Moin Carlos,
einen Menschen zu töten ist in unserer Gesellschaft hochgradig sanktioniert. Einen unbewaffneten, wehrlosen Menschen zu töten, der akut niemanden bedroht, womöglich noch aus „niederen“ Beweggründen wie Habgier, Rache etc. gilt als das abscheulichste Verbrechen überhaupt.
Dies ist auch gut so, denn je höher die Hemmschwelle gelegt wird, einen Menschen zu töten, desto mehr können wir unseres Lebens sicher sein. Voraussetzung dafür ist aber, dass das menschliche Leben als höchstens Gut auch glaubhaft geschützt wird.
Erste Risse bekommt dieser Anspruch, wenn das Töten eines Menschen aus gesellschaftlicher Sicht „aus gutem Grund“ eben doch manchmal gestattet ist. Wie kann so ein „guter Grund“ aussehen, der dennoch das Gefüge des Lebens als höchstes Menschenrecht nicht ins Wanken bringt? Diskussionen diesbezüglich gibt es hin und wieder zum Thema, ob es erlaubt sein kann, einen Menschen zu töten, der akut das Leben aderer Menschen bedroht (also quasi eine Notwehsituation), oder ob es erlaubt sein kann, einen Menschen zu töten, wenn dieser selbst darum bittet (aktive oder passive Sterbehilfe). Die Brisanz, mit der diese Themen in unserer Gesellschaft diskutiert werden zeigt, dass das menschliche Leben hier offenbar noch sehr viel gilt, und das ist auch gut so.
Ein Blick über den Tellerand zeigt, dass Todesstrafe vor allem in Ländern praktiziert wird, in denen das menschliche Leben allgemein nicht so viel gilt, z.B. Diktaturen, Staaten die Angriffskriege führen, Staaten mit hoher Kriminatlitätsrate (Mord). Hier bedingt meiner Meinung nach eins das andere. Wenn der Staat durch praktizieren der Todesstrafe vormacht, dass es offenbar „gute Gründe“ geben kann, Menschen zu töten, dann fühlen sich offenbar andere ebenfalls berufen, aus ihren „guten Gründen“ heraus andere Menschen zu töten, insbesondere dann, wenn das nicht sanktionierte staatliche Töten nicht als „gerecht“ empfunden wird. Je mehr getötet wird, desto gewalttätiger wird eine Gesellschaft insgesamt. Je niedriger die Hemmschwelle des Tötens gelegt wird, desto mehr muss jeder um sein Leben bangen. Das die Menschenrechte eines jeden einzelnen hier zunehmend auf der Strecke bleiben, muss man vermutlich nicht extra erwähnen.
Aber die Todesstrafe hat auch noch eine andere Komponente. Wie eingangs erwähnt, gilt das Töten eines wehrlosen Menschen als abscheulichstes Verbrechen überhaupt. Nun ist aber ein Verbrecher, welcher der Todesstrafe zugeführt wird, mit Sicherheit wehrlos. Er kann niemandem mehr etwas antun, er kann sich nicht wehren, es gibt keine akute Bedrohung.
Von wem wollen wir nun verlangen, einen solchen wehrlosen Menschen zu töten, was unter anderen Umständen als abscheuliches Verbrechen gilt, und erwarten trotzdem, dass dieser „Henker“ keinen Schaden an seiner eigenen Menschlichkeit nimmt? Meiner Meinung nach ist dieser Gegensatz nicht zu lösen. In früheren Zeiten begegnete man diesem Konflikt durch Exekutionskommandos. Wo viele schossen, konnte sich jeder zur Beruhigung sagen, ER sei es ja nicht gewesen, der den Wehrlosen erschossen habe. Nun führte das jedoch dazu, dass solche Exekutionen häufig wiederholt werden mussten, unter Qualen des zu tötenden, weil sich niemand dazu durchringen konnte, einen vollständig Wehrlosen zu erschießen.
Wie muss die Psyche eines Menschen beschaffen sein, der es über sich bringt, einen völlig Wehrlosen zu töten? Welches Motiv können wir so einem Menschen an die Hand geben? Rache oder Strafe für die verübten Verbrechen des zu Tötenden? Welche Verbrechen? Wehrlose Menschen zu töten? Oder schlicht und ergreifend Befehlsgehorsam? Töten von Menschen, weil es staatlich befohlen ist? Wollen wir das wirklich? Selbst Menschen, die in akuten Kriegssituationen Menschen töten, sind anschließend häufig hochgradig traumatisiert und kaum in die „Zivilgesellschaft“ wiedereinzugliedern.
Letztendlich kann die Todesstrafe nur zu einer Verrohung der eigenen Gesellschaft führen und somit zu einer Abschwächung des Schutzes des höchsten Menschenrechts, nämlich des Lebens.
Die Todesstrafe ist nicht einfach nur ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit, der Tod des zu Tötenden macht die Gesellschaft nicht besser, kein Leben wird durch seinen Tod gerettet. Todesstrafe ist in erster Linie ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit des „Henkers“ und der Mitglieder der Gesellschaft, in deren Namen dieses Töten stattfindet. So sorgt das Verbrechen (nicht der Verbrecher) noch über den Tod hinaus dafür, dass die Gesellschaft weiter verroht und gewalttätig wird. Wer kann das wollen?
Gruß
Marion