Sehe ich genau so. Und zwar nicht vom Hörensagen, sondern aus Erfahrung im engeren Umfeld. Hier die inzwischen erwachsene junge Frau, die wirklich ADHS hat und die mit Medikamenten (vernünftig eingestellt!) ihren Weg gut bestreiten kann.
Da der Junge, der in frühen Jahren 2 Mal richtig krank war, dadurch jahrelang nie mit vielen Kindern in Kontakt kam. Ein aufgewecktes Kerlchen, impulsiv. Was die Aufmerksamkeit angeht: Eigentlich kein Problem. Problematisch nur in Gruppen ab etwa 15 Kindern. Wobei faktisch auch noch Hörprobleme eine Rolle spielen.
Bei dem ist das alles völlig in die Hose gegangen. Die Schule wollte partout auf ADS raus, das Kind war unbequem und der Stempel ADS passte so schön. Man war in Kooperation mit einer Klinik! (Alleine das finde ich schon höchst bedenklich, wenn es Standardüberweisung für einen stationären Aufenthalt gibt. Mit dem „wohlwollenden“ Argument, dann könnte man sich in Ruhe widmen. Als ob nicht der „normale“ Schritt wäre, ambulant mal zu gucken) Monatelanger Aufenthalt in der durchaus anerkannten Fachklinik. Dort gehörte es zum Standard, Medikation als Diagnose einzusetzen! (Zu dem Zeitpunkt waren viele eigentlich nötige Tests noch gar nicht gemacht - u.a. die tatsächliche Hörfähigkeit. Das Argument: spricht er auf die Medikamente an, hat er ADS!). Unter dem Medikamenten war der Junge ein Zombie - in meinen Augen. Aus dem aufgeweckten, impulsiven Kind ist eine angepasste Marionette geworden. Klar - er hat dann keine Zwischenfragen gestellt. Weil er nix mehr mitbekommen hat. Kreative Gespräche mit ihm - nicht mehr möglich.
Impulsivität an sich ist nämlich mitnichten therapiebedürftig. Es liegt im Auge dessen, der dabei ist, ob er es als lästig empfindet, wenn Kinder nachfragen. Und vielleicht auch mal plappern, was das Zeug hält. Ich finde das für Kinder im frühen Grundschulalter normal. Eigentlich sogar erstrebenswert.
Guckt man sich mal die Kriterien für ADS an, dann fällt doch zweierlei auf: Die Kriterien sind (das müssen sie natürlich sein) relativ zur Norm. Nur was ist die Norm? Wenn jetzt mehr Kinder von der Norm abweichen, dann kann das an „mehr Kindern“ oder einer sich verändernden Norm liegen. Und eines dürfte ja wohl klar sein: Die Norm, gerade was Erwartungen an Kinder angeht, hat sich in den letzten Jahren massiv verändert. Mehr Einflüsse, weniger stützendes Gerüst, dafür mehr Druck von oben. Das sieht man dann auch an den Kriterien selbst. Da sind viele bei, die man positiv oder negativ besetzen kann.
Bei dem Jungen jedenfalls hat die normstellende Umgebung völlig versagt. Trotz (oder auch wegen?) „Fachklinik“. Die Eltern haben nach monatelangem Klinikaufenthalt, der nix gebracht hat, die Reißleine gezogen. Jetzt ist der Junge auf einer Waldorfschule - ohne Medikamente - und es gebt ihm prima! Weil die Norm eine andere ist und der Stempel „anormal“ weg. Und schwupps ist auch der Druck weg. Und das bisschen, was vorher tatsächlich in die Kategorie „auffällig“ hätte fallen können, hat sich von selbst gelegt. Inzwischen ist auch die Hörgeschichte OK. Und es ist dadurch für den Jungen auch leichter. (Etwas, was mich immernoch fassungslos macht: Da ist bekannt, das ein Junge schlecht hört. Anstatt das jetzt als Grund mal anzunehmen, dass jemand, der schlecht hört, nervös wird, wenn er mit vielen Kindern in einem Raum ist - und es draußen die Probleme nicht gibt (weil weniger / kein Widerhall)… haben die Ärzte in der Klinik die Kausalkette so gelegt, dass die Besserung unter draußen möglicher Bewegung gerade Beleg für Hyperaktivität sei!).
Ich kann nur nochmal wiederholen: Ich leugne nicht das Vorhandensein von ADS. Und sehe sehr wohl - obwohl ich ein gespaltenes Verhältnis zu solchen Medikamenten habe - , dass sie manchmal sein müssen und hilfreich sind. Aber wenn wir hier über den sinnvollen Umgang der Symptome reden, muss in meinen Augen auch dringend über „Norm“ und „Umwelt“ geredet werden. Und damit sind auch, aber eben nicht nur Eltern gemeint. Eltern, die solche „Problemkinder“ haben, sind damit völlig überfordert. Und das nicht aus Unvermögen! Der Druck, der auf ihnen in so einer Situation lastet, ist im Zweifel wirklich unvorstellbar (ich habe es hautnah mitbekommen und so schon gelitten wie Hund. Wenn man völlig der Hilflosigkeit ausgeliefert ist und - obwohl man eigentlich denkt, man hat den richtigen Wertehorizont, man langsam anfängt an sich selbst zu zweifeln).
Hier müssen die Fachkräfte ran (Lehrer, Erzieher, Ärzte, Psychologen) und hier gehört eine gesellschaftliche Diskussion her. Die deutliche Zunahme von Burnout und Co bei Erwachsenen und die Zunahme „diagonstizierter“ ADS-Fälle haben in meinen Augen die gleiche Ursache. (die Kinder erwischt es am schlimmsten - sie sind das schwächste Glied) Jetzt kann ich mich ohnmächtig zurück legen und kann seufzen „das ist die Veränderung der Gesellschaft, das ist halt so“. Ich kann die Pharmaindustrie sponsern, dass die fix mal ein paar neue, vielleicht besser verträgliche Pillen erfindet. Oder ich kann die Haltung annehmen: WIR sind Gesellschaft, damit haben WIR auch die Möglichkeit, das Ganze in eine andere Richtung zu lenken.
Wenn es in einer Gesellschaft erforderlich sein sollte, dass 10-15 % der Menschen nur noch mit Medikamenten teil dieser sein können, dann stimmt nicht mit den Menschen etwas nicht, sondern mit der Gesellschaft!
LG Petra