Hallo Nina,
ich versuche mal eine Erklärung.
Warum würde ein Kind in den meisten Fällen auf pornografische Darstellungen nicht mit Nachahmung reagieren, auf Missbrauch aber mit einer höheren Wahrscheinlichkeit mit Nachahmung?
Die Phase der Doktorspiele liegt viel früher (zwischen 3 und 6 Jahren), bis zur Pubertät sind es (im Normalfall) noch einige Jahre. Kinder in diesem Alter fühlen sich zwar durchaus bereits zueinander hingezogen, die sexuelle Erlebniswelt von Erwachsenen ist ihnen aber fremd. Kinder wollen keinen Geschlechtsverkehr und auch keine eindeutigen sexualisierten Handlungen.
Eine Nachahmung in diesem Alter würde möglicherweise so aussehen, dass sich zwei Kinder aufeinander legen, ruckartige Bewegungen vollführen und heftig stöhnen. Dem Ganzen würde aber ein tieferes Verständnis fehlen, selbst wenn sie grundsätzlich um die Funktion von Geschlechtsverkehr wüssten.
Die geschilderte Situation, die nicht nur eine eindeutige Handlung zeigt, sondern auch mit Zwang im Zusammenhang steht, ist nach meiner Überzeugung nichts, was ein Kind aus Nachahmungsgründen täte. Das Schamgefühl wäre hier mit Sicherheit dazwischen.
Ein Missbrauch hat meist zur Folge, dass das natürliche Empfinden des Kindes gestört ist. Schamgrenzen auf Seiten des Kindes wurden unter Zwang aufgehoben. Das Kind musste Dinge tun, die ihm widerstrebten, ohne die Möglichkeit zu haben, sich dagegen zu wehren.
Das bedeutet, dass das Kind nicht mehr weiß, was falsch und was richtig ist. Sein eigenes Empfinden scheint falsch zu sein, denn der Erwachsene behauptet etwas anderes - z.B. dass das Ganze doch schön/ ganz natürlich…sei. In dieser Verwirrung suchen Kinder oft nach einer Instanz, die die Verwirrung beseitigt, denn ihren eigenen Gefühlen können sie nicht mehr trauen.
Manche Kinder vertrauen sich jemandem an - das sind aber häufig die „starken“, Kinder, die Erwachsene grundsätzlich als hilfreich erlebt haben. Andere Kinder wählen andere Wege, um ihre Verwirrung nach außen zu tragen, indem sie z.B.testen, wie Worte oder Verhaltensweisen von anderen Menschen bewertet werden. Das Zeigen von eindeutig sexualisierten Verhaltensweisen gehört dazu. Wieder andere verletzen sich selbst oder ziehen sich völlig in sich zurück.
Im beschriebenen Fall habe ich den starken Verdacht, dass das Kind die eigene Verletzung nach außen trägt, um herauszufinden, wessen Empfindungen nun richtig sind: Seine eigenen oder die des Täters. Es begibt sich in dessen Rolle und erhofft (eher unbewusst) Erkenntnis darüber, ob dieser sich tatsächlich gut fühlt und wie ein anderes Kind sich in dieser Situation verhält und fühlt.
Gerade ein unangenehmes Erlebnis im wahrsten Sinne des Wortes am eigenen Leibe würde, meinem Laien(!)verständnis zufolge doch erst recht zu Abscheu und Unbehagen und Meidung aller Dinge, die daran erinnern, führen.
Auch das gibt es natürlich. Diese Kinder schweigen, ziehen sich zurück und verletzen sich möglicherweise früher oder später selbst.
Schöne Grüße,
Jule