Die Wahrheit suchen und bekennen (sehr lang)
Hallo!
Mein Chef, Prof. Rost vom Leibniz-Institut für die Pädagogik der Naturwissenschaften, hat sich vor Weihnachten ein paar Gedanken zum Thema „Die Wahrheit suchen und bekennen“ gemacht. Er schreibt:
"Die Wahrheit suchen und bekennen
Öffentliches Gelöbnis der jungen Rekruten und Soldatinnen. In Reih‘ und Glied angetreten, Morgenluft, leichter Dunst über dem Kasernenhof, roter Teppich für den neuen Verteidigungsminister im dunklen Wintermantel mit rotem Schal. Sehr zackig sieht er nicht aus. ‚Ich gelobe‘ hallt es. Das Grundgesetz, interpretationswürdig bis nach Karlsruhe. Wissen alle, was sie geloben? Gehorsam.
Szenenwechsel. Audi Max. Nicht in Reih‘ und Glied angetreten sind Doktorandinnen und Doktoranden. Lockere Aufstellung auf dem Podium. Die Dekanin hält eine Rede. Wie heißt noch die weibliche Form von spectabilis? Quatsch, gibt’s nicht. Am besten mit Spektabilität anreden, da sieht doch jeder, dass das geschlechtsneutral ist. Sie sagts vor und alle sprechen
nach : ‚Ich gelobe…‘. Auf der Abschlussfeier eine Stunde später frage ich meine Doktorandin, was sie denn nun gelobt habe. Charme überspielt Betretenheit, Gewitzel gemischt mit dem
Wichtigsten: ‚die Wahrheit…äh…hmm…naja…‘ Ich meine es überhaupt nicht vorwurfsvoll und ergänze ‚…zu suchen und zu bekennen.‘.
Ich ergänze, dass zwischen suchen und bekennen noch das finden kommt, vielleicht die wichtigste Aufgabe eines Wissenschaftlers. Nein, das Wichtigste ist das Bekennen. Von der Wahrheit hat Niemand etwas, wenn es keinen gibt, der sie bekennt. Ich bin stolz darauf, ein Mitglied einer Fakultät zu sein, die den akademischen Nachwuchs darauf verpflichtet, die Wahrheit zu bekennen. Ein Hauch der 68-er weht durch den Raum. Ach ja, der stammt ja noch aus der Zeit, lese ich die Gedanken der mitfeiernden DoktorandInnen. Ist ‚Wahrheit bekennen‘ das Gegenteil von ‚Gehorsam‘? Natürlich ist es nicht das Gegenteil vom Grundgesetz. Im Grundgesetz steht zwar nichts, was wahr oder falsch sein könnte, sondern was gut oder schlecht ist, und wir alle sind verpflichtet, es zur Geltung zu verhelfen, also wahr
zu machen.
Aber da sind wir wieder bei der Wahrheit. Ich brauche in der Vorlesung ca. 6 Stunden um den Studierenden klar zu machen, dass es keine Wahrheit gibt. Wissenschaft ist ein Gebäude von
Aussagen und ob eine einzelne Aussage wahr ist, lässt sich nicht entscheiden. Allenfalls, ob sie falsch ist, meinte Sir Karl Popper – zumindest in seiner Jugend. Heute sind wir schlauer:
Alles was wir wissen, sind Konstruktionen in unserem Geist (um nicht zu sagen: Hirn). Man nennt das den Konstruktivismus. Konstruktionen können nicht wahr oder falsch sein, sie
können mehr oder weniger kollektiv sein, das heisst mit den Konstruktionen anderer Leute (Wissenschaftler) übereinstimmen. Sie können auch mehr oder weniger brauchbar sein, mehr oder weniger komplex oder einen grösseren oder kleineren Anwendungsbereich haben. Aber auf was – um Alles in der Welt – verpflichten wir dann unsere Doktorandinnen? Doch bitte
nicht auf ‚die‘ Wahrheit!
