Nagarjuna missverstehen
Hallo Marion, hallo Horst.
Die Diskussion über Nagarjuna scheint ja nun gründlich gescheitert - trotzdem möchte ich den Versuch machen, noch etwas möglicherweise Hilfreiches zu dem Thema beizusteuern. Vorweg - auch mir scheint Nagarjunas Konzept der ‚zwei Wahrheiten‘ von Horst gründlichst missverstanden. Über mögliche oder unmögliche Querbezüge zu Lacan, Habermas, Wilber und Konsorten schweige ich mich lieber aus - das interessiert mich auch herzlich wenig.
Um Nagarjuna zu verstehen, bedarf es dreier Voraussetzungen. Zunächst wäre da eine gründliche Kenntnis buddhistischer Doktrin - also der ‚konventionellen Wahrheit‘. Dies betrifft u.a. die vier edlen Wahrheiten (aryasatya), das skandha-Modell, die Seinsmerkmale (trilakshana, damit verbunden wenigstens Grundzüge der dharma-Theorie) und insbesondere das bedingte Entstehen (pratityasamutpada). Genau darum geht es nämlich bei Nagarjuna, um eine korrekte Ausdeutung und ein korrektes Verständnis dieser Lehrsätze - nichts anderes.
Zum anderen wäre Voraussetzung eine solide buddhistische Praxis, also Schulung in vipashyana/prajnaparamita (‚Einsicht‘) - das intellektuelle Nachvollziehen der Argumente Nagarjunas ist bestenfalls die halbe Miete. Drittens - eigentlich selbstverständlich - sollte man Nagarjuna selbst lesen, nicht Bücher ÜBER ihn.
Da bietet sich vor allem Nagarjunas zentrales Werk, die Mulamadhyamakakarika (im weiteren MMK genannt) an, für das verschiedene Übersetzungen voliegen. Ins Englische von Streng (1967), Inada (1970), Sprung (1979) und Kalupahana (1986). In Deutsch liegt die sehr brauchbare Übersetzung von Weber-Brosamer/Back (1997) vor. Hinzu kommt Garfields (englische) Übersetzung des dBu-ma rtsa-ba shes-rab, der tibetischen Übersetzung der MMK. Weber-Brosamer/Back und Garfield stellen dabei gewissermaßen Extrempositionen dar; während erstere der Versuch einer ‚voraussetzungslosen‘ Übersetzung ist, also die Rezeptionsgeschichte der MMK ignoriert, ist Garfields Übersetzung (und Kommentierung) erklärtermaßen eine Darstellung der MMK aus Sicht der tibetischen Tradition der Prasangika-Madhyamika (daher auch folgerichtig die Wahl des tibetischen Textes als Vorlage). Die Prasangika-Madhyamika-Tradition beruht auf den klassischen Kommentaren Buddhapalitas und vor allem Candrakirtis (das Prasannapada, durch den auch das Sanskrit-Original der MMK in Form von Zitaten auf uns gekommen ist) und stellt eine Gegenposition zur Interpretation des Svatantrika-Madhyamaka dar, die auf Bhavavivekas Interpretation der MMK fußt. Es existieren bzw. existierten noch andere (weniger bedeutende) Strömungen des Madhyamaka; die Prasangika-Schule kann mE als ‚mainstream‘ gelten.
Der Sanskrittext der MMK (zusammen mit Candrakirtis Prasannapada) wurde 1903-1913 von de la Vallée-Poussin herausgegeben (Reprints Osnabrück 1970, Delhi 1992), eine von de la Vallée-Poussin nicht berücksichtigte nepalesische Handschrift 1977 durch de Jong sowie zwei tibetische und drei chinesische Versionen zusammen mit dem Sanskrittext (und japanischen Übersetzungen) durch Saigusa 1985 - dies nur der Vollständigkeit halber.
