Hallo zusammen,
ich nehme den unterstehenden Thread mal zum Anlass, eine Frage weiterzuverfolgen, die sich mir beim Lesen der Beiträge gestellt hat:
Warum nehmen manche Menschen bestimmte Formen körperlicher Übergriffe anders wahr als andere?
Ich habe z.B. den Schubser der Nachbarin als nicht besonders schlimm bewertet und fand es stattdessen schlimmer, dass die Kinder das nicht unter sich regeln konnten. Dennoch halte ich Schläge keineswegs für ein angemessenes Erziehungsmittel. Andrerseits fände ich wiederum unter Umständen eine Ohrfeige weniger schlimm als psychische Gewalt in Form von z.B. Liebesentzug (Nicht mehr mit dem Kind reden oder ihm gar sagen „Jetzt hat die Mama dich nicht mehr lieb!“) oder emotionaler Erpressung („Du machst die Mama ganz traurig“ oder „Da kann die Mama gar nicht mehr schlafen“.).
Das Folgende bitte ich nicht als Verklärung paradiesischer Zustände zu betrachten. Abgesehen davon, dass diese keineswegs immer paradiesisch waren, soll die Schilderung nur dazu dienen, die eigene Geschichte zu verdeutlichen, aus der sich meine heutige Betrachtungsweise entwickelt hat.
Ich selbst bin in einem sehr liebevollen Elternhaus aufgewachsen, bezog aber - wie auch meine Geschwister - durchaus gelegentlich eine Tracht Prügel von meinem Vater. Der war wiederum keineswegs unbeherrscht, und wir Kinder konnten genau einschätzen, wann ein Vergehen unsererseits dazu führen würde, den Allerwertesten versohlt zu kriegen. Natürlich waren wir nicht scharf darauf - aber es gab durchaus Situationen, in denen wir diese Strafe billigend in Kauf nahmen, weil das, was wir anstellen wollte, uns das wert war. Es hat weh getan und wir haben geheult - aber danach war es vorbei und keiner hat etwas nachgetragen. Bei unseren Freunden war das ebenso, und wir haben auch darüber geredet.
Doch auch hier gab es Ausnahmen: Ein Junge aus unserer Nachbarschaft wurde von seinem Vater regelrecht misshandelt. Er war oft grün und blau geschlagen und konnte manchmal tagelang kaum gehen oder sitzen. Wir wussten das, aber er wollte nie weiter darüber sprechen und nickte nur, wenn wir fragten, ob sein Vater wieder durchgedreht hätte. Wir nahmen öfter mal die Schuld für seine Vergehen auf uns, um ihm zu helfen, aber meist nützte das nichts.
Und hier ist sehr deutlich die Kehrseite der Medaille zu erkennen: Die Normalität körperlicher Gewalt in der damaligen Zeit verhinderte, dass Erwachsene sich eingemischt und diesem Jungen geholfen haben. Sie unterstützten ihn übrigens durchaus: Er kriegte öfter Süßigkeiten zugesteckt oder wurde während der Ferien wochenlang auf dem Nachbarhof als „Helfer“ angestellt (sie selbst hatten keine Landwirtschaft), was bedeutete, dass er pro forma den Hof fegte und ansonsten den ganzen Tag von zuhause weg sein konnte. Der gewalttätige Vater blieb ihm dennoch.
Untereinander haben wir uns gelegentlich geprügelt und wieder vertragen, aber wenn einer in Not war, stand die ganze Mannschaft an seiner Seite. Einen Streit unter uns hätten wir niemals unseren Eltern erzählt. Das war unsere Sache, die wir unter uns regelten, und die unsere Eltern wohl auch kaum interessiert hätte.
Ebenso verhielt es sich mit anderen Erwachsenen. Wenn wir jemanden geärgert hatten und erwischt wurden, waren wir heilfroh, wenn dieser uns bestrafte, aber unseren Eltern nichts sagte. Das hätte erneutes Nachhaken und eventuell weitere Strafen bedeutet. Selbstredend gab es dabei sicherlich Situationen gab, wo ein elterlicher Schutz angebracht gewesen wäre - aber das kam damals weder im kindlichen noch im erwachsenen Verhaltenskodex vor.
Es gab auch ein Mädchen, dessen Mutter immer auf den Plan trat, wenn wir Streit hatten. Sie forderte uns dann auf, ihre Tochter nicht mehr zu ärgern oder zu beleidigen (was wir zu Anfang nicht häufiger taten als mit allen anderen von uns). Das Einmischen der Mutter führte dazu, dass wir mit dem Mädchen nichts mehr zu tun haben wollten. Sie wurde nach und nach aus der Gruppe gedrängt. Heute würde man das wohl „gemobbt“ nennen. Ich denke, dass ab da keine elterliche Einmischung mehr hätte bewirken können, sie wieder aufzunehmen. Wir verfolgten sie nicht - aber dabei haben wollten wir sie nie mehr.
Und ja: Auch bei andern Erwachsenen fingen wir uns hin und wieder eine Ohrfeige ein oder wurden dazu verdonnert, den Garten umzugraben oder den Stall auszumisten. Das führte dazu, dass wir manche von ihnen mieden, manche aber auch erst recht ärgerten. Wir trugen das aber immer mit uns alleine aus. Wir lernten die unterschiedlichsten Verhaltensweisen kennen und wir lernten einzuschätzen, wann man Menschen besser aus dem Weg ging und wann man ihnen vertrauen konnte.
Und genau das ist es, was mich auch heute noch daran festhalten lässt, dass ich elterliche Einmischung in Auseinandersetzungen von Kindern nur in Ausnahmefällen für sinnvoll halte. Natürlich bedeutet das für Kinder auch Ärger, Stress und Angst. Gleichzeitig macht die Erfahrung, damit fertigzuwerden aber auch unglaublich stark. Ich bin der Überzeugung, dass es kontraproduktiv für die Entwicklung eines Kindes ist, Angst, Ärger und Stress weitestgehend von ihm fern zu halten. Es kann weder Resilienz entwickeln noch Selbstwirksamkeit entdecken, wenn die Eltern stets mit flammendem Schwert für die (gefühlten) Rechte ihres Kindes eintreten.
Bei meinen eigenen Kindern habe ich das ähnlich gehandhabt - mit einer Ausnahme: Ich habe sie nie geschlagen. Und das wiederum führt mich zu der Erkenntnis, dass körperliche Erziehungsmittel schlicht und ergreifend nicht notwendig sind. Die Tatsache, dass ich selbst sie nicht als erfolgreich bewertet habe, lässt den Rückschluss zu, dass ich diese eigene Erfahrung unangenehm genug war, um sie nicht weitergeben zu wollen (wie übrigens auch keines meiner Geschwister).
Auch meine Kinder haben die Erfahrung gemacht, dass mit manchen (erwachsenen) Zeitgenossen nicht gut Kirschen essen ist und haben ihre eigenen Konsequenzen daraus gezogen.
Und nun interessiert mich sehr, warum eure Bewertungen zum Teil so anders sind.
Schöne Grüße,
Jule