Mich beschleicht das peinliche Gefühl, auf etwas stolz gewesen zu sein, was doch nun wirklich erzreaktionär ist: die Wahrheit. Haben wir nicht alle gelernt, dass die Wahrheit für
die Arbeiterklasse eine andere ist als für die Herrschende Klasse? Mein Magen krampft sich zusammen. Habe ich das, was ich in der Lehre vertrete, so wenig in Einklang gebracht mit
meinem Alltagsdenken, z.B. bei der Bewertung von Sonntagsreden? Sollte ich meine venia legendi zurückgeben? Muss ich schweigen bis ich wieder weiss, was oben und unten ist? Kalter Schweiss auf der Stirn. Was sollen denn nun die Doktoranden bekennen? Das, was sie für wahr halten? Um Gottes willen. Ein Heer von redseligen Bekennern unausgegorener Halbwahrheiten, pardon: Halbweisheiten.
Man könnte doch das Gelöbnis konstruktivistisch umformulieren: Ich gelobe, das zu bekennen, was ich in Übereinstimmung mit anderen Wissenschaftlern für brauchbar halte…? Mein Gott, es geht doch nur darum, die nachwachsende Generation auf ein bischen kritisches Bewusstsein zu verpflichten, damit wir in unserem Rentenalter nicht von angepassten, karrieregeilen Ja-Sagern regiert werden. Und da sollen wir sie darauf verpflichten, das zu denken, was die meisten anderen auch denken? Das was Popper schweren Herzens als ‚Konsensprinzip‘ in die Wissenschaftstheorie einführen und damit adeln musste, soll nun zum Gegenstand des akademischen Eides werden und das kritische Bewusstsein der Intelligenzia tradieren? Konsensprinzip, sozialer Konstruktivismus, radikaler Konstruktivismus – mehr eine Teufelsspirale als der Pfad zur Erleuchtung.
Mir schwindelt. Ich sehne mich auf den Kasernenhof zurück, da weiss man wenigstens, was man gelobt. Also, mal ganz von vorne. Die Funktion der akademischen Schicht in unserem Staate ist die, klaren Verstandes, unabhängig von Vorurteilen und unbewiesenen Tatsachen innovativ und kreativ zu wirken und dabei ein Antagonist zur Verselbständigung der Macht zu sein. Man könnte sie also auch gleich darauf verpflichten, den Geist des Grundgesetzes zu verwirklichen, Freiheit, Gleichheit, Brüderlich… . Also in Zukunft ein gemeinsames Gelöbnis
von Rekruten und Doktorandinnen?
Ich merke es schon selber: Ich tue dem Konstruktivismus Unrecht. Was könnte liberaler sein als die Lehre, dass jeder denken kann, was er oder sie will, dass es kein wahr und falsch mehr gibt, und dass man seine Gedankenkonstruktionen in den Diskurs mit Leuten einbringt, die an derselben Thematik arbeiten. Anything goes aber erst mal muss ausdiskutiert werden, was das beste ist; sofern man dieselbe Sprache spricht (was bei radikalen Konstruktivisten nicht immer der Fall sein soll). Also könnte man die Jungakademiker doch darauf verpflichten, dieselbe Sprache zu sprechen.
Einen Moment lang spüre ich eine inneres Glücksgefühl aufkeimen: das ist es! Mit einer gemeinsamen Sprache ist allen geholfen. Der öffentliche Diskurs ist gewährleistet, jeder ist
angehalten, seine Position zu verteidigen, die Konstruktivisten können wieder miteinander reden und die Wissenschaft wird befördert. Ist doch Wissenschaft – wie eingangs erwähnt –
nichts anderes als eine Ansammlung von Aussagen. Und wenn diese schon nicht wahr oder falsch sein können, so müssen sie wenigstens verstehbar und diskutierbar sein.
Erschöpft und befriedigt lehne ich mich zurück. Der akademische Eid ist gerettet. Jeder möge geloben, nur solche Dinge von sich zu geben, die andere verstehen und mit-diskutieren können. Welch eine paradiesische Vorstellung. Keine 300 Seiten langen Dissertationen mehr, sondern nur 50-seitige; keine quälenden Gutachten mehr, die nur diejenigen verstehen, die die Arbeit ohnedies gelesen haben; kein gestelztes Gespreize von Federn mehr, sondern Klartext. Ich gelobe, in Zukunft das, was ich für wahr halte, so zu kommunizieren, dass andere Leute die Chance haben zu erkennen, dass vielleicht doch nicht alles ganz so wahr ist … ähh…oder so ähnlich."