Wenn man von späteren Traditionen der Interpretion von Nagarjunas Denken absehen möchte (wofür es sicher gute Gründe gibt), so doch ist auf jeden Fall noch Nagarjunas Autokommentar zu den MMK beachtenswert, die Akutobhaya (auch Madhyamika-shastra genannt, im weiteren als MS bezeichnet). Der Text ist nur in einer tibetischen und einer chinesischen Übersetzung (durch Kumarajiva) überliefert, die z.T. deutlich differieren, was angesichts der Probleme einer Übertragung vom Sanskrit speziell ins Chinesische nicht überrascht. Beide Texte wurden durch Walleser ins Deutsche übersetzt (der tibetische 1911, der chinesische 1912). ME ist auf Grund größerer Klarheit dem tibetischen Text der Vorzug zu geben; darüber hinaus waren tibetische Übersetzer (im Unterschied zu den Chinesen) generell bei der Übertragung von Fachtermini bemerkenswert konstant, so dass die tibetische Übersetzung zumindest in Bezug auf die verwendeten termini technici eine Teilrekonstruktion des verlorenen Sanskrit-Originals erlaubt. Walleser gibt diese Sanskrit-Termini in seiner Übersetzung dankenswerterweise mit an.
Ich werde im folgenden die MMK nach Weber-Brosamer/Back zitieren, das MS nach Wallesers Übersetzung der tibetischen Version.
Das Konzept der ‚zwei Wahrheiten‘ wird in den MMK erst relativ spät behandelt, nämlich in Kapitel 24 (von insgesamt 27, wobei die Echtheit der letzten beiden Kapitel strittig ist). Beachtenswert ist hier der Kontext des Kapitels - es trägt den Titel ‚Satya‘, Wahrheiten, doch sind damit eben NICHT die ‚zwei Wahrheiten‘ gemeint, sondern die buddhistische Kerndoktrin der ‚vier edlen Wahrheiten‘. Das Kapitel eröffnet mit dem Einwand, Nagarjunas negative Dialektik und seine Rückführung aller dharmas (Seinsmomente) auf die Leerheit (sunyata) sei nihilistisch und entwerte zwangsläufig auch die buddhistische Doktrin (deren einfachste Formel die ‚vier edlen Wahrheiten‘, aryasatya, sind). Nagarjunas Entkräftung dieses Einwand ist zweifach - nach ihm beruht dieser auf einem doppelten Missverständnis, nämlich einem in Bezug auf die Funktion von ‚Leerheit‘ und einem in Bezug auf die Bedeutung dieses Begriffs.
[MMK 24.7] … Weder weißt du, warum über Leerheit gesprochen wird (sunyatayam … prayojanam), noch kennst du die Leerheit selbst, noch verstehst du ihre Bedeutung. …
Das Konzept der ‚zwei Wahrheiten‘ wird nun entwickelt, um die Funktion der sunyata-Lehre zu verdeutlichen:
[MMK 24.8] Bei der Verkündigung des Dharma haben sich die Buddhas auf die zwei Wahrheiten gestützt: Die eine ist die weltliche, ‚verhüllte Wahrheit‘ (samvrtisatya), die andere ist die ‚Wahrheit im höchsten Sinne‘ (paramarthasatya).
[MMK 24.9] Diejenigen, die den Unterschied der beiden Wahrheiten nicht erkennen, die erkennen auch nicht die tiefe Wahrheit (tattva) in der Lehre Buddhas. [Walleser übersetzt ‚tattva‘, eigentlich ‚Dasheit‘, mit ‚Beschaffenheit‘]
[MS] Der erhabenen Buddhas Dharmalehre entsteht abhängig (asritya) von diesen zwei Wahrheiten. Die ‚weltliche verhüllte Wahrheit‘: ohne bei den an sich (svabhavatah) leeren dharmas (Objekten) weltliche Verkehrtheit anzunehmen (laukika-viparyasa-anadighamat) alle dharmas als entstanden zu betrachten, das ist, weil es eben bei diesen verhüllte Wahrheit ist, verhüllte Wahrheit (samvrti-satya). ‚Wahrheit des höchsten Sinnes‘: die Edlen (arya), welche durch untrügliches Erkennen (aviparita-avabodha) alle dharmas (Objekte) als unentstanden erschauen, weil bei denen dieses Wahrheit des höchsten Sinnes ist, ist es Wahrheit des höchsten Sinnes. Diejenigen, welche den Unterschied, der verhüllten und der des höchsten Sinnes, nicht verstehen, verstehen nicht die tiefe Beschaffenheit (tattva) der Buddhalehre.
