Ein Indologe über Nagarjunas Wahrheitsbegriff
Hi.
Der Vollständigkeit halber will ich die Ankündigung einlösen und hier das Statement eines Experten zum Thema Wahrheitsbegriff bei Nagarjuna zitieren (mit seinem ausdrücklichen Einverständnis). Über den Autor finden sich Infos unter:
http://www.buddha-heute.de/index.htm
Das folgende Zitat habe ich zwei Mails des Autoren an mich entnommen.
"Bei allen Fragen in Bezug auf Nagarjuna muss in erster Linie das ins Auge gefasst werden, was Nagarjuna selbst gesagt hat, ohne zu vorschnellen Schlüssen in die eine oder andere Richtung zu kommen. Ich kenne die verschiedenen Standpunkte in der Diskussion nicht näher.
Für Ihren spezifischen Streitpunkt sind in jedem Fall folgende drei Kernverse Nagarjunas relevant (Kapitel 24: Vers 8, 9, 10, in der eigenen Übersetzung):
„Der Dharma des Buddha beruht auf den beiden Wahrheiten:
der konventionellen Wahrheit der Welt
und der Wahrheit in Bezug auf
den höchsten Zweck.“
„Wer die Abgrenzung zwischen diesen beiden Wahrheiten nicht erfasst,
versteht nicht das tiefgründige Prinzip
in der Botschaft des Buddha.“
„Ohne vom Konventionellen auszugehen, wird der höchste Zweck nicht gelehrt.
Ohne ganz zum höchsten Zweck gekommen zu sein,
wird das Verlöschen (Nirvâna) nicht realisiert.“
Vom Standpunkt dieser Verse gibt es also einen engen Zusammenhang zwischen der konventionellen und der höchsten Wahrheit (genauer gesagt: der Wahrheit in Bezug auf den höchsten Zweck):
Resümee von Vers 8: Beide sind gleichberechtigte Pfeiler des Dharma des Buddha.
Resümee von Vers 9: Das Verstehen der Abgrenzung (Vers 9: vibhâgam), damit aber auch der „Nahtstelle“ bzw. des Zusammenhangs zwischen diesen beiden Wahrheiten, ist das Tor zum Kern der Lehre des Buddha.
Resümee von Vers 10: Der höchste Zweck ist ohne Einbeziehung des Konventionellen nicht zu vermitteln. Der höchste Zweck muss vermittelt und umgesetzt werden, um Freiheit zu realisieren. Damit ist für Freiheit das Konventionelle unabdingbar.
In diesem Sinne transzendiert die höchste Wahrheit nicht Begriffe oder Konzepte. Diese Sicht stammt aus bestimmten Richtungen des späteren Buddhismus, nicht von Nagarjuna selbst. Außerdem impliziert „Wahrheit in Bezug auf den höchsten Zweck“ (Vers 8: satyam paramârtha-tah), dass es eine auf konventionellen Begriffen beruhende Wahrheit ist, die sich nur auf den höchsten Zweck bezieht. Laut Nagarjuna liegt diese Wahrheit also nicht jenseits von Begriffen; sondern lediglich das, worauf sie sich bezieht, liegt jenseits von Begriffen.
Praktizierende des Dharma in der Tradition Nagarjunas müssten also heutige Wahrheitstheorien daraufhin untersuchen, inwieweit sie sich auf den höchsten Zweck beziehen, diesen höchsten Zweck durch klare Begrifflichkeit überzeugend vermitteln können und auch die innere Praxis, um „ganz zum höchsten Zweck zu kommen“ (Vers 10). In diesem Sinne gibt es klare Unterschiede zwischen den verschiedenen Wahrheitstheorien.
Laut dem Palikanon hat der Buddha die verschiedenen Wahrheitstheorien seiner Zeit genau unter die Lupe genommen und zwischen ihnen begründet wertend unterschieden. „Treffliche Sicht“ im Unterschied zu verfehlter Sicht galt ihm ja als das wichtigste Glied des Achtfachen Pfades zur Befreiung.
Nagarjunas „konventionelle Wahrheit der Welt“ steht in keinem Kontext, in dem es um Befreiung geht. Es handelt sich hierbei um andere Wahrheitsaussagen, die sich mit den verschiedenen so genannten „weltlichen Wahrheiten“ befassen. „Wahrheit in Bezug auf den höchsten Zweck“ dagegen steht in einem Kontext, in dem es um die höchste Befreiung im Sinne der Lehre des Buddha geht. Beide Wahrheiten beruhen jedoch auf konventionellen Begriffen (jener besagten „Nahtstelle“ zwischen ihnen), sie haben bloß unterschiedliche Bezugspunkte.
Der Bezugspunkt der letzteren Wahrheit, also jener „höchste Zweck“ (das „Unbedingte“ des Nibbâna), ist unfassbar - nicht die Wahrheit, die ihn andeutet und laut Nagarjuna aufgrund ihrer Abhängigkeit von konventionellen Begriffen „vom Konventionellen ausgeht“ (Ch. 24, Vers 10).
Auf dieser Ebene - das heißt der Ebene der den höchsten Zweck andeutenden, ihn zu vermitteln suchenden Wahrheit - sind vielmehr klare begriffliche Unterscheidungen notwendig, wie sie der Buddha selbst gemacht hat, um „ganz zum höchsten Zweck“ kommen zu können (Ch. 24, Vers 10). Nagarjunas Hauptwerk ist ein weiterer Paradefall solcher Unterscheidungen.
Nagarjuna hat nicht folgende Auffassung des späteren Buddhismus gelehrt, die Sie (also H.Tr.) zitieren:
„paramartha-satya - ‚ultimate truth, absolute truth‘. Since this third level can neither be conceptual nor discursive, it is a truth which is inconceivable and inexpressible.“
Die Vorstellung von einer unfassbaren, damit letztlich unüberprüfbaren „absoluten Wahrheit“ ebnet der Willkür die Bahn. Denn dann gibt es zwangsläufig auch kirchenähnliche Verwalter bzw. Besitzer dieser Wahrheit, die zu hinterfragen gleichsam ein Frevel sei, denen gegenüber vielmehr „Hingabe an den Guru“ geboten sei. Dies ist nicht der Geist der Lehre Buddhas oder Nagarjunas, die ausführliche Anweisungen zu kritischer Untersuchung von Wahrheitsansprüchen absoluter Art gegeben haben.
Nagarjuna spricht im entscheidenden Vers zu den beiden Wahrheiten von „satyam paramârtha-tah“, das heißt eben wörtlich „Wahrheit in Bezug auf den höchsten Zweck.“
Zitat Ende.
Gruß
Horst