in einer Handschrift aus dem Jahr 1900 beschreibt der Verfasser Sitten und Bräuche in einem Dorf auf der Schwäbischen Alb:
Im Winter ist es anders. Da liest der Vater nach dem Essen den „Ermsthalboten“ […], wobei ihm die Mutter u. hie u. da die größeren Töchter spinnend, nähend, strickend u. schwatzend Gesellschaft leisten. Manche Männer u. die meisten ledigen bleiben aber nicht zu Hause, sondern gehen „zum Äbedhẽ“, d. h. in ein bestimmtes Haus, wo sie rauchen, schwatzen u. Kartenspielen.
Der Verfasser merkt an, dass er „die Schreibung der Mundart nach den im Schulwochenblatt 1900 Seite 138 f u. in den Blättern des Schwäb. Albvereins X, 27 f abgedruckten Leitsätzen“ ausführte. Der letzte Buchstabe des Wortes „Äbedhẽ“ ist daher wohl als „e“ mit Tilde zu lesen.
Ich konnte zu diesem Wort - weder in dieser noch in div. ähnlichen Schreibweisen - bislang irgendetwas finden. Kurzum: Ich stecke wieder einmal fest und bin dankbar für jeden Tipp.
Dass es mit ‚Abend‘ zu tun hat behaupte ich mal und ich kann es mir gut als Gegenstück zum Frühschoppen vorstellen, wo sich die (oft alleinstehenden) Herren der Schöpfung auf einen morgendlichen Plausch mit Alkohol und Rauchzeug treffen
ich stelle fest, dass ich meine Frage unklar formuliert habe.
Aus dem zitierten Text geht schon hervor, dass der
rätselhafte Dialektbegriff eine Art „Abend-“ bzw. „Spätschoppen“ bezeichnet. Daher war dies gar nicht meine Frage.
Vielmehr interessiert mich die Etymologie, die Herkunft dieses Begriffs.
Im Schwyzerdütschen, das wie das Schwäbische ein alemannischer Dialekt ist, gibt es die Begriffe „Abe(nd)sitz“ bzw. „Z(e)abe(n)dsitz“.
Diese Begriffe sind wohl als Synonyme des schwäbischen „„Äbedhẽ““ zu verstehen. (Falls ich mich mit meinen Überlegungen nicht komplett auf dem Holzweg befinde.):
*"1. das Beisammensitzen am Feierabend, abstr. a) zwanglose abendliche Zusammenkunft der Familienglieder, von Nachbarsleuten, Bekannten, Mitgliedern eines Vereins, Freundeskreises usw. zum Zwecke gemeinschaftlicher Beschäftigung oder geselliger Unterhaltung, entweder vor oder in einem Privathause, auch in einem öffentlichen Lokal, Wirtshause udgl. […]"
[Quelle: Schweizerisches Idiotikon, Wörterbuch der schweizerdeutschen Sprache, Band VII, Basel 1913. S, 1726. Digitalisierte Fassung unter < Schweizerisches Idiotikon digital>]
Die Zusammensetzung der beiden o. g. schwyzerdütschen Begriffe ist klar und verständlich: [„Zu“ plus] „Abend“ plus „sitz[en]“
Was aber bedeutet bzw. woher stammt die letzte Silbe des schwäbischen Begriffs „Äbedhẽ“, also das „-hẽ“?
oder, in den nördlicheren Spielarten des Schwäbischen:
Do goht ma obeds hi.
„He“ bedeutet in den südlicheren Spielarten des Schwäbischen zwar auch hin, aber mit einer anderen Bedeutung, vgl. Günther Wölfles „Yeschderday - an maim Fahrad ischd dr Dräbbl he“ und ganz allgemein hemacha = kaputtmachen.
Der Kern der Frage, nämlich
zumal in dieser eigenartigen Schreibweise, bei der sich der Autor sicherlich etwas gedacht hat, ist damit nicht berührt.
ich hätte Dir absolut zugestimmt, habe dann aber in Hermann Fischers legendärem „Schwäbischen Handwörterbuch“ noch einmal tief gegraben:
Das neuhochdeutsche „hin“ ist lt. Fischer im Süden des schwäbischen Sprachraums „hī“ oder „hĩ“, im Norden des Sprachraums sowohl „hĩ“ als auch „hẽ“.
