass er ja von seinem Vater geschlagen
worden sei, meinte er, „dass dies ja nur dann passiert sei,
wenn er es auch verdient habe“. (Eine Grundsatzdiskussion
darüber, dass es in meinen Augen kein „verdientes Schlagen“
gibt, fand ich in dem Gespräch unangebracht.)
Ein sich etwas verdienen hat für mich nicht nur mit einem zurecht sondern auch mit was Positivem zu tun. Was ist das Positive an Prügel? Weshalb sind Körperstrafen in Deutschland nun verboten? Weshalb hatte er denn Prügel bekommen?
Was genau abgelaufen ist, weiß hier ja niemand. Wurde mit ihm im Vorfeld, vor der körperlichen Züchtigung, gesprochen? Inwiefern hatte sein Vater nur eine unterschiedliche Vorstellung von dem was richtig oder falsch ist als er und inwieweit wurde er hier möglicherweise auch nur aufgrund unterschiedlicher Weltbilder verprügelt, eben weil er als der Schwächere ausgeliefert und abhängig war, und ihm sein Vater seinen Stempel von richtig und falsch nur aufdrücken wollte? Wieoft konnte er einsehen, dass er etwas falsch gemacht hatte? Und konnte er auch was draus lernen, das ihn in seinem Willen und Ausdruck nicht einschränkte?
Selbst ist „Strafe“ bzw. das Tragen von Konsequenzen zurecht, so kann ich in einer physischen Bestrafung keinen Gewinn sehen. Und vor allem hätte er das was er möglicherweise daraus gelernt hat, nicht auf andere Weise auch verstehen und lernen können? Vor allem auf eine Weise die ihn eventuell weniger einschüchtert das Leben seiner Natur gemäß anzupacken und zu leben. Wer gestraft wird bzw. in Angst vor Strafe lebt, wird oftmals auch gehemmter sein sich auf das Leben einzulassen, sich auszuprobieren bzw. bestenfalls Dinge heimlich tun. Daraus könnten wieder andere Konflikte entstehen.
Wer von euch kann mir nun erklären, wie es kommt, dass jemand,
der als Kind geschlagen wurde (und nicht zu wenig), seine
Kindheit als glücklich bezeichnet?
Ich kann hier nur mutmaßen. Wie gesagt, vielleicht hat sich im Laufe der Jahre sein Blick verklärt, vielleicht negiert er die Prügel, weil ihn andere Dinge noch mehr verletzten. Ich denke, dass jemand der meint Prügel haben ihm nicht geschadet und auch ein paar positive Entwicklungen in seinem Leben aufzählt, sich vermutlich nicht mit dem was war auseinander setzen möchte. Festzustellen dass er auch ohne Prügel hätte etwas erkennen und dazu lernen können, z.B. in dem man ihm was erklärt und in einem angemessenem Rahmen die Konsequenzen seines falschen Handelns tragen lässt, was meist schon Strafe genug ist, würde wohl noch schmerzlicher sein. Gerade wenn man sich als Kind schon verletzt und verprügelt gefühlt hat, wird man wohl einige Abwehrmechanismen entwickeln dieses Gefühl nicht nochmal spüren zu müssen.
Wie kann jemand davon sprechen, dass die Schläge „ok waren,
denn sie waren ja gerechtfertigt“?
Vor einigen Jahren stand eine afrikanische Frau in Deutschland vor Gericht, da sie ihre Tochter beschnitten hatte und diese dabei verblutet war. Obwohl sie selbst diese grausame und wohl auch
äußerst schmerzhafte Verstümmelung erfahren hatte, tat sie dies ihrer Tochter an. Sie weinte und suchte sich immer wieder mit den Worten zu verteidigen, sie hätte das machen müssen. Sie habe nicht anders gekonnt. Scheinbar konnte sie nicht das was in ihrem Herkunftsland Tradition ist hinreichend hinterfragen bzw. in Frage stellen, und sich ihre eigene Meinung bilden. Und obwohl sie hierzulande aus dem fernen Afrika niemand hätte zwingen können, übernahm sie selbst diese Rolle.
Wird da verdrängt und beschönigt oder bin ich diejenige, die
zu sehr in ihren Kategorien verhaftet ist und „Geister sieht
wo gar keine sind“?
Wenn Du ihm die Frage stelltest, ob er das was er durch seine Prügel „gelernt“ hat, hätte auch anders lernen können, und er das bejaht, drückte dies doch schon etwas von einem Verdrängen und Beschönigen aus. Wenn er es so sehen möchte und sich damit arrangiert hat, so ist das seine Angelegenheit. Wenn es Situationen gibt, in denen er z.B. weniger selbstsicher auftritt oder in denen er unangemessen wütend reagiert, kann man bestenfalls nur mal nachfragen, was in ihm da vorgeht…
Wenn man so Autobiografien hört oder liest, sind die ja meistens allerbestens gewesen. Vor Jahren hörte ich ein Interview mit Karlheinz Böhn der mich als Schauspieler nicht interessierte und erst mit seiner Aktion „Menschen für Menschen“ meine Aufmerksamkeit etwas auf sich zog.
In diesem Interview erzählte er, dass er sich mal das Leben nehmen wollte. Er hatte sich die Pulsadern aufgeschnitten. Sein Vater hatte darauf bestanden, dass die Pulsadern von einem befreundeten Arzt ohne Narkose wieder zugenähnt werden müssen. Er äußerte im Interview, so ich mich recht erinnere, das wären so immense Schmerzen gewesen, dass er deshalb nie mehr hätte einen Selbstmordversuch machen mögen. Hier ein kleiner Auszug:
"Ich war abends mit Sissi spazieren, vergaß, dass ich den Hausschlüssel hatte und ließ meine Eltern eine Dreiviertelstunde vor der Tür warten. Als ich mit schlechtem Gewissen ankam, sagte meine Mutter: „Das werden wir dir nie verzeihen.“
Und deshalb haben Sie sich umbringen wollen und mit einer Rasierklinge die Pulsadern aufgeschnitten?
Ich war so verzweifelt. Zum Glück hat mich das Hausmädchen rechtzeitig gefunden.
Haben Sie später mit Ihrer Mutter darüber gesprochen?
Nein, nie." http://www.abendzeitung.de/magazin/2752
Welche Grausamkeit, welcher Sadismus, welcher Irrsinn in mancher „Familienidylle“ doch innewohnt.
Kann es da verwundern, dass ein Mensch angesichts solcher Erlebnisse später für sich daraus im Positiven entwickelt, sich für andere Menschen einzusetzen? Natürlich muss man nicht selbst Leid erfahren um anderen Menschen in ihrer Not und ihrem Leid helfen zu können. Meiner Meinung nach kann jedoch daraus eine erhöhte Empathie und Akzeptanz sowie Hilfsbereitschaft erwachsen, schwächeren und konfliktbeladenen Menschen helfen zu wollen und dies bei entsprechender Ausbildung / Erfahrung auch tun zu können.
Ciao,
Romana
Neugierig grüßt
jeanne