Sind Fans der Nationalmannschaft verkappte Nazis?

Liebe Experten,

aufgrund der aktuellen Fußball-Europameisterschaft 2012 ist die Diskussion erneut heiß. Schland-Anhänger fahren ihre Deutschland-Fahnen am Auto spazieren, andere geben Tipps zum Abbrechen und Stehlen derselben, um keinen rassistischen Nährboden zu bereiten.

Die Süddeutsche schreibt, es gäbe keine guten Patrioten und zitiert den Psychologen Cohrs: „Menschen mit patriotischen Einstellungen lehnen Nationalismus nicht ab. Vielmehr geht beides oft Hand in Hand.“
Die Welt wiederum wertet die WM 2006 als positiven Effekt: „Das Großereignis hat Deutsche und Ausländer zusammengeführt (…). Es hat auf der einen Seite den Nationalstolz der Deutschen gestärkt und zudem ihre Toleranz und Fremdenfreundlichkeit vergrößert. Viele denken ja, dass das eine das andere ausschließt, aber das Gegenteil war hier der Fall.“

netz-gegen-nazis.de kommt zu der Frage: „Ist Patriotismus, dem immer die Nähe zum Nationalismus vorgeworfen wird, in Wirklichkeit nicht sogar eines seiner größten Gegenspieler?.. Ist Patriotismus nicht was ganz normales, dass jeder haben kann. Man denke doch nur an die Amerikaner, Franzosen, Briten, Spanier, Italiener und Russen. Alle Länder sind patriotisch, bei denen ist Patriotismus zu einem Fundament der Gesellschaft geworden, nur wir Deutschen haben Angst, wenn sich jemand als Patriot ortet. … Vielleicht kann Patriotismus sogar ein Widerspruch zum Nationalismus sein, weil er die soziale Marktwirtschaft durch sein Gemeinschaftsgefühl stärkt und nicht nur Stolz auf das Deutschsein, sondern auch Stolz auf die politischen Errungenschaften wie Demokratie, Rechtsstaat und Freiheit ausdrückt?“

Andere fragen sich, ob man sich über Tore noch freuen darf oder damit schon als Nazi gilt (https://twitter.com/MmeDisaster/status/2129849942038…).

Mich würde sehr interessieren, wie ihr das bewertet. Danke für eure Antworten!

Viele Grüße
Tina

Quellen:

Die Mär vom guten Patrioten
http://www.sueddeutsche.de/wissen/liebe-zum-land-die…

Fußballtaumel und Fremdenfeindlichkeit http://www.sueddeutsche.de/kultur/studie-zur-fussbal…

Nationalstolz: Warum sich die Deutschen selbst nicht mögen
http://www.welt.de/politik/deutschland/article138134…

Patriotismus: Wirklich Vorstufe zum Nationalismus? http://www.netz-gegen-nazis.de/frage/patriotismus-wi…

Liebe Tina,

zunächst muss man einmal den Fußball in Schutz nehmen, denn auch bei anderen Sportarten entsteht Sympathie für das deutsche Team, ob Hockey, Basketball oder Handball. Jede Mannschaft hat seine Anhänger, jede Nationalmannschaft seine Fans, daher müsste man dein Einwand auf alle ausweiten. Es sei denn du hast spezielle Einwände gegen Fußballfans der deutschen Nationalmannschaft. Wenn man einmal die anderen Länder sieht, dann ist es dort selbstverständlich ihr Land zu unterstützen. In Amerika hängt oft die Stars and Stripes Flagge an den Häusern, was in Deutschland schon relativ verpönt ist. Sind US-amerikaner die größeren Nationalisten? Hierbei müsste man den deutschen „Nationalismus“ relativieren. Es stellt sich auch die Frage, warum man sein Land unterstützt. Hierbei ist Identität ein entscheidendes Wort. Als Bürger dieses Landes bekommt man die Identität eines Deutschen, dies kann man akzeptieren und sich dafür interessieren oder hinnehmen bzw. ggf. ändern. Wenn man nun so ein großes Event verfolgt, sucht man natürlich Bezug zu der Veranstaltung, am besten zu einer Mannschaft mit der man sich identifiziert. Als Deutscher liegt es hierbei nahe, die deutsche Nationalmannschaft zu unterstützen. So ist es auch in jeder anderen Mannschaft. Hier sollte nun erstmal eine Abgrenzung zwischen Fan und Nationalist sein. Natürlich sind Nationalisten ebenfalls Sympathisanten der deutschen Fußballnationalmannschaft. Ein medienwirksames Event wie die EM kann auch genutzt werden, diesen Nationalismus auszuleben. Jedoch ist zu beachten, wie viele dies tun und wie viele nach der EM zurückbleiben. Ob man mit der Masse mitschwimmt, Deutschland unterstützt und somit auch ein wenig Nationalismus aufkommen lässt und ob nach dieser Welle das anhält, ist meines Erachtens ein großer Unterschied. Dein gewähltes Wort „verkappte Nazis“ suggeriert ebenfalls nicht nur die Antipathie, sondern Hass gegenüber anderen Mannschaften. Nazi ist ohnehin das vollkommen falsche Wort, ich sehe keinen Neonazis in deutschen Fanblöcken. Das man im Moment des Aufeinandertreffens gegen eine gegnerische Mannschaft spielt, ist Grundlage des sportlichen Duells. Dass die gegnerische Mannschaft ein Land repräsentiert und man somit gegen eine andere Nation konkurriert ist evident. Man sollte jedoch nicht vergessen, dass das nur Sport ist und die meisten verstehen dies auch, ohne darüber nachzudenken. Das es jedoch auch schwarze Schafe gibt, die in dein Bild passen, ist auch verständlich. Denn bei einer so breiten Masse an Anhängern und die Präferenz von Nationalisten zur Anhängerschaft erhöht die Wahrscheinlichkeit auf ein Vielfaches, in einer großen Gruppe einige von denen zu entdecken. Es sollte auch darüber gesprochen werden, vor allem, um soetwas gar nicht erst größer werden zu lassen. Aber man sollte diesem Grundgedanken keine ZU große Beachtung schenken, denn erst das Nachdenken darüber keine einige Menschen auf die schiefe Bahn bringen. Es ist auch wichtig, einen gesellschaftlichen Konsens zur Ablehnung aller „verkappten Nazis“ im Sport zu erreichen, um dem Denken den Nährboden zu entziehen. Ich hoffe, dass meine Worte ein wenig Anregung zur Beantwortung deiner Frage gegeben hat.

MfG
Sven

Lieber Sven,

vielen Dank für deine ausführliche Antwort. Ich habe den Titel bewusst etwas provokanter formuliert, sehe es selbst aber anders: ich finde es schön, dass die deutschen Fans so zu ihrer Mannschaft stehen und sehr traurig, wenn versucht wird, diese Fan-Euphorie für Rassismus-Thesen zu instrumentalisieren. Und natürlich gilt das auch für alle anderen Sportarten, ich selbst bevorzuge Handball :wink:

Ein schönes Wochenende
Tina