Hier erscheint es mir sinnvoll, zunächst auf den Begriff der samvrtisatya - weltliche, ‚verhüllte Wahrheit‘- etwas einzugehen. Hier gilt - wie grundsätzlich für jede Übersetzung - dass durch die Übertragung in eine andere Sprache Reibungsverluste auftreten. ‚samvrtisatya‘ wird gelegentlich mit ‚konventionelle Wahrheit‘ wiedergegeben, was zwei Aspekte des Begriffs samvrtisatya hinreichend abdeckt - den einer gewöhnlichen, alltäglichen Wahrheit (Wahrheit im gewöhnlichen/üblichen Verständnis) sowie den auf Übereinkunft (sprachlicher Konvention) beruhenden. Hinzu kommt im Sanskrit als dritter Aspekt der des ‚Verhüllens‘, hier eigentlich eher im Sinne des ‚Umhüllens‘. Candrakirti verwendet in seinem Kommentar etwas Mühe auf drei unterschiedliche Etymologien und damit Verstehensweisen des Begriffs. ‚Samvrti‘ kann ‚verbergen‘ bedeuten, es kann gegenseitige Abhängigkeit bezeichnen und es kann Abhängigkeit von sprachlicher Übereinkunft bedeuten. Letzteres entspricht ‚vyavahara‘ - auf dieses ‚vyavahara‘ werden wir im nächsten Vers der MMK stoßen. Im Moment geht es mir hier eher um den Aspekt des Ver-/Umhüllens. Das, was hier verhüllt wird, ist natürlich nichts anderes als die Leerheit der abhängigen Begriffe - durch die ‚Hülle‘ gewinnt die Leerheit eine kommunizierbare Gestalt. Zwangsläufig kommt einem hier die berühmte Passage des Prajnaparamita-Hrdya-Sutra (dort freilich auf die skandhas bezogen) in den Sinn: rupam shunyata shunyataiva rupam, rupan na prthak sunyata sunyataya na prthag rupam - Form ist Leere, Leere ist Form usw. usf.
Ganz wesentlich gilt es hier zu verstehen, dass von zwei WAHRHEITEN die Rede ist, nicht von einer ‚minderen‘ und einer ‚höheren‘ Wahrheit. Samvrtisatya ist nicht weniger wahr als paramartha-satya - insofern ist auch das Reden von zwei Ebenen nur irreführend - es gibt keine niedere und keine höhere Ebene - und schon gar keine „absolute“ (dazu Näheres später); beide Wahrheiten sind Komplemente. Zur Erinnerung: im Kommentar heisst es, dass die Lehre Buddhas sich aus BEIDEN Wahrheiten speist.
Vor allem jedoch ist samvrtisatya ein soterologisch notwendiges Komplement von paramartha-satya - und hier zeigt sich, dass Nagarjuna ein religiöser Denker ist, kein Philosoph. Es geht ihm um die didaktische Funktion der samvrtisatya, um ihre befreiende Wirkung im Sinne des buddhistischen Heilszieles:
[MS] Wenn da (jemand) meint: „Wenn der Sinn, der mitzuteilen gewünscht wird (vaksyamano rthah), (nämlich) daß alle dharmas ohne Entstehen sind, Wahrheit des höchsten Sinnes ist, welchen Zweck hat diese zweite, gewöhnliche Wahrheit (vyavahara-satya)?“, so ist hier zu antworten (vaktavya):
[MMK 24.10] Ohne sich auf die Anwendung [der Worte] (vyavahara) [sic!] zu stützen, kann die Wahrheit im höchsten Sinne nicht gezeigt werden; und ohne zur Wahrheit im höchsten Sinne vorgestoßen zu sein, wird Nirvana nicht erlangt.
[MS] Weil unabhängig von der gewöhnlichen (Wahrheit) der höchste Sinn nicht gelehrt werden kann, und weil unabhängig vom höchsten Sinn das nirvana nicht erreicht wird, deshalb hat die Kenntnis der zwei Wahrheiten einen Zweck.
[MMK 24.11] Die falsch aufgefasste Leerheit richtet den, der von schwacher Einsicht ist, zugrunde - wie eine schlecht ergriffene Schlange oder falsch angewandte Magie.
