Scham, Gewissen, Nationalismus (langer Text)
Lieber Jakobias,
danke für deine Antwort, auf die ich meinerseits gerne ausführlich antworte, in der Erwartung, auch bei widerstreitenden Ansichten mit persönlicher Achtung behandelt zu werden.
Darüber hinaus würde es mich natürlich freuen, wenn du vielleicht etwas von meiner grundsätzlich andersartigen Denkweise zumindest auch als bedenkenswert ansehen könntest.
Ich finde zunächst einmal, dass es dich ehrt, dass du Scham ob der Nazi-Verbrechen empfindest, das sage ich natürlich nicht, weil ich sie, wie gesagt, auch empfinde.
Ich halte jedoch zwei Unterscheidungen für wichtig, die ich in deinen Überlegungen nicht oder nur undeutlich finde:
- Eli hatte nicht nur von Scham gesprochen, sondern von schlechtem Gewissen. Meine Antwort darauf: Scham empfindet jeder moralisch intakte Mensch angesichts von solchen unmenschlichen Verbrechen, die ja aber in Wirklichkeit leider nicht unmenschlich, sondern eben menschliche sind, das ist es nämlich, wodurch wir uns dafür schämen, was Menschen anderen Menschen antun können, im Namen von wem oder was auch immer.
Die Mörder sind nicht nur unter uns, wie der Titel eines frühen BRD-Films über die Nazi-Verbrechen lautete, sondern sie gehören leider zu uns, und zwar in der beschämenden Weise, dass sie uns das Böse vorführen, zu dem wir als Menschen fähig sind.
Man kann sich das vergegenwärtigen und in Scham versinken, und solche großartigen politisch-philosophischen Denker, wie Günter Anders oder Hannah Arendt mit ihrer vielgescholtenen, bei der Beobachtung des Eichmann-Prozesses gewonnenen, Einsicht von der „Banalität des Bösen“ können einem dabei die Augen öffnen, oder man kann, was die Regel und die leichtere Variante ist, das Böse dämonisieren und so als das ganz andere von sich weg definieren.
Nun kann man bei Günter Anders den Hinweis finden, dass wir uns merkwürdigerweise gerade für das schämen, wofür wir nichts können (z.B. für eine körperliche Missgestalt), wogegen ein schlechtes Gewissen uns das sagt, was wir selber moralisch falsch gemacht haben. Insofern ist, wie ich vermerkte, ein schlechtes Gewissen nur für Täter angebracht, die es aber leider vielfach vermissen lassen. Alle anderen sollten sich ein solches auch nicht einreden lassen, auch nicht von Steine werfenden Ausländern, die ihre eigenen Gründe dafür haben, das Böse im Deutschen dämonisieren zu müssen, und auch nicht von Lehrern, die kommentarlos zwölfjährigen Leichenberge-Filme vorführen, und die man m.E. dafür fristlos entlassen müsste.
Doch, ich habe solche Erlebnisse auch gehabt, jedoch bezeichnenderweise in abgeschwächter Form, im Vergleich zu deinen Schilderungen. Es muss einem doch zu denken geben, dass die deutschfeindliche Attitüde im Ausland bei den Enkeln der Betroffenen größer ist als bei den Kindern.
In der Generation der unmittelbar Betroffenen war die Attitüde ja noch verständlich, zumal es so sensible Leute gab, die, wenn sie in den 50ern mit Franzosen zusammentrafen, stolz berichteten, wo sie da im Krieg gewesen sind, was natürlich eine Französin, die z.B. durch ebendiesen Krieg einen Mann und einen Sohn verloren hatte, sehr herzlich erfreute.
Allerdings gab es, wo du auch Persönliches berichtest, auch folgendes: Mein Vater war ein in Deutschland lebender Holländer und während des Krieges als Häftling in einem Nazi-Straflager und ist gleichwohl nach dem Krieg in Holland als Nazi beschimpft worden, womöglich von Leuten, die den Tätern viel näher standen als ausgerechnet er.
Meine Generation war in der Jugend die Generation, die Aussöhnung auf ihre Fahnen geschrieben hatte, die Generation der deutsch-französischen Jugendlager und der Kibbuzim-Helfer von Aktion Sühnezeichen. Und ich finde zwar, dass der deutsche Staat und die Industrie Entschädigungsverpflichtungen haben, dachte aber nie und denke auch heute nicht daran, mir die Verbrechen anderer, ob sie nun wie ich deutsch, katholisch oder sonst was waren, aufs Konto schreiben zu lassen.
Im Gegenteil: Wenn ich dazwischen gehe, wo eine Frau in Frankreich auf erbarmungswürdige Weise ihr kleines Kind misshandelt, und sie mich als „Boche“ beschimpft, antworte ich selbstbewusst: „Nein, nicht ich, Du!“
Und ich finde auch und gerade, dass die Enkel- und mittlerweile z.T. Urenkel-Generation weder das Recht hat, als Holländer oder Dänen Deutsche als solche zu missachten oder gar zu misshandeln, noch es geboten ist für Deutsche, sich solche nationalistischen Diskriminierungen noch mit „mea culpa“ - Klopfen an die Brust anzuziehen, was dann noch den wiederum nationalistischen Gegeneffekt hat, dass sich immer mehr trotzig dagegen auflehnen und in ein dumpfes „Ich bin stolz, Deutscher zu sein“ einstimmen.
In Freundschaft
Oranier