Die Bedeutungen des schwäbischen „hī“ wie auch des „hẽ“[!] entsprechen lt. Fischer der des neuhochdeutschen „hin“:
„1.hin opp. her lokal, wie nhd. H. und h. gehen udgl. — 2. zeitlich: vergangen, vernichtet, zerstört. Tot, von Menschen und Tieren. Von ersteren nur in derber oder sehr energischer Sprache, […] Von Personen: ökonomisch zerrüttet, todmüde […] — Von Sachen: Das Geld, Vermögen udgl. ist h. — B. wie nhd. hin, nach einem Orte zu. […]“
Ich bin im Esslinger Raum, also etwa in der Mitte des schwäbischen Sprachraums, aufgewachsen. Aus einem Dorf in eben dieser Region stammt auch der von mir z. Zt. bearbeitete Text.
Für mich hatte bis dato das „hẽ“ immer nur die zeitliche Bedeutung („vergangen, vernichtet, zerstört, tot“), das „hī“ hingegen die lokale Bedeutung (Ggs. zu „her“).
Statt des lokalen „hi“ würde ich persönlich statt des „hi“ oder „hẽ“ stets das „nã“ verwenden. („Mã gãhscht nã?“ -„Hoim!“)
Jetz hot mr a Läbdag lang Schwäbisch g’schwätzt, aber mr lärnt halt oifach nia ous!
Vielleicht ist dann ja tatsächlich die simpelste Lösung die richtige:
Das „Äbedhẽ“ ist, wo man am „Abend hi[n]“ geht!-?
wo ist „bei uns“? Ich meine, Du hättest mal von Calw gesprochen - dort geht man äba na und nicht hi, da bin ich sicher.
@Renardo hat bei Hermann Fischer das hẽ für hin gefunden, leider dort auch nur sehr allgemein beschrieben. Für den Heilbronner Raum, Übergang zum Fränkischen, kann ich hi bestätigen, für den Stromberg (konkret Gündelbach) auch, und in Calw gibt es das hẽ für hin auch nicht - schau dem Volk mal ein bitzle aufs Maul.
Bleibt unverändert die Frage: Wo sagt man hẽ für hin im Sinn einer Richtungsangabe?
vielleicht wird die Sache ja deutlicher, wenn in Erfahrung zu bringen ist, wie man sich die Aussprache der e-Tilde vorstellen soll. In den Sprachen, in denen es zur regelmäßigen Schrift gehört, gibt es keine „generelle“ Bedeutung für die Tilde an dieser Stelle. Wenn man sich das e-Tilde als so etwas wie „hije“ oder „hijä“ mit betontem i und fast verschlucktem -e oder -ä vorstellt, klingt es eher so, als würde das irgendwo im Schwäbischen so gesprochen.
die Leitsätze aus dem Württembergischen Schulwochenblatt 1900, nach denen sich der Verfasser bei der Schreibung des Schwäbischen richtete, liegen mir (noch) nicht vor.
Das „ẽ“ („e“ mit Tilde) findet sich aber auch noch an einer anderen Stelle der Handschrift:
Nach der Kirchweih gehen die Bu- ben „gẽ Aftǝbergǝ“.
Das „gẽ“ hier ist der adverbial gebrauchte Infinitiv des Verbs „gehen“,
folglich wird das „ẽ“ als „offenes e“ wie im nhd. „geh!“ gesprochen.
Die beiden „ǝ“ in „Aftǝbergǝ“ würden dem „verschluckten e“ entsprechen.
ich täte es 1:1 als Schwäbisch für gen = in die Richtung von auffassen - auch deswegen, weil es auch im wilden Süden, auch wenn dort für gehen von gange oder gau die Rede ist, gauge ränga kommd, wenn die ersten Tropfen aussteigen.
Das macht aber für die Aussprache keinen Unterschied.
Schmid schreibt: „[…] Im Oestreich. lautet es gen, was der Infinitivform näher liegt. […].“
Schmid bezieht sich hier aber nicht auf das „gen“, welches Du meinst (wie in „gen Himmel“).
Letzteres „gen“ ist nicht von dem Verb „gehen“ abgeleitet, es ist eine bereits im Mittelhochdeutschen entstandene Kurzform der Präposition „gegen“ bzw. „gegini“:
Ja - deswegen, weil es im eher südlichen Schwäbisch, wo gehen = gau ist, parallel ge (= zu, zu..hin, auf…zu) und gau (= gleich, bald) gibt. Wenn ge von gau abzuleiten ist, ist kein Platz mehr für ein ebenfalls benutztes gau. Drum hab ich auch beide in einem Satz genannt, damit man es nicht darauf schieben kann, dass da halt jemand aus Bietigheim mit jemandem aus Geislingen schwätzt.
Wenn alles nichts hilft, helfen die südlichen Nachbarn aus dem Seealemannischen beim Umgehen, wenn sie mit gänzlich anderen Begriffen sagen „Es naachdad aheba wolle ei“ - aber das gehört ganz woanders hin…