Freilich sollte man sich hier vor dem Missverständnis hüten, Erfassen der samvrtisatya sei hinreichende Bedingung zur Erkenntnis von paramartha-satya und somit zur Erlangung von Nirvana. So wie die zwei Wahrheiten Komplemente sind, sind (korrekte) intellektuelle Erkenntnis und Erleuchtung Komplemente, so wie paramartha-satya eine kommunizierbare Gestalt durch samvrtisatya erhält, so erhält samvrtisatya Be-Deutung (Deuten auf paramartha-satya) erst durch die konkrete, unmittelbare und nicht kommunizierbare Erfahrung der paramartha-satya. Sie stellt den bedingenden Zusammenhang her.
Diese Erfahrung jedoch wird letzlich durch religiöse Praxis erlangt; intellektuelle Erkenntnis ist lediglich ein Hilfsmittel dabei, als Bedingung (pratyaya) verstanden ist sie arambana (Stütze, Grundlage), nicht hetu (wirkende Ursache). Das im Kommentar angesprochene ‚untrügliche Erkennen‘ (aviparita-avabodha) ist keine ‚untrügliche Erkenntnis‘ - man beachte den Unterschied. Dass das Moment religiöser Praxis in Nagarjunas Texten kaum eine Rolle zu spielen scheint, hat einen einfachen Grund - diese Praxis war eine Selbstverständlichkeit im monastischen Milieu der Klosteruniversitäten wie Nalanda, in dem und für das diese Texte entstanden, kommentiert und gelehrt wurden.
Kommen wir nun von der didaktischen Funktion der sunyata und der ‚zweifachen Wahrheit‘ zur Bedeutung des Begriffs Leerheit (sunyata). Die entsprechende Schlüsselstelle findet sich einige Verse später:
[MMK 24.18] Das Entstehen in gegenseitiger Abhängigkeit (pratityasamutpada), dies ist es, was wir ‚Leerheit‘ nennen. Das ist [aber nur] ein abhängiger Begriff (prajnapti); gerade sie (die Leerheit) bildet den mittleren Weg.
[MMK 24.18] Eine Gegebenheit (dharma), die ohne Bedingungen entstanden ist, lässt sich nicht finden. Daher lässt sich ja auch keine Gegebenheit finden, die nicht leer ist.
[MS] Wir bezeichnen (eigentlich erklären, tib. hchad de) das durch Abhängigkeit Entstandene (pratitya-samutpanna) als leer. Das ist abhängige Erklärung (upadaya-prajnapti), das ist der mittlere Weg. [Anmerkung: madhyamaka, das ‚Mittlere‘, sowohl die Position des Realismus als auch die des Nihilismus Vermeidende] Wenn da irgendein Ding (bhava) existiert, so ist dieses abhängig entstanden und abhängig erkannt; weil daher irgendwelcher nicht durch Abhängigkeit entstandene dharma (Objekt) nicht existiert, deshalb existiert nicht irgendwelcher nicht leere dharma.
Die Stelle ist von großer Wichtigkeit für das gesamte Denken Nagarjunas - sie beugt dem Missverständnis vor, sunyata werde bei Nagarjuna als etwas Substanzhaftes aufgefasst, ein Substrat oder ‚Ding an sich‘, dessen unmittelbare (nicht-duale) Erfahrung Gegenstand höchster Wahrheit sei und das in samsarischer Erscheinung Gestalt annehme und mit dem Werkzeug konventioneller Wahrheit beschrieben werde. Das wäre eurozentrisches Anwenden abendländisch-idealistischer Konzepte auf ein Denken, das eine Trennung von ‚Ding an sich‘ und Erscheinung, von Substanz und Akzidens strikt vermeiden will. Vielmehr ist Leerheit selbst nur ein leerer/abhängiger Begriff. Insofern ist es auch völliger Unfug, in Bezug auf Nagarjunas Denken von einer ‚absoluten Ebene‘ zu sprechen - misser kann man Nagarjuna gar nicht verstehen.
Speziell für unser Thema von Interesse ist hier die Verbindung, die zwischen sunyata, pratityasamutpada und prajnapti hergestellt wird. Das Thema pratityasamutpada und seine Identität mit sunyata hier zu behandeln, würde zu weit führen - wie bereits eingangs erwähnt ist dazu auch ein tieferes Verständnis des Konzeptes pratityasamutpada unabdingbar. Entscheidend für unsere Untersuchung des Wahrheitsbegriffes bei Nagarjuna ist hier der Verweis auf die von sunyata/pratityasamutpada abhängige Begrifflichkeit. Diese Begrifflichkeit, die der Kommunikation von ‚konventioneller Wahrheit‘ dient, steht also nicht beziehungslos ‚für sich‘ und auch nicht ausschließlich auf die konventionelle Realität bezogen (deren Existenz Nagarjuna nicht bestreitet); samvrtisatya steht gleichermaßen in einem Abhängigkeitsverhältnis und somit in einer definierten Beziehung zu sunyata. Eben deswegen ‚funktioniert‘ sie auch als didaktisches/soterologisches Mittel.
