Hallo,
stell dir vor, du würdest dich mit deiner ganzen Kraft einer Aufgabe widmen und sie würde misslingen. Stell dir vor, du hättest Hunger, Durst, Schmerzen, Angst und könntest dich nicht selbst versorgen.
Und dann stell dir vor, du könntest nicht sprechen und hättest weder Wörter noch Zeichensprache zur Verfügung, um dich anderen mitzuteilen.
Was könntest du tun, um deinen Frust auszudrücken oder deine Bedürfnisse erfüllt zu bekommen?
In exakt dieser Situation befindet sich deine Tochter. Sie entdeckt gerade die Welt und muss dabei feststellen, dass diese nicht immer so funktioniert, wie sie möchte - auch wenn sie sich sehr anstrengt. Gleichzeitig versteht sie nicht, warum ihre Mühe vergebens ist. Das ist frustrierend - nur kann sie weder fluchen noch euch um Erklärung oder Trost bitten.
Alles, was ihr bleibt ist, ihre Gefühle - die sehr verschieden sein können - in Lautäußerungen auszudrücken. Es ist im Augenblick noch die einzige Sprache, die sie hat, und ihrer Entwicklung entsprechend ist sie noch rudimentär und undifferenziert.
Zurück zur Empathie: Was bräuchtest du, wenn du dich in einer vergleichbaren Lage befändest und nur weinen oder quengeln könntest, um dich verständlich zu machen?
Jemanden, der dich zurechtweist? Jemanden, der dich ignoriert oder gar bestraft? Oder jemanden, der sich dir freundlich zuwendet und versucht, herauszufinden, was hinter deiner Äußerung steckt?
Deswegen: Ein Kind, welches noch nicht gut genug nicht sprechen kann, um seine Wünsche, Bedürfnisse, Ängste und Fragen zu formulieren, versucht nicht, die Eltern zu „erziehen“. So weit kann es noch gar nicht denken. Man überlege mal, welch komplexe kognitive Leistung es erfordert, sich zu überlegen, dass die Eltern immer alles machen, was man will, wenn sie jetzt vom Stuhl aufstehen, damit es die wichtige Aufgabe, diesen Stuhl zu bewegen, ausführen kann.
Das Kind hat ja noch nicht einmal Wörter, mit denen es solche Gedanken formulieren könnte.
Natürlich muss es lernen, dass die Welt sich nicht dreht, weil das Kind dies so möchte. Das wird es aber ganz automatisch nebenbei durch all die Erfahrungen, die es Tag für Tag macht. Dabei braucht es freundliche Begleitung, die es unterstützen, in dem, was es ausprobiert und die es trösten, wenn es scheitert.
Das wird ihm Vertrauen geben und die Sicherheit, dass auf die Eltern immer Verlass ist, auch wenn es scheitert.
Natürlich braucht es Grenzen, die ihm Halt und Sicherheit geben. Doch diese sollten in diesem Alter wohl überlegt gezogen werden und seinem Verständnis angemessen sein. Kein Kind wird zum Tyrannen, weil seine Eltern in der Zeit, in der es das noch nicht alleine tun oder angemessen äußern kann, sich bemühen, seine Sprache zu verstehen und seine Bedürfnisse zu erfüllen.
Deshalb: Betrachte Situationen, die dich nerven immer mal wieder aus der Perspektive deines Kindes. Dann wird es dir auch leichter fallen, angemessen auf sein Tun zu reagieren.
Schöne Grüße,
Jule