Die ‚konventionelle Wahrheit‘ ist also nicht (jedenfalls nicht ausschließlich) auf samsara/konventionelle Realität bezogen (und paramartha-satya auf nirvana bzw. die Leere), wie hier geäußert. Vielmehr ist eine Unterscheidung zwischen einer ‚absoluten‘ und einer ‚relativen‘ Ebene völlig unsinnig - hat jedenfalls mit Nagarjuna absolut nichts zu tun. Nagarjuna ist Monist, sein Leerheitsbegriff dient der Vermeidung der (unheilsamen) Sicht einer Substanz oder eines Absolutums und sein Beschreibungsmodell ist das einer durchgängigen, ausnahmslosen wechselseitigen Bedingtheit (pratityasamutpada = sunyata). Zu Recht wurde in diesem Zusammenhang bereits auf das 25. Kapitel der MMK hingewiesen. Nach einer geradezu modellhaften Durchführung des catuskoti (‚Vierkant‘, eine Methode doppelter Dialektik, die den Satz vom ausgeschlossenen Dritten nicht gelten lässt), gelangt Nagarjuna zu folgender Schlussfolgerung:
[MMK 25.19] Es gibt nichts, was den Samsara von Nirvana, und das Nirvana vom Samsara unterscheidet.
[MS] Indem von dem Zusammenhang (santana) der Gruppen (skandha) abhängig der Kreislauf (samsara) erkannt wird (prajnapyate), so ist, wie wegen der Wesensleerheit (svabhava-sunyata) dieser skandhas diese durchaus (atyanta) ohne Entstehens- oder Vergehenseigenschaft sind, von uns von Anfang an (aditah) eben (eva) gelehrt; deshalb ist, weil alle dharmas (Objekte) in gleicher Weise nicht entstehen und nicht vergehen (anutpada-anirodha-samatya) auch nicht der geringste Unterschied des samsara vom nirvana. Wie auch nicht der geringste Unterschied des samsara vom nirvana ist, so ist auch nicht der geringste Unterschied des nirvana vom samsara.
[MMK 25.20] Die Grenze des Nirvana ist zugleich die Grenze des Samsara. Zwischen diesen beiden wird auch nicht der feinste Unterschied gefunden.
[MS] Da des nirvana und des samsara Wirklichkeitsgrenze (bhuta-koti), Nichtentstehensgrenze (anutpada-koti), Wirklichkeitsgrenzeerreichen (bhutakoti-pratisthana) in gleicher Weise nicht erfasst werden (anupalabdhi-samatvena), existiert auch nicht irgendwelcher geringste Unterschied.
Zusammenfassend: Es gibt nur unterschiedliche Sichtweisen - befreiende, also ‚Rechte Sicht‘ (samyag-drsti, erstes Glied des achtfachen Pfades) und leiderzeugende. Letztere ist nicht notwendig ‚falsch‘ - ‚falsch‘ und ‚wahr‘ machen als abhängige Begriffe lediglich Sinn, wenn sie auf einen bestimmten Zweck bezogen werden. Dieser Zweck ist in Buddhas Lehre bekanntlich moksha, also Befreiung / Leidüberwindung.
Die ‚zwei Wahrheiten‘ sind beides(!) abhängige Aspekte von ‚Rechter Sicht‘; samvrtisatya ist ihr kommunizierbarer Aspekt und paramartha-satya ihr Erfahrungsaspekt. Dass es beides - wie Nagarjuna in MMK 24.9 warnt - sorgfältig voneinander zu unterscheiden gilt hat den Zweck, nicht pars pro toto zu nehmen. Nicht intellektuelle Kniebeugen und spitzfindiges Philosophieren an Stelle lebendigen Erwachens.
Freundliche Grüße,
Ralf